Lügen, Lügen, nichts als Lügen

Die Macher des Museums BL arbeiten am grossen Thema unserer Tage: dem «Bschiss». Ein Gespräch über Politiker und Tintenfische.

Experten in Sachen Lüge: Projektleiterin Sabine Häberli und Museumsdirektor Marc Limat konzipieren eine Ausstellung zum Thema «Bschiss» im Museum BL. (Bild: Basile Bornand)

Die Macher des Museums BL arbeiten am grossen Thema unserer Tage: dem «Bschiss». Ein Gespräch über Politiker und Tintenfische.

Müssen wir uns so frech und offensichtlich ins Gesicht lügen lassen? Stört das eigentlich niemanden? Das fragte die TagesWoche vor einigen Tagen leicht konsterniert, als die ganze Schweiz über den Abgang des Nationalbankpräsidenten Philipp Hildebrand und die Kampagne gegen ihn sprach, ohne dass sich irgendjemand über all die Lügen, Ausflüchte und Schwindeleien in der ganzen Affäre gross zu wundern schien. Das änderte sich in den Tagen darauf. Die Empörung wuchs, auch in den Leserbriefspalten. Der Abgang Hildebrands sei ein Sieg für die SVP. Und damit ein Triumph der Intrige, Lüge und des Machtgehabes, schrieb ein Leser im «Tages-Anzeiger». Bald würde die Schweiz nur noch von skrupellosen Lügnern regiert, ergänzte ein anderer.

Frauen lügen besser

Die Politiker hatten nur auf die Empörung gewartet. Früher sei alles noch besser gewesen, offener, ehrlicher und weniger hitzig, versicherte der ehemalige FDP-Präsident Franz Steinegger gegenüber dem Schweizer Fernsehen. Und alt Bundesrat Moritz Leuenberger sprach den angeblich erst kürzlich rabiat gewordenen Politikern ins Gewissen: «Die Lüge hat keinen Platz in der Politik», sagte er dem «Tages-Anzeiger». So wurde das Thema allmählich richtig spannend, die Zeitungen brachten Interviews und Schwerpunkte, die in der Regel zwischen Empörung über die Lügen und Empörung über die angeblich übertriebene Empörung schwankten.

Ein etwas unverkrampfteres Verhältnis zur Lüge haben die Macher des Museum BL, die eine Ausstellung unter dem Titel «Bschiss! Wie wir einander auf den Leim gehen» planen. «Lügen ist ein Erfolgsrezept. Lügen und Täuschungen führen oft ans Ziel, das zeigt die Evolution», sagt Museumsdirektor Marc Limat. In der Ausstellung, die durch Projektleiterin Sabine Häberli betreut wird und vom 20. April 2012 bis 30.  Juni 2013 in Liestal zu sehen ist, wird auf spielerische Art unser Umgang mit der Täuschung und dem Betrug thematisiert. Denn Limat und Häberli wissen: «Lügen bewegt die Welt.»

 

Ihnen als Spezialisten in Sachen Lügen müssen wir wahrscheinlich erst noch klarmachen, dass wir von Ihnen nur ehrliche Antworten erwarten. Könnten Sie, Frau Häberli, uns zum Beispiel sagen, warum Sie so knapp zu unserem Termin gekommen sind – haben Sie eine gute Ausrede?

Sabine Häberli: Mir fror auf einer Kreuzung die Velobremse ein. Darum verpasste ich den Zug.

Und das sollen wir glauben?

Häberli: Sie denken auf jeden Fall schon mal über meine Aussage nach. Das ist schon viel. Und das ist auch genau das, was wir mit unserer Ausstellung erreichen wollen. Eine richtig fette Lüge ist meine Velogeschichte sicher nicht. Die ganze Wahrheit vielleicht aber auch nicht.

Wie sieht es bei Ihnen aus, Herr Limat?

Marc Limat: Wir haben während der Museumsnacht eine ganze Nacht lang gelogen, dass sich die Balken bogen. Das war unser Thema. Und sonst? Meine letzte, richtige Lüge? Bei dieser Frage muss ich passen. Wahrscheinlich habe ich die Flunkerei auch gar nicht bemerkt. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass man sich sehr häufig selber etwas vormacht, dies aus lauter Gewohnheit. Aber erkennen kann man die Lüge gar nicht mehr. Dieser Mechanismus lässt sich gut an Politikern illustrieren, die so häufig die gleiche Lüge erzählen, bis sie schliesslich selber daran glauben.
Häberli: Was durchaus ein Vorteil ist. Wenn die Unwahrheit als Wahrheit ins Unterbewusstsein dringt, dann vertritt sie der Politiker überzeugter und gewinnt so das Vertrauen seiner Wähler. So sichern Lügen die Macht.

