Mirik Milan ist Amsterdams Nachtbürgermeister und setzt sich für ein lebendiges Nachtleben ein, in Rücksprache mit Behörden und dem tatsächlichen Bürgermeister. Wie er zwischen Partyveranstaltern und Stadt vermittelt und welche Ziele er in der holländischen Hauptstadt erreicht hat, erzählt er im grossen Interview.
Nachtburgemeester. Das klingt eigenartig und drollig für uns, ist aber ernst gemeint: Amsterdam hat einen Nachtbürgermeister. Mirik Milan (34) kümmert sich seit 2012 um die Belange des Nachtlebens. Gewählt wird er vom Ausgehvolk und der Amsterdamer Clubszene, doch sieht er sich auch im Dienste der Stadt, wie er im Interview erzählt. Getroffen haben wir ihn in Basel. Das hiesige Komitee Kulturstadt Jetzt! lud ihn zu einem informellen Anlass ein, auch zahlreiche Behördenvertreter und Regierungsräte hörten interessiert zu, wie es dazu kam, dass Amsterdam seit 2002 jeweils einen ehrenamtlichen Nachtbürgermeister hat. Mithilfe der Partei GroenLinks aus der Szene heraus entstanden, soll das Amt Brücken bauen, Gräben überwinden. Wie Milan das gelingt, hat er uns im Interview erzählt.
Mirik Milan, seit 2012 sind Sie Amsterdams «Nachtburgemeester». Das hört sich zwielichtig an.
Wie meinen Sie das?
Schummrig. Ist Nachtbürgermeister eine nettere Bezeichnung für den Nightlife-Paten, den Capo dei capi?
(Bild: Nils Fisch)
(lacht) Ach so! Nein, nein. Ich trage zwar einen Ring mit dem Stadtwappen, worin mein Name eingraviert ist, bin aber kein Mafioso! Auch wenn es tatsächlich immer wieder ahnungslose Leute gibt, die meinen, ein Nachtbürgermeister gehe von Club zu Club und kassiere bei den Türstehern Geld ein. Aber mein Job ist nicht zwielichtig, ich habe auch nichts mit dem Rotlichtmilieu zu tun. Ich bin Ansprechpartner für Clubs und Behörden, ich vertrete also, wenn man so sagen will, das Partyleben von Amsterdam.
In einer Reportage der deutschen Zeitung «Die Welt» wirkt Ihr Alltag sehr spassig: Gratisdrinks, Gratiseintritte, Gratispartys.
Ach, das war völlig übertrieben. Ich bin ständig unterwegs, aber im Moment nur 50 Prozent als Nachtbürgermeister angestellt – ein Ehrenamt, übrigens. Daher vermischt sich an manchen Abenden beides, das Feiern und die Arbeit. Dafür sind Clubs ja auch da: um sich zu treffen, um Netzwerke zu pflegen und Kontakte zu knüpfen. Sie haben einen gesellschaftspolitischen Wert, der integrativ ist.
Und warum braucht es in Amsterdam einen Nachtbürgermeister?
Weil das Nachtleben politisch oft vernachlässigt worden ist in der Vergangenheit, ja, von Behörden oft nur als Problem wahrgenommen wurde. Natürlich birgt das Nachtleben auch Probleme, diese Tatsache will ich gar nicht unter den Teppich kehren. Ja, es gibt Gewalt, Alkoholexzesse, Drogen. Aber das Nachtleben steht doch für deutlich mehr positive Erlebnisse: für kulturelle, soziale, kreative Begegnungen. Das Leben verlagert sich stärker in die Nacht hinein, weil in der Nacht viele kreative Kräfte zusammenkommen. Und die Leute sind weniger Zwängen ausgesetzt als tagsüber. Man kann sich nachts viel eher so geben, wie man ist – sei es im homosexuellen Milieu, wo ich noch immer Repressionen wahrnehme, wie auch in anderen Szenen.
Wie viele grössere Clubs gibt es in Amsterdam?
Wir zählen dreissig Clubs, die 400 Leute und mehr fassen. Die Konzertlokale noch nicht eingeschlossen.
Eine beachtliche Anzahl.
Ja. Hinzu kommen über hundert Festivals.
Gibt es Studien über die Auswirkungen des Amsterdamer Nachtlebens?
Leider noch nicht. Aber es ist jetzt eine Studie publiziert worden, die die Abschaffung der Sperrstunde in London untersucht hat – diese könnte auch für uns aussagekräftig sein.
Erzählen Sie!
