«Man muss die Trottoirs verbreitern, um Demokratie zu schaffen»

Der Sozialstaat hat seine Glaubwürdigkeit verloren, sagt der französische Historiker Pierre Rosanvallon. Geld allein reiche nicht – die soziale Verbundenheit müsse gestärkt werden, damit die Gesellschaft wieder gerechter werde. Von Stefan Brändle

Der Sozialstaat hat seine Glaubwürdigkeit verloren, sagt der französische Historiker Pierre Rosanvallon. Geld allein reiche nicht – die soziale Verbundenheit müsse gestärkt werden, damit die Gesellschaft wieder gerechter werde. Von Stefan Brändle

Herr Rosanvallon, geht es abwärts mit dem Westen?

Sagen wir es so: Wir befinden uns in einer historischen Regression. Bis zum Fall der Berliner Mauer wuchs in ­Europa der Wohlfahrtsstaat. Sozialversicherung, Steuerprogression und Mindestlöhne nahmen zu, die Ungleichheiten nahmen beträchtlich ab. Seither hat sich diese Bewegung aber in ihr Gegenteil verkehrt. In England hat sich der Grenzsteuersatz (ein ­sozialer Messwert, die Red.) von 83 auf 40 Prozent reduziert, in Frankreich von 68 auf heute noch 41 Prozent. Der Umverteilungseffekt der Steuern sinkt also wieder. Schlimmer noch ist, dass der Wohlfahrtsstaat ­generell seine Legitimation verloren hat. Daher die Regression.

Seltsamerweise treibt diese ­Entwicklung die ­Leute nicht in Massen auf die ­Strasse, wenn man von der kleinen Occupy-­Bewegung absieht.

Diese Bewegung ist nur in Spanien stark, wo die Jugendarbeitslosigkeit sehr hoch ist. Diplomierte Uni-Ab­gänger bleiben dort vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen und sind noch als 30-Jährige gezwungen, bei den Eltern zu wohnen.

Viele Leute empören sich heute über Trader-Boni und Managerspitzenlöhne. Wurde hier der ­Bogen überspannt?

Die gleichen Leute tolerieren gleich­zeitig die Superlöhne im Showbusiness oder von Fussballspielern, die in Frankreich teilweise doppelt so viel verdienen wie Bernard Arnault, Chef des weltgrössten Luxuskonzerns LVMH. Man hält es auch für normal, dass die Riesengewinne in der Euro-Millions-Lotterie über 100 Millionen betragen. Damit verliert jede Idee von Solidarität ihren Sinn. In einem ausgeglichenen Wohlfahrtsstaat haben die Bürger das Gefühl, dass sie zumindest innerhalb ihrer sozialen Klasse die Vorteile und Unsicherheiten mit den anderen teilen. Das ist heute nicht mehr der Fall. Die Leute fragen nur noch, ob dieser oder jener Arbeitslose wohl genug lang einen Job gesucht habe, bevor er der Gesellschaft zur Last falle.

Gehört die Umverteilung neu ­organisiert?

Eine bessere Umverteilung lässt sich meines Erachtens nur erreichen, wenn man zuvor die soziale Verbundenheit und das Gefühl für die Gemeinschaft wieder stärkt. Das grosse Problem der Sozialpolitik liegt heute darin, dass sie nur auf einzelne Kategorien ausgerichtet ist: Arbeitslose, Arme, gesellschaftlich Ausgeschlossene. Sie muss wieder alle Leute erfassen und einbinden.

Wie soll das geschehen?

Ich habe dafür drei Prinzipien entwickelt. Das erste ist die Gegenseitigkeit. Viele Bürger wären bereit, sich wieder für die Gesellschaft zu engagieren –aber nur dann, wenn sich die anderen auch einbringen. Das setzt gegenseitiges Vertrauen voraus, das Gefühl, am gleichen Strick zu ziehen. Diese Gewissheit fehlt in den Gesellschaften mehr und mehr. So entsteht der Eindruck, dass die einen zahlen, während die anderen sogenannte «Freeriders» sind, die also mitreiten.

Und wie liesse sich dieses Prinzip umsetzen?

Die Wechselseitigkeit – oder deren Fehlen – muss transparent gemacht werden. Nötig wäre eine Beobachtungsstelle, die aufzeigt, wer wie von Sozialrechten und -leistungen profitiert. Das würde zum Beispiel aufzeigen, dass Grossunternehmen weniger hoch besteuert werden als Klein- und Mittelunternehmen. Oder dass Sozialleistungsbetrug sehr verbreitet ist.