Aber nur, wenn sie nicht entdeckt werden. Verstehen Sie die Empörung der Leute nach den Lügen im Fall Hildebrand?

Häberli: Literaturwissenschaftler Peter von Matt hat es in einem Interview im «Tages-Anzeiger» toll beschrieben. Er redet von einer «Taschenmoral», von öffentlichem Moralisieren, bei dem es kein Halten mehr gebe; Politiker, Medien und Öffentlichkeit – sie alle reagierten in einem solchen Moment irrational. Das Opfer war in diesem Fall Hildebrand – ein Mann, den die Schweiz in der Finanzkrise rational betrachtet noch dringend gebraucht hätte. Mag sein, dass er in Sachen Devisenkäufe ein wenig geflunkert und sich die Dinge zurechtgerückt hat. Viel problematischer ist meines Erachtens aber, wie rechtskonservative Kreise das Moralisieren in­strumentalisierten und Hildebrand damit aus den Amt kippten. Dieses Vorgehen war noch viel unehrlicher. Insgesamt gilt auch in diesem Fall für beide Seiten, was schon Machiavelli gesagt hat: Jede Heuchelei dient dem Zweck der Machterhaltung.

Ist es nicht richtig, dass wir höhere Massstäbe an einen Notenbankchef oder an Politiker anlegen? Insofern wäre das Moralisieren doch gerechtfertigt.

Limat: Von Menschen in solchen Positionen erwarten wir tatsächlich, dass sie uns die Wahrheit erzählen. Aber wahrscheinlich machen wir uns auch in dieser Hinsicht etwas vor. Eine weitere, typische Selbsttäuschung (lacht).
Häberli: Politiker haben Vorbild­charakter. Je höher man in einer Gesellschaft steigt, desto höher werden die Anforderungen. Desto grösser wird der Druck und damit die Versuchung zu lügen, um die Macht auf diese Weise zu verteidigen und zu mehren. Die interessante Frage ist nun, wer das Recht hat, dieses Verhalten zu beurteilen und zu verurteilen. Ich meine: Der Bürger darf sich durchaus über flunkernde Nationalbank­präsidenten und lügende Politiker aufregen. Heikel ist es aber, wenn die Empörung systematisch instrumentalisiert und gezielt gegen einzelne Personen oder gegen bestimmte Gruppen eingesetzt wird.

Werden wir grundsätzlich: Was ist eine Lüge überhaupt?

Häberli: Es gibt eine grosse Bandbreite der Unwahrheit, wie die Sprache schon zeigt. Wir reden von Täuschung, Täuschungsmanöver, Betrug, Bluff, Schummelei, Fälschung, Lüge. Entscheidend ist, wie die Handlung von der Umwelt beurteilt wird. Flunkern wird durchaus akzeptiert, weil jeder ein bisschen schwindeln muss, der zu den Menschen in seinem Umfeld höflich sein möchte. Anders verhält es sich mit Betrügereien, Fälschungen oder Lügen – sie alle sind darauf ausgerichtet, sich selber einen Vorteil zu verschaffen und werden gesellschaftlich darum auch nicht akzeptiert. Die Abgrenzung ist allerdings schwierig. Und fast noch komplizierter ist die Motivation, die hinter einem «Bschiss» steckt. Man lügt nicht nur, um sich Vorteile zu verschaffen, sondern auch aus Angst vor negativen Konsequenzen, um sich Freiräume zu verschaffen, sich oder andere zu schützen, in der Hoffnung auf Anerkennung oder aus pathologischem Zwang.

Mehrere Studien ergaben, dass ein Mensch rund 200 Mal pro Tag lügt. Das kann doch fast nicht sein.

Häberli: «Im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist», hat Goethe geschrieben. Und so ist es. Viele dieser 200 Lügen sind soziale Schummeleien, die man macht, um sein Gegenüber zu schonen.
Limat: Das Wort «Lüge» wird von uns unnötig gross und schwer und schlecht gemacht. Denn wahr ist auch: Lügen ist erfolgreich, Lügen ist eine Erfolgsstrategie. Aus evolutionärer Sicht bringen einen Lügen und Täuschungen oft ans Ziel.

