Seit fast 30 Jahren kämpft Anni Lanz für Flüchtlinge, Migranten und Sans-Papiers. Sie setzt ihre Hoffnungen dabei nicht mehr in die Einsicht, sondern auf den Markt.
Das Rampenlicht liegt Anni Lanz nicht. Obwohl die Baslerin immer an vorderster Front für die Rechte von Flüchtlingen und Frauen kämpfte, blieb sie meistens im Hintergrund (mehr zur Person). Die Medien nennen sie abwechslungsweise «Autorität und Gewissen einer schrumpfenden Bewegung» und «Graue Eminenz der Flüchtlingspolitik». Die 68-Jährige mag ergraut sein, von ihrer Kampfeslust hat sie nichts eingebüsst – und so lange sie «noch denken kann», will sie weiterkämpfen. Ihr aktuelles Engagement gilt den Sans-Papiers. Mit einem neuen Modell wollen sie und ihre Mitstreiter dafür sorgen, dass in Basel möglichst niemand mehr in der Hausarbeit ausgenutzt wird. (Ein Thema sind die Sans-Papiers auch in unserer Wochendebatte – diskutieren Sie mit!)
Frau Lanz, haben Sie selbst schon Sans-Papiers bei sich beschäftigt?
Ja, das wollen Sie jetzt wissen! (lacht) Die Frage ist für mich aber etwas heikel zu beantworten. Immerhin wäre eine solche Beschäftigung ja strafbar wie auch jegliche Unterstützung bei einem irregulären Aufenthalt.
Womit Sie die Frage jetzt eigentlich doch schon beantwortet haben.
Ich hatte jedenfalls schon bis zu sechs Sans-Papiers bei mir daheim untergebracht, als die Asylbehörden Personen mit Nichteintretensentscheid auf die Strasse wiesen. Damals kamen Polizisten und stellten meinem Nachbarn eine sehr ähnliche Frage wie Sie: Wer geht bei Frau Lanz ein und aus? Viel Interessantes gab es jedoch nicht zu erfahren.
Ist es Ihrer Meinung nach denn in Ordnung, Sans-Papiers zu beschäftigen?
Verwerflich finde ich, wenn Arbeitgeber den illegalen Status einer Arbeitskraft ausnützen. Wenn der Lohn anständig ist, würde ich niemanden bestrafen. Aber das hat der Gesetzgeber anders gesehen. Mich persönlich macht die Schwarzarbeitskampagne unglücklich.
Welchen Lohn ist Ihrer Ansicht nach für eine einfache Arbeit noch anständig?
Zwischen 27 und 30 Franken pro Stunde würde ich sagen, auch wenn ich auf dem Gebiet keine Expertin bin.
Tatsächlich bezahlt wird in den meisten Fällen aber wohl weniger.
Da gibt es alles. Sans-Papiers, die anständig bezahlt werden, und Sans-Papiers, die ausgenutzt werden. Ich lernte die ersten betroffenen Frauen Ende der 1980er-Jahre kennen. Es waren Philippinas, die für ein paar wenige Hundert Franken pro Monat extrem viel schuften mussten oder – noch schlimmer – als Gratis-Haushaltshilfen und Sexsklavinnen missbraucht wurden, nachdem man sie mit einem falschen Heiratsversprechen in die Schweiz gelockt hatte. Und auch in Botschaften wurden Philippinas, ganz legal sogar, als Billigstarbeitskräfte ausgenutzt.
«Sobald man darüber redet, gerät das gesamte System ins Rutschen. Darum schweigt man lieber.»
Warum werden solche Fälle nur selten zum Thema in der Öffentlichkeit?
Weil es dabei um Haus- und Frauenarbeit geht, die zwar extrem wichtig ist, aber meistens gratis erbracht werden muss. Auch in der Schweiz wird im Haus mit Kochen, Putzen und Kinderversorgen sehr viel mehr Arbeit verrichtet als etwa im Dienstleistungssektor. Und alle wissen, dass ohne die schlecht oder überhaupt nicht bezahlten Dienste der Frauen das gesamte Gesellschafts- und Wirtschaftssystem ins Rutschen geriete. Das will man natürlich nicht. Darum wird auch nicht darüber geredet.
Frauen aus armen Ländern, die in den reichen Ländern die Hausarbeit übernehmen – ist das auch eine Folge der Emanzipation bei uns?
