Marc Graf, die sexuellen Übergriffe auf Kinder und Jugendliche nehmen gemäss dem aktuellen Basler Kinderschutzbericht zu – auch Übergriffe von Jugendlichen auf Jugendliche. Überschneidet sich dieser Befund mit Ihrer Erfahrung als forensischer Psychiater?
Durchaus. Übergriffe unter Kindern sind zwar immer noch selten, aber ich beobachte, dass es vor allem mit Bezug zu sozialen Medien vermehrt solche Fälle gibt.
Soziale Medien führen zu mehr Übergriffen?
Eines vorweg: Ich finde, Kinder haben ein Recht, soziale Medien zu nutzen. Meine Kinder durften auch ein Handy in die Primarschule mitnehmen. So konnten sie sich jederzeit bei mir melden, falls auf dem Heimweg etwas war.
«Viele Mädchen verbreiten bereits mit zehn Jahren laszive Fotos von sich über soziale Medien.»
Aber?
Aber die Eltern müssen ihnen auch die Risiken aufzeigen.
Sexchats und so.
Das Problem ist, dass viele Mädchen bereits mit zehn Jahren laszive, freizügige Fotos von sich hochladen und über soziale Medien verbreiten. Da gibt es Knaben und Männer, die das missbrauchen.
Inwiefern?
Das schlimmste Szenario, das wir immer beobachten: Jugendliche Männer kommen mit den Mädchen ins Gespräch. Irgendwann bitten sie um ein Nacktfoto. Und wenn das Mädchen ihnen eines schickt, drohen sie plötzlich: «Entweder kommst du am Samstag um 16 Uhr da- und dorthin oder wir laden das Bild auf Facebook.»
Und das Mädchen gehorcht?
Häufig. Und dort wartet eine Gruppe von Jugendlichen oder Männern, um das Mädchen zu vergewaltigen.
Kommt das jeweils raus?
Wenn es zu einer Anzeige kommt, ist die Beweislage häufig gut, da die Täter ihre Straftaten selber dokumentieren. Die Fahnder finden die Spuren im Internet und auf den Mobiltelefonen. Wir erhalten diese Unterlagen auch, wenn wir Gutachten über die Täter erstellen oder im Falle einer Therapie.
Sexuelle Übergriffe von Kindern auf Kinder gibt es schon lange. Man denke an Robert Musils Klassiker «Die Verwirrungen des Zöglings Törless», in dem Knaben einen Mitschüler quälen.
Das stimmt. Aber ich glaube, es gibt schon Unterschiede zu früher. Einerseits ist die Gesellschaft heute sensibilisierter und geht offener mit dem Thema um. So kommen auch mehr Fälle an die Öffentlichkeit. Andererseits tritt die Sexualität bei Kindern heute früher in Erscheinung.
Ist das schlecht?
Nein, im Gegenteil. Eine frühe Sexualerziehung ist gut für die Kinder. So lernen sie: Erotik und Sexualität sind wunderbar. Es ist zum Beispiel gesund für ein Kind zu sehen, dass sich Eltern attraktiv finden und sich gerne berühren. Aber es gibt Grenzen: Gewisse Berührungen gehören in die Intimsphäre. Die meisten Kinder entwickeln im Vorschulalter von allein ein solides Schamgefühl. Aber es gibt auch exhibitionistisch veranlagte Kinder, die Doktorspiele machen.
Schaden Doktorspiele?
Auch nicht per se, nein. Aber den Kindern muss klar sein: Man darf auch Nein sagen. Ich erlebe Knaben oder Männer, die zu sexuellen Übergriffen auf andere Kinder sagen: «Das ist doch normal, alle spielen Doktorspiele.» Aber das stimmt nicht. Nicht alle Kinder wollen Doktor spielen. Das muss man akzeptieren.
Was bringt Kinder dazu, andere sexuell zu missbrauchen?
In der Regel sind das Jungs, die bereits ein auffälliges Verhalten haben und auch sonst die Regeln nicht einhalten. Die also gewalttätig sind, einfache Raubdiebstähle begehen oder auch mal Drogen nehmen.
Ist das eine Frage der Erziehung?
Nein, das greift zu kurz. Meist sind es mehrere Faktoren, die ein solches «dissoziales» Verhalten begünstigen. Klar, nicht alle Eltern sind gleich kompetente Eltern. Aber auch die genetische Veranlagung spielt eine Rolle, ebenso die psychische Konstitution der Eltern. Gestresste Mütter können ihren Stress dem Kind vererben, sodass es schon mit Angst und Stress auf die Welt kommt, viel weint und dadurch die Eltern wieder belastet, die ohnehin schon an ihren Grenzen sind.
