«Man kann nicht sein Leben lang trauern»

Er habe zwei Leben geführt, sagt Buddy Elias (86): Eines als Komiker und Schauspieler – und eines als Cousin von Anne Frank.

Buddy Elias (86) weiss viel über sein Leben zu berichten. (Bild: Julian Salinas)

Er habe zwei Leben geführt, sagt Buddy Elias (86): Eines als Komiker und Schauspieler – und eines als Cousin von Anne Frank.

Es ist ein kleines, schmuckes Haus, das eine grosse Story erzählt: In der Basler Herbstgasse lebt Buddy Elias mit seiner Frau Gerti zwischen Erbstücken und Fotografien, die vom Geschichtsbewusstsein dieser Familie zeugen. Da steht eine Fotografie seiner Cousine Anne Frank hinter einer Budd­ha-Statue, da sehen wir über einer prächtigen alten Kommode eine Fotografie des jungen Buddy Elias, in einer Pose, die an Fred Astaire erinnert.

Mit 86 Jahren ist der Schauspieler und Sachwalter noch immer hellwach. Vor drei Jahren spielte er in einem «Hunkeler»-Film mit. Und als Präsident des Anne-Frank-Fonds reist er mit seiner Frau Gerti durch die Lande, hält Vorträge und Lesungen, erzählt von ­seiner Cousine, seine bewegende Fami­liengeschichte. Am 29. März tritt er im ­Theater Basel auf, als Gast in der Ver­anstaltungsreihe «Heimat-Abend».

Herr Elias, was bedeutet für Sie Heimat?

Ich bin ein Kind aus der Nazi-Zeit und habe deshalb Mühe mit den Begriffen Heimat und Vaterland. Mein Zuhause ist ganz klar Basel. Aber es ist so viel Unfug mit dem Wort Heimat und der Treue dazu getrieben worden, dass ich mich damit schwertue. Der Begriff wird zu oft von Nationalisten missbraucht.

Aber Sie definieren Heimat geografisch, nicht im Sinn von «Home is where my heart is»?

Ja. Ich habe zwar viele Jahre im Ausland verbracht, aber mein Zuhause blieb immer Basel.

1931 zogen Sie mit Ihrer Familie aus Frankfurt hierher, da waren Sie sechsjährig. Fühlten Sie sich zunächst als Fremder?

Nein, ich lebte mich rasch ein. Der Umzug war für mich ein Abenteuer. Für meine Eltern weniger – sie waren stolze Frankfurter, ihre Familiengeschichte reicht bis ins 16. Jahrhundert zurück.

Womit taten sich Ihre Eltern schwer?

Vor allem mit der Sprache. Sie redeten fliessend Englisch, Französisch, aber Schweizerdeutsch vermochten sie nie zu erlernen. Mein Vater sagte einmal: «Wenn ses nöd wöllöd so lösseses bliibe» – und dachte, das sei authentisches Baseldeutsch (lacht).

In Basel entdeckten Sie bald ein Hobby für sich, das Ihr Leben prägen sollte: das Schlittschuhlaufen. Wie kam es dazu?

Hinter unserem Haus gab es einen Tennisplatz, der im Winter bewässert wurde. Darauf ging ich Schlittschuh laufen. Später lebten wir im Gundeli, nahe bei der neuen Eiskunstbahn Margarethen, die damals europaweit zu den modernsten Anlagen ihrer Art gehörte. Wann immer ich als Jugendlicher meiner Mutter auf die Nerven ging, sagte sie zu mir: «Dann geh doch Schlittschuh laufen!» (lacht) Was ich auch intensiv tat. Ich war überaus gelenkig, hatte einen Rücken wie ein Mädchen. Noch mit 35 konnte ich auf dem Bauch liegen und die Beine über den Kopf ziehen.

Hatten Sie schon als Kind pro­fessionelle Ambitionen?

Nein, das nicht. Ich war 14-jährig, als ich eine Clownnummer auf dem Eis sah und fand: Das will ich auch machen! Ich ging zu dem Mann, äusserte meinen Wunsch und studierte mit ihm eine Nummer ein. Damit traten wir in der Pause eines Eishockey-Spiels in Zürich auf. Doch dann brach der Krieg aus, mein Partner wurde eingezogen. Also rief ich mit meinem Jugendfreund Otto Rehorek ein neues Duo ins Leben. Gemeinsam traten wir in Kurorten wie Arosa oder Gstaad auf.

Wie gelang Ihnen der Sprung ins Ausland?