Und wir Menschen sind die besten – im Lügen?

Häberli: Wir können gut lügen, weil wir auch sprechen können – darum ja. Lügen ist ein definierendes Moment von uns Menschen. Wobei man nicht vergessen darf, dass auch Tiere untereinander kommunizieren. Was es mit sich bringt, dass auch sie sich gegenseitig täuschen.
Limat: Sigmund Freud dachte, nur der Mensch sei fähig zu lügen. Heute weiss man, dass auch Tiere auf bewusste Täuschungsmanöver setzen.

Könnte unsere Gesellschaft ohne die Lüge überhaupt funktionieren?

Häberli: Das wäre ein spannendes Experiment. Es gibt ein Buch zum Thema von Jürgen Schmieder, der einen Monat nicht gelogen hat. Er selber empfand den Versuch als ganz befreiend.

Seine Umwelt wahrscheinlich weniger.

Häberli: Stimmt … (lacht). Man eckt natürlich recht an, wenn man plötzlich überall die Wahrheit sagt, etwa über die Bluse der Büronachbarin oder das Essen der Gastgeber. Da fällt man ganz schnell aus dem gesellschaftlichen Rahmen. Dabei möchten wir doch alle integriert und akzeptiert sein. Gleichzeitig gibt es aber auch die Theorie von Brad Blanton, der für eine «radikale Ehrlichkeit» einsteht: Die Lügen, sagt er, würden den Menschen seelisch und körperlich krank machen. Darum plädiert er für grösstmögliche Aufrichtigkeit.

Kann das funktionieren?

Häberli: Eine Gesellschaft ohne Schwindel ist wohl utopisch. Wahrscheinlich würde zuerst das Chaos und danach die Anarchie ausbrechen.

Also ist die Lüge jene kulturelle Errungenschaft, die uns Menschen vor dem Chaos bewahrt?

Limat: Jein. Man darf nicht vergessen, dass die Lüge nur funktioniert, wenn sie die Ausnahme bleibt. Wenn zum Beispiel die Schwebefliege die Wespe imitiert, um nicht von einem Vogel gefressen zu werden, funktioniert das nur, solange der Vogel ab und an beim Essen von einer echten Wespe gestochen wird. Interessant ist die Frage nach dem Punkt, bei dem das Ganze kippt.
Häberli: Die besten Lügner sind jedenfalls die, die am wenigsten lügen. Täuschung funktioniert nur auf der Basis von Vertrauen. Nur wenn wir unserem Gegenüber vertrauen, wenn wir von ihm Ehrlichkeit und Zutrauen erwarten, kann er uns belügen.

Wie erkennt man eigentlich eine Lüge?

Häberli: Da gibt es verschiedene Anzeichen, sprachliche und mimische. Beim Lügen verzieht der Lügner beispielsweise häufig unbewusst das Gesicht, diese sogenannte Mikro-Mimik erkennt man aber erst in Zeitlupe. Spannend wird es, wenn man den Lügner dann der Lüge überführt hat.

Warum?

Häberli: Weil danach immer die genau gleichen Mechanismen ablaufen. Zuerst dementiert der ertappte Schwindler die Vorwürfe, er deutete sie um, bestreitet die eigene Urheberschaft, rechtfertigt seine Tat, bestreitet die Zuständigkeit in der betreffenden Situation und bittet erst ganz zuletzt und nur unter Umständen um Verzeihung.

Das hört sich an wie eine Zusammenfassung des Falls Hildebrand.

Häberli: Nicht nur des Falls Hildebrand: Es laufen immer die gleichen Mechanismen ab, wenn wieder einer beim Schwindeln ertappt wird.

Früher beichtete man seine Lügen dem Pfarrer. Es gab einen institutionellen Rahmen, in dem man dar­über reden und sein Gewissen erleichtern konnte. Fehlt das dem modernen Menschen, der nur noch selten auf dem Beichtstuhl sitzt?

Häberli: Das kann gut sein. Ich habe bei den Recherchen für die Ausstellung jedenfalls erlebt, dass viele Menschen «gottenfroh» sind, wenn sie sich jemandem anvertrauen können. Ich habe noch nie so viele Lügen erzählt bekommen wie bei der Vorbereitung auf unsere Ausstellung.