Ja, insofern, als die Männer nicht bereit waren, die Hälfte der unbezahlten Arbeit zu übernehmen. Bis in die 1960er-Jahre konnte sich die Frau nur daheim verwirklichen. Sie musste gut aussehen und die Hausarbeit mit links erledigen. Dann hat die Frauenbewegung den gleichberechtigten Zugang der Frauen zum Arbeitsmarkt gefordert. Die Folge ist, dass Frauen nun nicht mehr nur als tüchtige Mitarbeiter gefragt sind, sondern nebenher auch fast noch das gleiche Pensum an Hausarbeit erledigen müssen wie früher. Und trotz des ganzen Aufwands sollten sie immer auch noch möglichst frisch und unverbraucht daherkommen. Das alles zusammen ist aber kaum zu leisten. Darum braucht die Gesellschaft Migrantinnen.
Wie lässt sich diese Logik stoppen?
Sie wollen immer Lösungen! Aber manchmal ist es gar nicht so einfach, eine zu finden, weil die Probleme tiefer liegen: in der Minderbewertung der Leistungen von Frauen, in der ungleichen Verteilung der unbezahlten Arbeit zwischen den Geschlechtern und in der ungleichen Verteilung des Reichtums weltweit. Das führt zu Abhängigkeiten und Machtgefällen, auch zwischen den Frauen, der einheimischen Hausfrau und der ausländischen Hausangestellten. Und gerade im Verhältnis zu den Sans-Papiers-Haushaltshilfen, die immer Angst haben müssen aufzufliegen.
Die Anlaufstelle für Sans-Papiers versucht nun zumindest, das Problem zu lindern – mit der Forderung nach Aufenthaltsbewilligungen für eine gewisse Anzahl Sans-Papiers. Rechtlich gesehen wird damit ein Unrecht legalisiert. Ist das nicht der falsche Weg?
Das Unrecht besteht darin, dass man von Menschen Leistungen beansprucht, denen man keine Rechte zugesteht. Es ist doch heuchlerisch, dass wir sehr viele Arbeitskräfte hier haben und brauchen, aber so tun, als gäbe es sie gar nicht. So hält man sie in der Abhängigkeit. Daran stören sich auch zahlreiche Staatsrechtler wie Markus Schefer und René Rhinow.
Müsste es nicht Ihr Ziel sein, dass alle Arbeitskräfte, die hier benötigt werden, auch legal einreisen könnten?
Selbstverständlich sind wir gegen das Drei-Kreise-Modell, das verhindert, dass Menschen von ausserhalb der EU bei uns einfachere Jobs übernehmen können. Wer seine Abschaffung heute offen fordert, wird aber nur ausgelacht. Darum kommen wir mit einem sehr viel vorsichtigeren Vorschlag – mit einer beschränkten, etappenweisen Legalisierung von Hausangestellten, die sich verdient gemacht haben. Da die Nachfrage nach Betreuungs- und Pflegekräften für ältere Menschen in den nächsten Jahren enorm zunimmt, wird man in ein paar Jahren auch offen über das Drei-Kreise-Modell diskutieren können.
«Es sind die Wirtschaftsinteressen, die sich durchsetzen werden.»
Anni Lanz, die Menschenrechtlerin, setzt ihre Hoffnung also auch auf den Markt.
Entscheidend für eine offenere Migrationspolitik ist leider nicht die Einsicht in die Menschenrechte. Es sind Wirtschaftsinteressen, die sich durchsetzen werden.
2001 drängten die Sans-Papiers wie aus dem Nichts in die Öffentlichkeit, um die Gesellschaft auf ihre Probleme aufmerksam zu machen. Nach einigen spektakulären Aktionen ist es dann aber wieder ruhig geworden um sie. Warum?
2001 – das war eine Zeit! Ich habe zusammen mit anderen schon vorher immer wieder versucht, die Sans-Papiers zum Thema zu machen. Ohne Erfolg. Dann begannen sie sich vor allem in der Westschweiz selbst zu organisieren. Sie besetzten Kirchen, organisierten Demos mit Tausenden von Teilnehmern, und die Medien berichteten fast jeden Tag gross darüber.
Sie strahlen, wenn Sie darüber reden.
Das war toll, ja. Wenn eine solche Bewegung anfängt, hat man das Gefühl, die Welt verändern zu können. Irgendwann verliert das Ganze aber an Dynamik. Eine Bewegung kann man nicht institutionalisieren.
Und dann merkt man, dass die Welt noch immer die Gleiche ist.
