Die Autorin Karen Köhler wird als Neuentdeckung des Jahres gehandelt. Im Gespräch kritisiert sie die Entwicklungen des digitalen Zeitalters und appelliert an das Zusammenleben jenseits vom Bildschirm.
Erzählungen sind Ladenhüter. Wenn sie überhaupt verlegt werden, stehen sie im Schatten der Romane. Umso erstaunlicher, dass Karen Köhlers Erzählband «Wir haben Raketen geangelt» ein grosser Erfolg ist.
Die Medien nennen sie die Entdeckung des Jahres. Vor zwei Wochen zog sogar die alte Tante NZZ nach und schrieb: «Die Stimmungen können noch so trübselig sein, die Umstände noch so schwierig – bei Karen Köhler gibt es immer einen letzten Faden, der die Welt im Innersten zusammenhält.»
Zum Beispiel verläuft sich eine junge Frau in der Wüste und verdurstet fast. Eine andere verliert ihren Freund und beschliesst zu verhungern. In diesem Buch hat man nach zwei Erzählungen nicht bereits einen Lesekater, sondern mag immer noch eine lesen. Eine letzte noch. Man will wissen, was der neuen Heldin, die am Rand eines Abgrunds steht, widerfährt und sie zurück ins Leben holt. Oder Frieden mit dem Tod finden lässt.
Als Karen Köhler kürzlich für eine Lesung in Basel war, hatte sie Zeit für ein Gespräch. Dabei zeigte sich, dass ihre verrückte und schöne Literatur ein Aufschrei gegen eine Gegenwart ist, die aus den Fugen geraten ist.
Frau Köhler, Sie sind viel auf Lesereise. Ist das nicht unbefriedigend? Man hängt den ganzen Tag rum, um abends für 90 Minuten ein Gespräch vor Publikum zu führen.
Nein. Die Frage ist auch: Wo fängt Arbeit an und wo hört sie auf. In Basel ist die Lesung vorbei und ich habe noch Zeit. Ich könnte einen Strich drunter machen und mich im Hotelzimmer in die Badewanne legen. Oder ich gehe in Museen und zu Lesungen von Kollegen – da verschwimmt die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit. Wenn man eine Stunde auf der Parkbank sitzt und Leute beobachtet, ist das auch Arbeit.
«Unsere Auffassung von Arbeit kann nur darum so ästhetisiert sein, weil wir viele Dreckssachen in andere Länder ausgelagert haben.»
Das ist nicht gerade eine gängige Auffassung.
Ich bin auch ganz anders aufgewachsen. Mein Vater ist Feuerwehrmann gewesen. Da hörte Arbeit auf, wenn er die Uniform ausgezogen hat. Heute ist die meiste Arbeit weit entfernt vom Absichern der Existenz. Unsere Auffassung von Arbeit kann nur darum so ästhetisiert sein, weil wir viele Drecksachen in andere Länder ausgelagert haben. Heute gibt es eine immer stärker verschwimmende Grenze zwischen Arbeit und Freizeit. So war das früher nur bei Künstlern.
Fehlt Ihnen diese Unmittelbarkeit?
Ich sehe, wenn etwas getan werden muss. Es gibt ja auch Leute, die in einer Bar arbeiten und ein Glas polieren, während 20 Leute etwas bestellen wollen. So bin ich nicht. Aber ich will schöpfen, ich bin eine Erzählerin. Das ist ein Drang, den kann ich gar nicht stoppen. Ich habe das auf der Bühne gemacht, ich mache das mit meinen Illustrationen und nun mit dem Schreiben.
ist 40 Jahre alt, kommt aus und lebt in Hamburg. Auf ihrer Website schreibt sie: «Ich wollte Kosmonautin werden, habe Fallschirmspringen gelernt und Schauspiel studiert.» Letzteres hat sie in Bern getan, später hatte sie unter anderem mehrere Engagements am Theater Basel. Heute macht sie Illustrationen, schreibt Prosa und Dramen, «Wir haben Raketen geangelt» ist ihr erstes Buch.
Suchen heutzutage zu viele Leute nach einem schöpferischen Leben, statt eine einfache Arbeit zu machen?
Solange eine Gesellschaft den Spielraum lässt, wird es die Suche nach Ausdruck geben. Ich weiss nicht, ob dieser Spielraum zu gross ist. Ich beobachte sehr viel Selbstbezogenheit, die Befriedigung des Ichs auf Kosten anderer. Umgangsformen in der Gesellschaft und Achtsamkeit für das Miteinander fehlen mir. Wenn wir auf unserem Ego beharren, kommen wir nicht weit. Ich wurde beispielsweise heute auf der Strasse auffallend oft angerempelt. Die Leute haben sich nicht mal entschuldigt.
Ausgerechnet im kleinen Basel.
Letztes Jahr war ich für einen Monat in New York. Ich habe mir die Stadt rau und tough vorgestellt. Ich war erstaunt, wie gut und höflich das Klima im öffentlichen Raum ist. Die Leute wissen: Wenn wir nur nach unserem Ding handeln, dann fliegt uns diese Millionenstadt um die Ohren.
Woher kommt der Hang zum Selbstbezug?
Ein Punkt ist sicher das Internet. Es bietet eine Riesenplattform, um sich selbst darzustellen und diesen Drang zu befriedigen. Das bringt wiederum eine Rückkoppelung mit sich: Mit der Möglichkeit steigt auch das Bedürfnis nach Selbstdarstellung.
Was sollten die Leute tun, denen der Selbstbezug über den Kopf wächst?