Heute reiten Populisten auf ­solchen Themen herum.

In einer Gesellschaft, die auf Gegenseitigkeit beruht, verliert der Populismus seine Bedeutung. Anfällig dafür sind Bürger, die sich als Verlierer ­sehen. Sie wenden sich gegen die vermeintlichen Profiteure – in den Eliten und unten in der Einwanderung.

Was wäre sonst zu tun?

Man müsste dafür sorgen, dass die Bürger wieder das Gefühl erhalten, dass sie sich ähnlich sind – ähnlich in ihrem Anspruch auf Respekt, Würde und Bildung. Das ist mein zweites Prinzip: das der Ähnlichkeit. Das ­dritte ist die Kommunalität, die Stärkung des Gemeinwesens. Der Raum des öffentlichen Lebens muss erweitert ­werden. Schon der französische Revolu­tionär Emmanuel-Joseph Sieyès sagte, man muss die Trottoirs verbreitern, um Demokratie zu schaffen. Heute ­leben wir in Europa und vor allem in den USA zunehmend getrennt und ­privat. Doch je weniger öffent­licher Raum existiert, desto mehr Misstrauen gibt es.

Müssen wir also vor allem wieder lernen, soziale Wesen zu sein?

Ja, es ist vorrangig, die sozialen Bande zu stärken. Das war letztlich auch das Ziel der «Egalité» in den Revolutionen Frankreichs und der USA: Nicht die Gleichheit der Mittel, sondern die so­­ziale Verbundenheit, die soziale Ähnlichkeit und Beteiligung. Erst nachher lässt sich eine neue Umverteilung anstreben.

Lässt sich dieser Ansatz auch auf die aktuelle Europa-Debatte übertragen?

Durchaus. Solidarisch sein heisst, die Last und die Verantwortung gemeinsam zu tragen, im Notfall auch für die Schulden der anderen einzustehen. Nur so baut man europaweit eine ­Gesellschaft des Vertrauens. Der EU mangelt es nicht so sehr an politischem Willen, sondern an gegensei­tigem Vertrauen. Noch sind die Europäer nicht bereit, auch für die Fehler der anderen zu einzustehen.

Alle Europäer – oder nur die Deutschen?

Die Franzosen wollen auch nicht für die Griechen zahlen. Die Regierung in Paris wäre eher bereit dazu als die ­Regierung in Berlin, doch die Fran­zosen in ihrer Gesamtheit sind so ­wenig bereit wie die Deutschen; das zeigen alle Umfragen. Die Dinge können sich aber ändern, analog zu einer Entwicklung, die im 19. und 20. Jahrhundert zu beobachten war. Viele ­europäische Länder erlebten Reformen, die durch die Angst motiviert waren. Aus Angst vor einer Katastrophe ist man zum Beispiel eher bereit zu zahlen. Bismarck zog in Deutschland Sozialreformen durch, um eine Revolution zu verhindern; der Westen handelt später ähnlich aus Angst vor dem Kommunismus.

Und heute wäre das die Angst vor den Finanzmärkten …

Auf die erste Globalisierung Ende des 19. Jahrhunderts reagierten die Leute mit Protektionismus, Fremdenhass und Nationalismus. Die sozialrepublikanischen Kräfte und aufgeklärten Konservativen setzten sich erst später durch, verhalfen den Sozialrechten aber zum Durchbruch. Und der Weg war nicht leicht, Faschismus und Totalitarismus säumten ihn. Heute, während der zweiten Globalisierung, kommen die gleichen Ängste wieder auf. Werden sie etwas Positives bewirken? Für eine definitive Antwort ist es aber zu früh. Wir kennen die Folgen, den Preis der Angst, noch gar nicht.

 

Pierre Rosanvallon (64) zählt zu den ­bekanntesten Intellektuellen Frankreichs. Der Historiker ist spezialisiert auf zeitgenössische Geschichte und moderne Demokratien. Er ist Professor am Collège de France in Paris, Direktor des Instituts für Sozialwissenschaften und Vorsteher des links­reformistischen Thinktanks «La République des Idées». Dem sozialistischen Ex-Premierminister Michel Rocard ­nahestehend, sprach er sich im fran­zösischen Präsidentschaftswahlkampf 2007 für die sozialistische Kandidatin Ségolène Royal aus. Der aus dem Loiretal stammende Rosanvallon ist verheiratet und hat zwei ­Kinder.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 13/01/12

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