Das begünstigt sexuellen Missbrauch?
Verallgemeinert kann man folgendes sagen: Mädchen fressen ihren Stress in sich hinein, werden depressiv, entwickeln Essstörungen, verletzen sich selber. Knaben lassen die Angst raus, entwickeln Aggressionen. Und Kinder, die es sowieso schwierig haben, sind auch anfälliger für problematische Pornografie.
«Es gibt Kinder, die höchst verantwortungslose Eltern haben und trotzdem gut herauskommen.»
Begünstigt Pornografie sexuellen Missbrauch?
Die meisten Kinder im Primarschulalter können eine gesunde Sexualität entwickeln, auch wenn sie mal auf dem Pausenhof harte Pornografie sehen. Aber die, die unsicher sind, die orientieren sich dann vielleicht an einem falschen Modell. Sie denken etwa: «Wenn eine Frau nicht aus dem Füdli blutet, ist es kein richtiger Sex.»
Also ist es, wie immer, ungerecht: Die Kinder, die in ein gutes Umfeld hineingeboren werden, haben Glück, die anderen Pech. Nicht nur in der Bildung und bei den Karriereaussichten, sondern auch in der Sexualität.
Ja, aber nicht immer: Es gibt Kinder, die drogenabhängige, höchst verantwortungslose Eltern haben und trotzdem gut herauskommen. Dagegen gibt es in den besten Familien Kinder, die ein dissoziales Verhalten entwickeln. Ich hatte überaus kompetente Eltern bei mir in der Sprechstunde, die aus allen Wolken fielen, weil ihr Sohn seit langer Zeit Sex mit der wesentlich jüngeren Schwester hatte.
Zwang er sie?
Ja, das war krasser Missbrauch.
Und die Eltern haben nichts bemerkt?
Nein. Mädchen sind häufig angepasst, wollen oft nicht auffallen und verschweigen, was ihnen passiert. In vielen Fällen kommt der Missbrauch ans Licht, weil sie sich einer Freundin anvertrauen. Die erzählt es dann ihren Eltern, und die sprechen es an.
Für Eltern ist es also grundsätzlich sehr schwierig zu merken, ob ihr Kind missbraucht wird.
Allerdings. Das Beste ist, den Kindern von Anfang an eine gesunde Sexualität mitzugeben. Ihnen beizubringen, dass Berührungen schön sein können, aber dass sie auch immer Nein sagen dürfen.
Das ist schwieriger, als es tönt.
Manche Eltern sind damit überfordert. Zum Beispiel fragen mich Väter immer wieder, ob sie nackt mit ihren Kindern baden dürfen.
«Wichtig ist das frühe Vermitteln von Möglichkeiten und Grenzen einer verantwortungsvollen Sexualität.»
Klar dürfen sie.
Ja, das ist auch für das Kind schön. Nur: Wenn der Vater merkt, dass ihn das sexuell erregt, dann sollte er sich unbedingt Hilfe holen. Sonst wirds schwierig. Wichtig ist das frühe, stufengerechte Vermitteln von Möglichkeiten und Grenzen einer verantwortungsvollen Sexualität.
Wie geht es dem Mädchen, das von ihrem Bruder missbraucht wurde, heute?
Nach anfänglichen schwerwiegenden Essstörungen und schulischen Schwierigkeiten hat sie meines Wissens im Rahmen einer Psychotherapie die Ereignisse richtig einzuordnen gelernt. Sie versteht, dass sie als Opfer nicht schuld war an diesen Übergriffen und den daraus entstandenen familiären Turbulenzen. Die Eltern haben mir mitgeteilt, dass sie einen tollen Freund gefunden hat und es ihr gut geht.
Können Kinder, die sexuell missbraucht wurden, sich davon erholen und eine gesunde Sexualität entwickeln?
Ja, die meisten Menschen verfügen zum Glück über gute innerpsychische Kräfte, solche Traumata und Krisen zu überwinden und ein erfülltes und glückliches Leben zu führen. Einige benötigen dabei therapeutische Unterstützung. Aber es gibt auch Menschen, die anhaltende psychische Störungen entwickeln, die sie für den Rest ihres Lebens beeinträchtigen.