Nach dem Krieg besuchte ich die Schauspielschule und trat in Theatern auf, als ich eines Tages einen Anruf von meinem alten Freund erhielt. Er hatte in England einem Veranstalter Fotos von uns gezeigt. Der Produzent sagte, er brauche genau solche Komiker für eine Ice-Show und sagte: «You can start right away.» Ich dachte, das könnte ich ja mal ein Jahr lang machen, und reiste zum ersten Auftritt nach Brüssel. Da war ich 22-jährig. Aus diesem einen Jahr wurden am Ende 14 Jahre. Den Grossteil davon reiste ich um die Welt, mit «Holiday On Ice». 1961 hängte ich die Schlittschuhe schliesslich an den Nagel und widmete mich wieder dem Schauspiel.

Es mag einen verwundern, dass Sie nach dem Krieg als Clown auftraten. Fiel es Ihnen nicht schwer, Slapstick zu machen? Oder war das gerade ein Mittel, um mit der Familientragödie umzugehen?

Nein, ich habe immer zwei Leben geführt. Man muss das trennen können, sonst geht man ein.

Den Humor haben Sie nie ­verloren?

Nein. Das darf man nicht. Tragödien gehören zum Leben. Man kann nicht sein ganzes Leben lang trauern. Meine Familiengeschichte ist mir täglich bewusst, ich werde nicht müde, darüber zu reden. Auch bin ich stolz, was Anne erreicht hat: Wissen Sie, sie schrieb ja auch Märchen und Essays und träumte davon, dass vielleicht eines Tages mal etwas gedruckt würde von ihr. Ich denke mir heute noch jeden Tag: Wenn du wüsstest, was aus deinem Tagebuch geworden ist!

Seit 1996 sind Sie Präsident des Anne-Frank-Fonds. Was umfasst das alles?

Nicht so viel Arbeit, wie Sie denken, weil ich ein sehr gutes, sechsköpfiges Team habe, das den Grossteil der Aufgaben erledigt. Wir schützen das Autorenrecht der Anne Frank, das ist unsere Hauptaufgabe. Das ganze Geld, das durch Bücher, Filme und Theateraufführungen reinkommt, wird im Sinne von Anne und ihrem Vater Otto Frank eingesetzt: Wir spenden dieses karitativ für Friedens- und völkerverbindende Projekte sowie für Kinder in Not. Monatlich erhalten wir gegen 40 Anfragen, können aber leider nicht alle berücksichtigen.

Woher kommen denn die Anfragen?

Aus der ganzen Welt, aus armen Gegenden Asiens, Südamerikas, Afrikas. Wir unterstützen auch Projekte in Israel – allerdings nur von Organisationen, die mit den Palästinensern zusammen­-arbeiten.

Hat Ihnen das auch schon Kritik eingebracht?

Das ist natürlich für viele orthodoxe Juden nicht akzeptabel. Aber das kümmert uns nicht. Uns geht es dabei um Projekte, die Völker verbinden.

Weshalb Sie noch immer oft auf Reisen sind?

Ja, für Lesungen. Vor einigen Jahren eröffnete ich in Washington eine Anne-Frank-Ausstellung. Eine Woche bevor ich rüberflog, erhielt ich einen Anruf: «This is the White House. President Bush would like to invite you for dinner.» Ich überlegte mir, ihm einen Korb zu geben. Dann aber kam ich zum Schluss, dass man einem amerikanischen Präsidenten nicht absagen könne. Zudem war es ein Empfang, an dem wir nicht alleine waren. Ich sass am Tisch mit Laura Bush und unterhielt mich angenehm mit ihr, sie war nett, kultiviert. Und er… nun ja, er ist halt einfach ein Cowboy.

Muss sich der Anne-Frank-Fonds auch gegen einen Ausverkauf wehren? Ist sie eine Marke?

Ja. Unsere Theateragentin sagte uns einmal: «Unfortunately, Anne Frank is business.» Wir kämpfen dauernd mit Leuten, die mit dem Namen Geld verdienen möchten. Eine spanische Firma wollte mal Anne-Frank-Jeans herstellen, in Singapur tauchte eine Firma «Import/Export Anne Frank» auf.

Wie geschmacklos!

Furchtbar, ja! In Spanien wurde auch ein Anne-Frank-Musical auf die Bühne gebracht. Das konnten wir nicht verhindern.

Warum nicht?