Sind wir Menschen manchmal vielleicht auch einfach zu schwach für die Wahrheit, vor allem wenn es um die ganz grossen Fragen geht wie jene nach dem Tod, die viele möglichst verdrängen?

Häberli: Dieser Verdrängungsmechanismus ist ein Selbstschutz. Wir brauchen ihn als Überlebensstragie. Ohne Verdrängung würden wir uns viel zu sehr mit den vielen verschiedenen Sinneseindrücken, Erlebnissen und Gefühlen beschäftigen. Da-rum blenden wir aus, was wir nicht sehen oder hören wollen, egal wie deutlich die Hinweise sind, etwa darauf, dass der Partner fremdgegangen ist.

Wird heute mehr gelogen als früher?

Häberli: Das glaube ich nicht. Verändert hat sich die Beurteilung. In der Antike war der Begriff für die Lüge identisch mit dem für den Irrtum. Das hatte Auswirkungen auf die Wahrnehmung: Die Lüge war auch identisch mit der List, und diese war sehr geschätzt. Spätestens mit Platon wurde die Lüge in die Nähe der Gotteslästerung gerückt und damit als verwerflich dargestellt. Mit dem achten Gebot des Christentums erhielt die Lüge schliesslich den Platz in unserer Ordnung, den sie bis heute hat.
Limat: Die Regeln haben sich tatsächlich geändert, die Moral wurde über die Jahrtausende immer wieder angepasst.

Ist Lügen im Zeitalter der total und jederzeit verfügbaren Information schwieriger geworden?

Häberli: Nein, man muss sich halt anpassen können!

Das kommt ja wie aus der Pistole geschossen, darum die Nachfrage: Sind Frauen eigentlich die besseren Lügner?

Häberli: Ja, Studien zufolge können Frauen definitiv besser lügen. Frauen setzen Täuschungen geschickter ein, sie lügen weniger – aber besser.

Ist Lügen ein Zeichen von Intelligenz?

Häberli: Ja. Intelligente Menschen können sich besser daran erinnern, wem sie was erzählt haben, und können so auch komplizierte Lügenkon­s-trukte aufrechterhalten. Forschungen bei pathologischen Lügnern haben zudem ergeben, dass diese über mehr weisse Hirnsubstanz verfügen.

Und das heisst?

Häberli: Wenn ich das nur wüsste … (lacht)
Limat: Die Grösse des Gehirns ist nur bedingt dafür verantwortlich. Offenbar gelingt es gut vernetzten Gehirnen besser, erfolgreich zu lügen, weil es dafür gleichermassen empathische Fähigkeiten und ein gutes Gedächtnis braucht. Man muss seine Umwelt einschätzen können, damit eine Lüge funktioniert. Das zeigen auch Vergleiche mit der Tierwelt. Einer der besten Lügner ist der «Mimic Octopus», dessen Gehirnstruktur anders aufgebaut ist als das menschliche Gehirn.

Was kann denn dieser Oktopus besser als andere Tiere?

Limat: Auch hier steht die Forschung noch am Anfang wie überhaupt beim Thema Lügen, Täuschung und Tarnung. Der «Mimic Octopus» wurde erst vor zehn Jahren entdeckt. Bis heute weiss man nicht viel mehr, als dass dieser Tintenfisch unglaublich anpassungsfähig ist. Er kann mit seinen langen Tentakeln Seesterne, Flundern, Seeschlangen oder andere Fische imitieren – faszinierend!

Bleiben wir doch noch einen Moment bei den Tieren – wer ausser dem Oktopus ist auch noch ein raffinierter Täuscher?

Limat: Häufig zu beobachten ist die sogenannte Mimikry, das sind meist zufällige evolutionäre Anpassungen von Tieren an die Umwelt zur Tarnung. Schmetterlinge mit speziellen Musterungen der Flügel, Insekten, die wie ein Blatt aussehen, oder das weis-se Fell des Schneehasen. Spannend wird es, wenn die Täuschung zum bewussten Akt wird. So weiss man beispielsweise von Kapuzineräffchen und Schimpansen, dass untergeordnete Tiere eine entdeckte Futterquelle bewusst ignorieren, solange der Sippenchef in der Nähe ist – um sich danach ungestört darüber herzumachen. Oder sie stossen einen Warnruf aus, damit die ganze Sippe verschwindet und sie das Futter ungestört essen können.
Häberli: Darüber, wie weit das alles instinktiv oder bewusst geschieht, ist sich die Forschung noch ziemlich unsicher.