Fast. Hinzu kommt der Gegendruck der Behörden. Wir haben es 2001 geschafft, dass man nicht mehr von «Illegalen» spricht, sondern von «Sans-Papiers». Nachdem Christoph Blocher 2004 Justizminister geworden war, nahm die Kriminalisierung wieder stark zu.
«Wegen uns soll alles wieder anders werden? Das wäre ja was!»
Und jetzt hoffen Sie, dass das Pendel wieder in die andere Richtung ausschlägt?
Wegen dem «Basler Modell»? (lacht) Das wär ja was! Eine Demo mit 6000 Leuten wie 2001 in Bern, das bringen wir aber heute kaum mehr hin, auch weil die Sans-Papiers in den vergangenen Jahren durch eine rigorose Strafpraxis eingeschüchtert worden sind.
Was erhoffen Sie sich von dem «Basler Modell»?
Dass man die Leistung, die die Sans-Papiers hier Tag für Tag vollbringen, endlich anerkennt, anstatt sie zu kriminalisieren. Und dass man auch die Hausarbeit wertschätzt. Dafür bräuchte es in der Politik aber wesentlich mehr Zivilcourage. Bis jetzt haben sich höchstens links und feministisch Politisierende für diese Problematik interessiert. Die meisten anderen Politiker hatten Angst, sie könnten sich die Finger verbrennen – und schwiegen. Dabei geht es beim Umgang mit den Sans-Papiers doch eigentlich gar nicht um linke oder rechte Überzeugungen, sondern ganz einfach um Ehrlichkeit beziehungsweise um Heuchelei.
Ein Hin und Her gibt es in der Flüchtlingsdebatte: Wenn ein Boot untergeht, dann redet man wieder darüber, bringt das Botschaftsasyl wieder zur Debatte, das eben erst ohne grosse Umschweife abgeschafft wurde. Was halten Sie von diesem Hin und Her?
Bei den Asyldiskursen geht es nicht um Menschenrechte. Die Politiker richten ihre Meinung lieber nach dem Trend. Mal scheint es angezeigt, sich mitleidsvoll über die Flüchtlinge zu äussern, weil man unmittelbar nach dem Untergang eines Flüchtlingsbootes im Mittelmeer ja nicht sagen kann: Alles kein Problem. Sonst ist es eher populär, ein restriktives Vorgehen zu verlangen. Da zeigt sich eben, dass vielen Politiker die Haltung fehlt, die Zivilcourage.
Bringt diese temporäre Aufmerksamkeit den Flüchtlingen etwas?
Im Fall der syrischen Flüchtlinge beispielsweise scheint man mir etwas wohlwollender zu sein, weil die dramatische Situation im Bürgerkrieg auch bei uns häufig thematisiert wird. In anderen Ländern ist die Lage zwar kaum besser, nur ist das in der Schweiz nicht unbedingt ein Thema. Entsprechend gleichgültig sind die meisten Schweizer diesen Ländern und ihren Flüchtlingen gegenüber.
Aber Sie haben selbst gesagt: Es gibt eigentlich gar keine Lösung …
Nein, einfache und schnelle Lösungen gibt es keine, aber Forschritte sind möglich. Das Asylrecht zum Beispiel ist eine extrem wichtige Errungenschaft. Nach dem Zweiten Weltkrieg entstand die Menschenrechts- und Flüchtlingskonvention – das wäre heute gar nicht mehr möglich. Das war einmalig. Dank dem Asylrecht können die Geschundensten der Geschundenen geschützt werden. Beim Ausländerrecht ist es gerade umgekehrt: Ins Land dürfen nur die Privilegierten, die Hochqualifizierten. Dabei brauchen wir auch die weniger gut Qualifizierten von ausserhalb der EU. Aber die fallen mit der jetzigen Gesetzgebung zwischen Stuhl und Bank.
Sie gehen regelmässig ins Ausschaffungsgefängnis. Machen Sie das für den einzelnen Menschen? Oder vermuten Sie Misststände, die Sie aufdecken möchten?
In den vergangenen Jahren haben sich die Haftbedingungen leicht verbessert, auch weil wir uns dafür eingesetzt haben. Grundsätzlich werde ich mich nie damit abfinden, dass man Menschen dort einsperrt, nur weil sie einen Ausweg aus ihrer Armut gesucht haben. Man arrangiert sich nur allzu schnell mit einer solchen Ungerechtigkeit, wenn es einem selbst gut geht. Das will ich nicht.
Ist das Ihr Antrieb?
Einerseits – ja. Andererseits komme ich dank meines Engagements zu vielen interessanten Kontakten.
