«Man kann Griechenland nicht nach Belieben umformen»

Die wichtigsten Notenbanken der Welt rotieren auf Hochtouren. Der Grund: Finanzexperten fürchten schwere Marktturbulenzen nach der Schicksalswahl in Griechenland. Ein Interview mit dem Zürcher Wirtschaftshistoriker Tobias Straumann über die Folgen der griechischen Wahlen und die Auswirkungen der Euro-Krise auf die Schweiz.

«Es gibt für viele Familien keine Sparmöglichkeiten mehr.» Tobias Straumann, Privatdozent an der Universitaet Zürich (links) (Bild: ALESSANDRO DELLA BELLA)

Der Zürcher Wirtschaftshistoriker Tobias Straumann über die Folgen der griechischen Wahlen und die Auswirkungen der Euro-Krise auf die Schweiz.

Herr Straumann, am Sonntag wählen die Griechen ihr neues Parlament. Im Vorfeld wurde deutlich, dass die Griechen den Euro behalten wollen, aber nicht zu den Bedingungen, die ihnen die EU auferlegt hat. Ist das überhaupt denkbar?

Wenn die Konservativen (Nea Dimokratia) mit den Sozialdemokraten (Pasok) die Wahlen gewinnen und eine Regierung bilden, ist ein weiterer Schuldenschnitt durchaus denkbar. Die Troika hat gemerkt, dass der ­bisherige Sparkurs immer tiefer in eine Depression und zwangsläufig zum Austritt aus dem Euro führt.

Was geschieht, wenn die Wahl so ausgeht, wie es EU, Internationaler Währungsfonds und Europäische Zentralbank nicht wünschen? Muss Griechenland dann zwingend zur Drachme zurückkehren – und könnte das Land dann überhaupt in der EU bleiben?

Griechenland muss nicht zur Drachme zurückkehren, wenn die neue grie­chische Regierung kompromissbereit ist. Wenn sie aber gegenüber der ­Troika zu radikal auftritt, wird Griechenland aus dem Euro austreten müssen, da die Kredite aus dem ­Ausland versiegen werden. Rein rechtlich gesehen würde Griechenland dann auch aus der EU ausgeschlossen werden. Ob das tatsächlich passieren wird, weiss ich nicht.

Was würde das für die Griechen bedeuten? Wenn man liest, dass zum Beispiel ein gut ausgebildeter griechischer Lehrer nach einer Lohnkürzung um ein Drittel noch ganze 1400 Euro im Monat verdient, dann fragt man sich: Wo soll der noch sparen, ohne dass seine vierköpfige Familie hungern muss?

Es gibt bei vielen Familien längst ­keine Sparmöglichkeiten mehr. Deshalb müssen die Euro-Länder den Griechen schnell unter die Arme ­greifen. Ansonsten wird das Land bald wirtschaftlich und politisch kollabieren und aus dem Euro austreten.

Die Deutschen haben die enormen Kosten der Wiedervereinigung fast im Alleingang gestemmt. ­Warum sollte das den Euro-Ländern mit dem viel kleineren ­Griechenland nicht auch gelingen?

Rein finanziell wäre das gut möglich. Aber die politischen Probleme sind viel grösser als bei der deutschen ­Wiedervereinigung, weil Griechenland ein souveräner Staat ist. Erstens: Man kann Griechenland nicht nach Be­lieben umformen wie die damalige ­Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik. Zweitens ist es innenpolitisch ein­facher, finanzielle Mittel für die ­In­tegration von verlorenen Gebietenzu mobilisieren als für die Subven­tionierung eines Landes, das eine ganz andere Geschichte, Kultur und Sprache hat.

Wie gross ist die vielbeschworene Gefahr eines ­Domino-Effekts auf andere Mittelmeerländer wirklich?

Diese Frage kann niemand mit Sicherheit beantworten. Selbst die weltweit besten Exper­tinnen und Experten sind sich in ­dieser Frage überhaupt nicht einig.

Wenn das schlimmste mögliche Szenario eintritt, wenn also auf den Zusammenbruch der griechischen Wirtschaft Spanien, Portugal, womöglich auch noch Italien folgen und die Euro-Zone sich langsam auflöst – was bedeutet das für Schweiz?

Nichts Gutes. Wir sind mit dem Euro-Raum so stark verflochten, dass wir mit grossen Verwerfungen rechnen müssten. Unsere Grossbanken hätten grosse Liquiditätsprobleme, der Export würde einbrechen und die Investitionen würden zurückgehen.

Gibt es gegenwärtig tatsächlich eine Fluchtbewegung in den ­Franken aus den Mittelmeer­ländern?

Ja, es gibt diese Fluchtbewegung, und zwar schon seit einigen Monaten. Das bedeutet, dass sich die Bilanz der Schweizerischen Nationalbank ­immer mehr aufbläht, weil sie zur Stützung der Untergrenze diese ­einströmenden Gelder in Franken ­umtauschen muss.

Was ist besser für den von der ­Schweizerischen Nationalbank postulierten Zielkurs von Fr. 1.20 pro Euro: Dass die Euro-Zone ­bestehen bleibt – der Euro also eher weiter abzustürzen droht – oder dass die Krisen­länder ausscheiden, der Euro dann womöglich erstarkt, Drachme, Peseta, Escudo und Lira aber in ein tiefes Loch fallen?

Wir können die Untergrenze erst aufgeben, wenn die Euro-Krise zu Ende gegangen ist. Ich ziehe ein Ende mit Schrecken einem Schrecken ohne Ende vor, das heisst lieber ein Austritt der Südländer als eine jahrelange Agonie. Es besteht aber immer noch die Hoffnung, dass die Euro-Länder die Währungsunion zum Funktio­nieren bringen, indem sie eine Fiskalunion bilden und das Bankensystem vorübergehend verstaatlichen und sanieren.

Wäre ein Schweizer Staatsfonds, wie er neuerdings propagiert wird, wirklich die Lösung, um grenzenlos wachsende Währungsbestände «wegzuinvestieren»?

Ich bin nicht begeistert von dieser Idee. Die Schweizerische Nationalbank weiss selber, wie sie ihre Aktiven am besten investiert.

Wo sollte der Franken-Euro-Kurs gemessen an der Kaufkraftparität stehen – und wo wird er Ende 2012 tatsächlich stehen?

Die Kaufkraftparität liegt etwa bei ­Fr. 1.35 bis 1.40 pro Euro. Ende Jahr liegt sie vielleicht etwa bei Fr. 1.30 bis 1.35 pro Euro. Der Schweizer Franken ist also immer noch deutlich ­überbewertet. Die Exportindustrie und der Tourismus leisten grossartige Arbeit, aber ich erwarte wegen des starken Frankens und der einbrechenden europäischen Konjunktur weiter rückläufige Umsätze bei vielen kleineren und mittleren Unternehmen.

Tobias Straumann, 44, ist Privat­dozent am Institut für Wirtschafts­geschichte der Universität Zürich. Er hat sich in den vergangenen ­Jahren mit zahlreichen Publi­ka­tionen profiliert, insbesondere mit solchen zur Geschichte und ­Bedeutung des Schweizer Finanzplatzes und zu den jüngsten ­Tur­bulenzen auf den europäischen ­Devisenmärkten.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 15.06.12

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