Weil sie weder den Originaltext noch den Originaltitel verwendeten. Selbst der amerikanische Sender ABC drehte mal einen Film mit anderem Text, wogegen wir umsonst interveniert haben. Die BBC hingegen hat vor drei Jahren das Tagebuch ausgezeichnet verfilmt. Das war die beste Produktion der Tagebücher, die ich bisher gesehen habe.
Auch Steven Spielberg hatte sich mal für eine Verfilmung interessiert, als ich ihm aber davon abriet, weil das Drehbuch nicht an den Originaltext angelehnt war, antwortete er mir in einem Brief: «Dann ziehe ich mich aus diesem Projekt zurück.» Das fand ich sehr pietätvoll.

Wurden Sie selbst als Schauspieler mal angefragt, in einer Inszenierung mitzuspielen?

Ja, einmal, für die Rolle als Otto Frank. Aber … das wäre mir zu nahe gegangen, das hätte ich nicht gekonnt. Otto Frank selbst hat keine Inszenierung angeschaut, ihm ging selbst das zu nahe. Ich kann es distanzierter betrachten, bin aber dennoch immer wieder ergriffen. In Bremen haben wir kürzlich eine eindrückliche Oper gesehen. Drei Mädchen haben die verschiedenen Typen und Emotionen der Anne Frank gespielt. Das war sehr interessant.

In die Rolle von Hitler hingegen konnten Sie schlüpfen?

Oh, ja. Das war in der Basler Komödie, 1967 meine ich, zur Zeit von Egon Karter. «Arturo Ui» war eine der interessantesten Rollen meines Lebens – da ist so viel Komödiantisches in diesem Stück von Bert Brecht, allein das Spiel mit der Diktion, dieses Halbnasale, war eine wunderbare Herausforderung. Ein Foto von mir als Arturo Ui habe ich noch immer aufgehängt: auf der Toilette. Wo sonst sollte Hitler hingehören?

1942 erhielten Sie von Ihrer Cou­sine Glückwünsche zum Geburtstag. «Schreib mir einmal», endete ihr Brief. War dies das letzte ­Lebenszeichen, das Sie von ihr ­erhielten?

Ja. Sechs Wochen später gingen sie ins Versteck.

Wussten Sie, dass sich Ihre Verwandten in Amsterdam versteckt hielten?

Ja, wir erhielten eine letzte Botschaft: «Ihr müsst verstehen, dass wir jetzt nicht mehr korrespondieren können.» Da wussten meine Eltern, dass sie in ein Versteck gingen – aber nicht wo.

Beunruhigte Sie das nicht?

Meine Eltern erzählten mir damals so wenig wie nötig. Ich war ein Schulbub, und es war wohl besser, dass ich nicht alles gewusst habe.

Wann erfuhren Sie von den Tagebüchern Ihrer Cousine?

Nach dem Krieg, als mein Onkel Otto erfuhr, dass seine Kinder nicht zurückkehren würden. Miep Gies, die vom Versteck gewusst hatte, schaute dort nach und sah, dass alle Papiere auf dem Boden lagen. Für diese hatte sich die Ge-stapo offenbar nicht interessiert. Also sammelte sie alles auf und übergab es ihm später mit den Worten: «Das ist das Vermächtnis Ihrer Tochter.» Er begann die Blätter zu lesen und kam nur langsam vorwärts, weil ihn die Texte immer wieder überwältigten. Er sagte immer: «Ich hab mein Kind nicht gekannt, bis ich ihr Tagebuch gelesen habe.» Ich selbst las erste Kapitel, als er sie aus dem Holländischen übersetzen liess. Als das Buch dann 1950 auf Deutsch erschien, las ich erstmals alles.

Und heute ist es weltweit bekannt.

Oh, ja. Abgesehen von Afrika sind Anne Franks Tagebücher auf allen Kontinenten millionenfach verkauft und gelesen worden. Ich habe schon gehört, es sei das meistgelesene Buch nach der Bibel. Sicher ist, dass es in 80 Sprachen übersetzt wurde, vor drei Jahren auch auf Arabisch und Farsi, was mich sehr gefreut hat. Die Tagebücher sind an Schulen noch immer ein Thema, in Japan wächst gar auf vielen Schulhöfen eine Blume, die nach Anne Frank benannt ist. In Japan wird sie fast schon wie eine Heilige betrachtet.

Besteht da nicht auch die Gefahr der Überhöhung?