Lest Bücher. Geht raus. Grabt ein Beet, pflanzt etwas, macht die Augen auf. Wenn man ins Café geht, sitzen da alle mit Laptop und Smartphone. Ich vermisse Begegnungen, die man leicht herstellen kann, wenn man die Augen hochnimmt. Manchmal würde man sich fast eine Katastrophe wünschen. Als der Hurrikan «Sandy» die Stadt New York für mehrere Tage lahmlegte, gab es keinen Strom für die Handys. Da entsteht ein Sozialkontakt, der ganz anders zusammenhält.
Es bringt nichts, sich nach einer Vergangenheit zu sehnen.
Nein.
Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?
Man muss mit dem Werkzeug umgehen lernen. Internet muss ein Schulfach werden. Die Leute müssen lernen, was das ist und was das andere ist, jenseits vom Netz. Mit meinem Kind würde ich Spiele auf dem iPhone machen, aber auch eine Schatzsuche im Wald. Es wäre ein guter Schritt einer Gesellschaft, diese Notwendigkeit anzuerkennen.
Das Netz ändert auch die Art, wie Informationen verbreitet werden. Zum Guten?
Es ist zweischneidig. Die Menschen können sich im Netz über die Kommentarspalten äussern, und es werden Informationen öffentlich, die sonst nie publiziert worden wären. Aber im Moment bin ich super skeptisch, während ich früher ein Grundvertrauen in die Medien hatte. Ich empfinde das Netz als eine Märchenstunde: Jeder erzählt seine Perspektive. Es gibt so viele Informationen, dass es jemanden braucht, der sie filtert. Aber wer macht das? Und kann man ihm vertrauen? In welcher Blase lebe ich?
Haben Sie ein konkretes Beispiel?
Vor einem Jahr gab es eine Demonstration in Hamburg. Es kam zu heftigen Übergriffen der Polizisten auf ganz normale Bürger, man wurde behandelt wie ein Verbrecher. In den Medien wurde eine ganz andere Perspektive gezeigt, von wegen Chaoten in Hamburg stürmen die Polizeiwache. Später stellte sich heraus, dass dieser Übergriff nie stattfand, auf den Aufnahmen der Überwachungskameras war nichts davon zu sehen. Die Polizei hat falsche Informationen rausgelassen, und die Medien haben sie transportiert. Eine Aufklärung wurde verhindert. In so einem Moment bin ich am Zweifeln. Leben wir noch in einer Demokratie? Ich glaube nicht.
«Die einzige Macht, die ich noch habe, ist die Entscheidung, wem ich meinen Euro gebe und wem nicht.»
Ihre Kritik betrifft nicht nur die Medien.
So lange es hier allen so gut wie möglich geht und die Oberen nicht angetastet werden, wird am herrschenden System nicht gerüttelt. Schauen Sie sich die Kapitalumverteilung an: Vor 30 Jahren ging es dem obersten Prozent noch nicht so gut wie heute. Die anderen finanzieren das die ganze Zeit, ohne es zu wissen und zu wollen. Welcher Bank kann man vertrauen? Um das gleiche Vertrauensproblem geht es bei den Lebensmitteln. Ich kaufe Bio-Zucchini aus Italien, um dann zu erfahren, dass das die gleichen sind wie die normalen, nur dass jemand einen Aufkleber draufgetan hat und kräftig Gewinn abschöpft. Dieses System mit seiner Maximierung des Profits wird immer schneller. Die einzige Macht, die ich noch habe, ist die Entscheidung, wem ich meinen Euro gebe und wem nicht. Ich schaue da inzwischen sehr genau drauf. Ich nehme ernst, dass mein Kapital meine Macht ist.
Ihr Buch ist voll verrückter Begebenheiten, die der normale Leser wahrscheinlich nie erleben wird. Wie nehmen Sie das Leben wahr, dass Sie solche Geschichten erzählen?
Die meisten Dinge sind in Wirklichkeit passiert: Es gab mal einen Mann, der sich auf einen Hochstand zurückgezogen hat, um dort zu verhungern. Auch die Familie, die in Sibirien in der Wildnis lebt, hat es wirklich gegeben. Dass es das wirklich gibt, das ist das Verrückte. Meine Texte haben einen authentischen Kern, den ich dann mehr oder weniger verfremde.
Die Geschichten sind authentisch, aber nicht naheliegend.
Ich habe in meinem Leben viele nicht naheliegende Sachen erlebt. Das hat mit dem Mut zu tun, etwas Neues auszuprobieren. Als ich jung war, habe ich mich aufgesaugt mit Leben, habe Sachen gemacht, die andere sein lassen. Basejumping zum Beispiel. Heute profitiere ich davon, dass ich dem Leben so wild und fordernd gegenübergetreten bin. Es geht darum, sich mit der eigenen Angst zu konfrontieren. Wir sind bestimmt vom ökonomischen Handeln, was auch gut ist. Wenn ich mir jeden Morgen überlegen müsste, mit welchem Fuss ich aus dem Bett steigen will, würde ich gar nicht aus dem Haus kommen. Aber manchmal muss man Dinge tun, die über den eigenen Horizont hinausgehen.
Und die Erlebnisse aufschreiben?
Ja, zum Beispiel. Ich meine, mit diesem Leben muss man ja erst mal klarkommen. Wir werden geboren, ohne dass man uns fragt. Dass wir in diese Welt geworfen werden ist eine grosse Unverschämtheit. Die Menschheit ist irgendwie ja auch vergiftet. Wir beuten den Planeten aus, führen Krieg, sind verführbar und raffgierig. Das auszuhalten ist so schwer, dass ich irgendetwas tun muss, um dagegen anzuwühlen. Und es gibt mir Trost, dass es andere gibt, die auch an der Welt verzweifeln und mit Kunst dagegen kämpfen.
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Karen Köhler: «Wir haben Raketen geangelt», Hanser, 240 Seiten.