Darin wurden die Auswirkungen der längeren Öffnungszeiten in England untersucht. Im Vorfeld fürchteten einige Politiker, dass sich die Probleme mit dem Komasaufen verschärfen und die Gewalt zunehmen würde. Doch das Gegenteil ist der Fall: In England stellt man eine klare Verbesserung gegenüber früher fest. Denselben Effekt erhoffen wir uns auch für Amsterdam: Wenn um 4 Uhr morgens auf einen Knall 4000 bis 5000 junge Leute auf einen der grossen Plätze rausströmen, darunter viele alkoholisiert, dann ist das Konftliktpotenzial offensichtlich. Mit der Deregulierung der Öffnungszeiten lässt sich das entschärfen. Denn oft spielen sich die Probleme nicht im Club, sondern vor dessen Türe ab.
«Mit einer Deregulierung der Öffnungszeiten lassen sich Konflikte entschärfen.»
Was folgern Sie daraus?
Wir haben am 1. Juli ein neues Projekt gestartet, rund um einen unserer grössten Plätze, den Rembrandtplein. Die Bars können bis 6 Uhr offen haben, die Nightclubs bis 8 Uhr morgens. Sie können natürlich auch früher zumachen. Das Jazzcafé schliesst um 3 Uhr, der Club später. Soweit wir bisher feststellen konnten, hat das die Situation beruhigt. Das war aber nicht die einzige Massnahme: Wir wollen neuralgische Plätze besser beleuchten und den Verkehr besser leiten. Die Konsequenz ist, dass es dann nachts auch weniger Polizei braucht, was wiederum für die Stadt kostengünstiger ist. Zudem haben wir uns für Supporter stark gemacht.
Wie meinen Sie das?
Ich habe in Tokio festgestellt, dass es dort weniger Schlägereien und Lärm gibt, weil es an den Hot Spots der Stadt Supporter gibt, so wie in den Fussballstadien. Leute, die vertrauenswürdig sind, szeneaffin, und die Partybesucher sensibilisieren können. In Tokio fiel mir auch auf, dass die Beleuchtung eine Rolle spielt. Dunkle Ecken auf Plätzen oder Hindernisse sind schlecht, sie können dazu beitragen, dass es zu kriminellen Handlungen kommt.
Sie setzen sich also auch für solche Verbesserungen ein.
Ja. Wir müssen dafür sorgen, dass sich die Leute auf Plätzen zu Hause fühlen. Zu Hause schreien wir ja auch nicht rum, wir tragen Sorge. So ist es auch an einem Festival, dort zerstört niemand mutwillig etwas. Man trägt Sorge, weil man den Anlass gern hat. Dieses Gefühl sollen die Leute auch sonst im Ausgang haben.
Wie wählten Sie eigentlich die zehn Clubs aus, die eine 24-Stunden-Lizenz erhalten?
Die Lage der Clubs spielte eine Rolle, formale Vorgaben mussten erfüllt werden. Und wir legten Wert auf Inhalte: Wir wollten von den Bewerbern wissen, was sie mit ihrer 24-Stunden-Lizenz tun möchten und erwarteten einen Mehrwert. Uns war wichtig, dass es auch Veranstaltungen gab, von denen die anliegende Nachbarschaft profitieren konnte, seien es Kunstausstellungen oder Nachtmärkte. So führt einer der Clubs in seinen Räumen jeweils dienstags Yogakurse durch.
Sie forcierten quasi eine Öffnung der Clubs für andere Spielarten?
Ja, genau. Sodass darin mehr stattfindet als einfach trinken und tanzen. Ich finde das wichtig, auch weil Nightclubs so ihre sozialen Seiten zeigen können.
Das passt ins Bild vom Nachtleben als «seriösem Spielplatz», wie Sie es gerne verwenden. Was meinen Sie damit?
Viele Leute rutschen zufällig ins Geschäft, indem sie Flyers, Plakate oder Websites gestalten, als DJs auflegen oder eine Partyreihe auf die Beine stellen. Was aus kreativen Launen entsteht, kann aber rasch professionell werden – und zu einer Agentur führen, einem kleinen Unternehmen, ohne Businessplan, ohne politisches Know-how, aber mit viel Leidenschaft.
Sie sind also doch Lobbyist.
Aber nicht im klassischen Sinn. Unsere Stiftung sieht sich als Filter für beide Seiten. Wir hören uns nicht nur die Clubbetreiber an, sondern wollen auch immer die andere Seite verstehen. Als es darum ging, die Festivalbewilligungen durchzubringen, haben wir mit den Parteien und Festivalveranstaltern einen Entwurf kreiert. Und diesen so in den Stadtrat eingebracht. Wenn wir Sachen verändern wollen, müssen wir kleine Schritte machen. Wir können nicht alles aufs Mal wollen. Eine 24-Stunden-Bewilligung für alle Clubs, das hätte man nie durchgebracht. Aber mit zehn Bewilligungen können wir jetzt einen Anfang machen und Erfahrungen sammeln.