Doch, schon. Gerade in Japan fiel uns das bei Reisen schon auf. Mancherorts schrien Mädchen auf und fielen mir um den Hals, wenn sie erfahren hatten, dass ich ihr Cousin sei. Manche Mädchen identifizieren sich zu sehr damit, nachdem sie das Buch gelesen haben. Aber dennoch ist es auch schön, was Anne Frank auslösen kann: Ich bekomme heute noch jeden Tag Briefe und Mails aus aller Welt. Kürzlich haben wir einen Brief von einem elfjährigen amerikanischen Mädchen erhalten: «Ich habe eine Anne-Frank-Puppe, möchte einmal in Amsterdam leben und später meine beiden Töchter Anne und Margot nennen», schrieb das Mädchen, und: «Noch wichtiger als Justin Bieber zu treffen, wäre für mich, Buddy Elias kennenzulernen!»

Sie werben als Bewahrer von Anne Franks Vermächtnis für Toleranz. Wo hört diese bei Ihnen auf?

Ich dulde viel, ausser Ignoranz oder blinden Nationalismus. Aber wichtiger als Toleranz scheint mir Akzeptanz, Humanismus, Liebe.

Sie waren durch den Zweiten Weltkrieg staatenlos – fühlen Sie sich mit den Sans Papiers solidarisch verbunden?

Ja. Wenn ich höre, dass junge Leute, die ohne Papiere bei uns sind, keinen Beruf erlernen können, sträuben sich mir die Nackenhaare. Das ist ein Verbrechen, dass man ihnen nicht hilft. Denn die Schweiz könnte sich das leisten.

Können Sie der Schweiz verzeihen, dass einst proklamiert wurde: «Das Boot ist voll»?

Man kann das nicht pauschalisieren, denn es gab in der Schweiz ja auch viele Leute, die den Flüchtlingen halfen. Man denke nur an den St. Galler Polizeihauptmann Paul Grüninger, der Juden auf der Flucht zur Einreise verhalf und ihnen das Leben rettete. Aber Verzeihen …, das ist ein grosses Wort. Kann ich dem SS-Mann verzeihen, der meinen Onkel im Lager anlächelte und ihn dabei grundlos zusammenschlug? Nein, das kann ich nicht. Onkel Otto war ein grosser Humanist. Er hatte Hunger und alle Erniedrigungen ertragen, aber diese Prügel waren zu viel für ihn, sodass er danach nicht mehr leben wollte. Sein Wille war gebrochen. Freunde holten daraufhin einen holländischen Arzt, der ihn zu sich in die Krankenbaracke nahm – was ihm das Leben rettete.

Gerade wurde bekannt, dass im Herbst die Türe der Basler Synagoge mit einem Hakenkreuz verschmiert wurde. Es fällt schwer zu glauben, dass die Menschheit aus ihren Fehlern lernt.

Ja, manchmal verliere auch ich den Optimismus. Wenn man liest, was in Sy­rien geschieht, im Iran – das macht mich ratlos. Ebenso die Situation in Israel: Es macht mich traurig, wie die Ultraorthodoxen und die illegalen Siedler dem Land schaden. Ich wünschte mir, dass die Probleme, die ja wie die meisten Konflikte mit Religion zusammenhängen, gelöst würden.

Den Glauben ans Gute haben Sie dennoch nicht verloren?

Nein, denn das darf man nicht. Nie.

Fürchten Sie sich vor dem Tod?

Nein. So wie man lebt, so stirbt man.

Und Sie sind ja noch immer topfit.

Ja, ich mache jeden Morgen Yoga und stehe 90 Sekunden lang auf dem Kopf.

Was ist Ihr Geheimnis für Ihr langes Leben?
Das ist mein Geheimnis (zeigt auf Gattin Gerti). Ich habe vor 47 Jahren keine Frau geheiratet, sondern einen Engel.

Ob Elvis Presley, Louis Armstrong, Sowjetchef Chruschtschow oder Natalie Portman: Buddy Elias hat in seinem Leben viele prominente Menschen getroffen, sei es durch seine Karriere als Eiskunstläufer und Schauspieler oder als Stiftungspräsident des Anne-Frank-Fonds. Als er 2007 von der Christoph Merian Stiftung mit dem «Basler Stern» ausgezeichnet wurde, sagte er: «Ich fühle mich des Preises nicht würdig.»
Ein bescheidener Humanist ist er geblieben, der Mann, der das grosse Vermächtnis seiner Familie verwaltet. Am 29. März tritt Elias als Gast in der Reihe «Heimat-Abend» auf, um 20 Uhr im Foyer des Theaters Basel.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 23.03.12

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