Eine Sans-Papiers sagt in Pierre-Alain Niklaus‘ Buch «Nicht gerufen und doch gefragt»: Alle Grenzen müssten für alle offen sein. Ist das auch Ihr Ideal?
Mein Ideal? Vor Idealen habe ich immer Angst, vor allem vor meinen eigenen. Wenn die eins zu eins umgesetzt werden sollten, bräuchten wir ja eine Diktatur (lacht). Am liebsten wäre mir, dass alle Menschen mitbestimmen könnten, wie sie leben.
Die Entwicklung geht nicht unbedingt in diese Richtung.
Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind kein Geschenk, beides muss man sich immer wieder neu erkämpfen.
Ist der Kampf nicht schon verloren gegen die Überwacher und Grenzwächter?
Wir müssen kämpfen. Der Zweite Weltkrieg hat uns gelehrt, dass wir beides rasch verlieren können – Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.
Haben Sie nie daran gedacht, sich ebenfalls zu arrangieren?
Dafür sind die Begegnungen, die ich habe, viel zu aufwühlend. Meine körperliche und geistige Beweglichkeit verlangsamt sich allerdings, und irgendwann wird Schluss sein – leider, aber so ist das halt mit dem Leben.
Sie wirken heiter, auch wenn Sie viel Düsteres erzählen.
Ich lebe eben wahnsinnig gerne (lacht). Mir ist auch bewusst, dass ich sehr privilegiert bin, das verpflichtet: erstens zur Selbstkritik und zweitens zum Teilen.
Wie sind die Reaktionen auf Ihren Einsatz: Erhalten Sie mehr Dankes- oder mehr Schmähbriefe?
Von den Betroffenen erhalte ich viel positive Rückmeldungen. Es gibt auch anderes, aber nicht allzu viel, mein Name steht auch nicht mehr im Telefonbuch.
Aber Sie hatten auch schon Nachteile, etwa als Sie fichiert wurden.
Das schon. Aber für mich hatte die Überwachung nicht dieselben Konsequenzen wie für ausländische Menschen. Mich konnte man nicht ausschaffen. Aber Nachteile hatte ich schon auch, klar. Als Beizerin wollte ich einmal ein Restaurant pachten, ich bekam dann aber im letzten Moment eine Absage, obwohl ich zuvor lange erfolgreich gewirtet hatte. Ich nehme an, das hatte schon mit der ersten Fiche zu tun. Vielleicht ist es aber auch gut, dass ich den Laden nicht bekam. Ich weiss ja nicht, ob das gut herausgekommen wäre … (lacht).
Später haben Sie für Ihr Engagement auch die Ehrendoktorwürde erhalten.
Das war sehr mutig, eine ganz gewöhnliche Frau wie mich auszuzeichnen. Das war eine sehr schöne Anerkennung für die Arbeit, die viele Engagierte an der Basis leisten.
Die Anerkennung hat Sie überrascht?
Definitiv. Es gibt ja sehr viele Preise, die aber meistens nur innerhalb eines bestimmten Zirkels vergeben werden, damit die Berühmten noch berühmter werden. Mit mir ist aber auch mal ein Nobody ausgezeichnet worden.
Sie – ein Nobody?
Eigentlich schon. Ich gehöre zu keiner Elite und wollte das auch nie.
Zur Person. Anni Lanz hat ihr Leben in den Dienst der Schwächsten gestellt. Seit bald 30 Jahren kämpft die Baslerin für die Rechte der Frauen, Migranten und Flüchtlinge. Seit den 1980er-Jahren steht sie im Einsatz für die Sans-Papiers. Immer an vorderster Front und dochimmer im Hintergrund. Sie hat Bücher zum Thema geschrieben, geht regelmässig ins Ausschaffungsgefängnis und tut das, was viel zu wenig geschieht: Sie lässt die Betroffenen zu Wort kommen. Ihr Lebensthema nannte sie einst die «Asylpolitik». Ihr Weg führte sie über die Kunstgewerbeschule in Basel an die Universitäten von Zürich und Basel, wo sie Soziologie studierte. Anni Lanz’ Engagement wurde gewürdigt, als sie beim Projekt «1000 Frauen für den Friedensnobelpreis 2005» als eine von fünf Schweizer Frauen nominiert wurde. Noch mehr aber mit dem Ehrendoktortitel der juristischen Fakultät. Ein Entscheid, der ihr besonders gefiel, weil er von dem geprägt ist, was sie selbst antreibt: Zivilcourage.
Artikelgeschichte
Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 08.11.13