Wie verhält es sich mit den Anwohnerproblemen?
Erstaunlich ruhig. Sicher auch, weil an die Lizenzvergabe die Bedingung geknüpft war, dass die Clubs schalldicht sind, also nicht grosser Lärm nach aussen dringt.
Alle Clubs sind schalldicht?
Ja, also jene Clubs, die neu gebaut werden. Das gehört zu den Anforderungen. Und erspart Ärger.
Haben Sie auch eine Dezibel-Grenze?
Wenn der Club «soundproof» ist, gibt es da kein Limit. Aber als Clubbetreiber gibt es eigentlich keinen Grund, lauter als 103 zu fahren.
Was schon mal mehr ist, als in Basel erlaubt …
Ich weiss, ich habe erfahren, dass die Limiten in der Schweiz strenger sind. Ich habe auch von dieser Bassbremse gehört. In Amsterdam lautet die Regelung: Auf der anderen Strassenseite darf der Lärm des Clubs vis-à-vis nicht lauter sein als der Verkehr. Bei uns wird nicht in den Nachbarliegenschaften gemessen, sondern bei den Hauswänden. Wenn das in Basel strenger ausgelegt wird, tut mir das natürlich leid.
Wenn schon vom Basler Nachtleben die Rede ist: Haben Sie schon von «Hinterhof» und «Nordstern» gehört?
Ja, die sind bekannt. Freunde von mir haben da schon aufgelegt.
Beide Clubs müssen Ende Jahr schliessen, weil die Gebäude anders gebraucht werden. Offenbar ist es schwer, Ersatz zu finden. Ein Problem, das Ihnen vertraut ist?
Absolut. Die Städte sollten sich in solchen Fällen mitverantwortlich fühlen und auch aktiv um Lösungen bemühen, finde ich. In Amsterdam etwa hat die Stadt dazu beigetragen, dass ein Teil des alten Hafens für die Kreativwirtschaft und das Nachtleben erhalten bleibt.
Ein grosses Thema in Basel sind auch die Bewilligungen. Viele Veranstalter klagen über den Aufwand, bis man alle nötigen Bewilligungen aufgetrieben hat. Wie funktioniert das in Amsterdam?
Wir haben eine zentralisierte Organisation. Wenn einer ein Festival veranstaltet, dann wendet er sich an eine Kontaktperson bei der Stadt, die das Gesuch an die verschiedenen Abteilungen – von Feuerschutz bis Verkehr – weiterleitet.
Das machen nicht Sie?
Nein, das machen Staatsangestellte. Sie unterstützen die Festivalveranstalter darin, nachdem sie die ganzen Pläne und Unterlagen erhalten haben. Wir wünschen uns aber, dass das noch einfacher gehandhabt wird, das ganze Wissen aller Departemente zusammenkommt. Für solche Aspekte unterhalte ich mich auch regelmässig mit dem Bürgermeister von Amsterdam.
Sie haben regelmässig Meetings mit dem Bürgermeister?
Ja, vier- bis fünfmal pro Jahr treffe ich mich mit ihm.
Unterstützt Sie das offizielle Amsterdam auch finanziell?
Ja. Wir werden zur Hälfte von der Stadt Amsterdam getragen.
Hat die Regierung Sie auch schon mal angerufen, um Sie um Rat zu fragen, ein Problem zu lösen?
Ja. Vor einiger Zeit wurde auf Facebook von anonymer Seite ein Rave angekündigt. Unbewilligte Partys auf fünf Bühnen in der Stadt, alle Leute sollten ihre eigenen Drinks mitbringen, 50’000 kündigten per Klick ihre Teilnahme an. Das schrie nach einem Problem für die Behörden, denn als etwas Ähnliches in der kleineren Stadt Groningen stattfand, kam es dort zu grossen Unruhen. Für die Behörden war absehbar, dass auch in Amsterdam Hooligans und Blöcke den Anlass für Keilereien nutzen würden. Also rief man mich an und bat mich, Kontakt aufzunehmen mit den Initianten.
Sie haben zwischen den Veranstaltern der illegalen Party und der Stadt vermittelt?
Ja. Ich brachte alle an einen runden Tisch. Wir konnten ein alternatives Datum und einen alternativen Ort ausserhalb des Stadtzentrums finden. Die Stadt gab sich dafür kompromissbereit und verzichtete auf eine ordentliche Bewilligung. So wurde der Anlass in einem sicheren, noch immer nicht kommerziellen Rahmen durchgeführt.
Im nächsten Jahr läuft Ihre zweite Amtszeit ab. Was machen Sie nachher?
Weiter im Nachtleben. Und wer weiss, vielleicht stelle ich mich bei den nächsten Stadtratswahlen zur Verfügung.