Wir halten fest: Lügen ist eine Erfolgsstrategie, Lügen kann überlebensnotwendig sein, Lügen ist ein Zeichen von Intelligenz. Warum lehren wir unseren Kindern dann überhaupt noch, nicht zu lügen?

Häberli: Das liegt im Interesse des Kindes. Wenn jemand ständig schwindelt und der «Bschiss» immer wieder auffliegt, verliert das Umfeld das Vertrauen und das Kind wird sozial ausgegrenzt. Grundsätzlich gilt aber, dass Lügen und Schwindeln ein wichtiger Schritt in der Entwicklung des Kindes sind. Um lügen zu können, braucht es kognitive Fähigkeiten, um der Realität imaginäre Gegenwelten entgegensetzen zu können. Und es braucht einen bewussten Einsatz der Sprache und das Wissen um die Wirkung. Das alles lernen die Kinder beim Schwindeln.

Also müsste man das Lügen doch fördern!

Häberli: (lacht). Das wäre übertrieben. Bei lügenden Kindern geht es auch um die Erprobung von Grenzen. Eine Grenze, die die Eltern noch immer mit der Interpretation des uralten Bibelgebots «Du sollst nicht lügen» setzen können und setzen müssen.

Hat sich Ihr Verhältnis zur Lüge während der Arbeit eigentlich verändert?

Häberli: Nein, ich bin grundsätzlich schlecht im Lügen.

Das sagen doch alle!

Häberli: (wird leicht rot) Nein, im Ernst. Ich werde immer rot und verheddere mich in Widersprüchen. Ich bin ein Fan von Marc Aurel. Der hielt es für ein erstrebenswertes, aber utopisches Ziel, ohne Lügen durchs Leben zu kommen.

Und bei Ihnen, Herr Limat?

Limat: Ich bin Biologe.

Und das heisst?

Limat: Lügen gehört zum Leben! Lügen kann eine Erfolgsstrategie sein! Und ist manchmal auch nötig: Wenn im Alltag eine Wahrheit mehr verletzt als nützt, dann kann eine Lüge angebracht sein.

Was sind Ihrer Ansicht nach die grössten gesellschaftlichen Lügen?

Limat: Ich denke da an die Umweltproblematik. Wir wissen schon lange, dass die kurzfristige Erwärmung unseres Klimas nicht normal sein kann. Stattdessen beharrt ein grosser Teil der Bevölkerung darauf, dass es keinen Klimawandel gebe.
Häberli: Die grösste Täuschung ist vielleicht, dass wir meinen, alles im Griff zu haben. Das Klima, die Wirtschaft, die Politik – dabei haben wir nichts unter Kontrolle, alles ist im Wandel.

Wenn Krisenverwalter wie Nicolas Sarkozy oder Angela Merkel einmal offen dazu stehen würden, wäre das Chaos wohl tatsächlich perfekt, weil sich die Anleger aus einzelnen Branchen und ganzen Ländern Hals über Kopf zurückziehen würden.

Häberli: Genau. Und das führt uns wieder zu Machiavelli: Heuchelei sei nötig, um das Volk zu beruhigen, um die Staatssicherheit zu garantieren.
Limat: Obwohl es nicht ganz klar ist, ob Sarkozy oder Merkel bewusst lügen oder auch sie einer Selbsttäuschung erliegen.
Häberli: Sie – und mit ihnen andere Politiker – sind Beweis für die These, dass Bluffer erfolgreich sind. Wer blufft, der glaubt so fest an sich, dass das auch andere tun.

Wurde durch all die Lügen und Bluffereien nicht schon zu viel Vertrauen zerstört?

Häberli: Das Verhältnis zwischen Lüge und Wahrheit ist tatsächlich fragil. Wer mit Lügen zu viel Schaden angerichtet hat, ist nicht mehr glaubwürdig. Das führt zu einer Selbstregu-lierung. Darauf können wir hoffentlich setzen.

Sabine Häberli (44) ist Kunsthistorikerin und Gemmologin (Edelsteinexpertin). Sie arbeitet unter anderem als freischaffende Ausstellungskuratorin.
Marc Limat (40) ist Direktor des Museum BL in Liestal.

Quellen

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 20/01/12

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