Mutterschaft ist nicht einfach Privatsache, sondern hat eine gesellschaftspolitische und historische Dimension. Das meint der Begriff «Mutterkomplex», der einem Vortrag von Franziska Schutzbach am 23. Oktober im Unternehmen Mitte den Titel gibt.
Frau Schutzbach, in der Ankündigung des Vortrags schreiben Sie, für den Feminismus sei Mutterschaft Zerreissprobe, aber auch Potenzial. Inwiefern?
Mutter zu werden empfinden Frauen oftmals als Zerreissprobe, weil wir immer noch geprägt sind von einem bürgerlichen Mutter-Konzept. Das Bild der idealen Mutter wurde von Männern entworfen, innerhalb des Patriarchats. Das macht es für Frauen immer noch schwierig, eine eigene Idee davon zu entwickeln, was sie unter Muttersein verstehen und wie sie es ausfüllen wollen.
Aber Frauen haben doch die Mutterschaft ausgelebt und so auch mitbestimmt, was Muttersein bedeutet.
Ja. Aber kulturgeschichtlich ist es so, dass über Jahrhunderte hinweg Männer die Deutungshoheit hatten. Bilder wie das der Maria im Christentum sind im Patriarchat entstanden. Oder die Vorstellungen von Jean-Jacques Rousseau, das Bild der selbstlosen, aufopferungsbereiten Mutter, die ihre Bedürfnisse immer hinter die der anderen stellt. Sie hält die Harmonie in der Familie aufrecht und erklärt ihrer Tochter, dass sie ihrem Mann zu gefallen habe und ihm das Leben erleichtern soll.
Heute gibt es verschiedene Entwürfe des Mutterseins.
In der gelebten Praxis gibt es natürlich selbstbestimmte, eigenwillig gelebte Mutterschaft. Ich spreche von den grossen Kultur-Erzählungen, die uns bis heute prägen und uns oft das Leben schwer machen. Mutterschaft ist historisch eine Bühne männlicher Vorstellungen. Nehmen wir die Psychoanalyse, die das Mütterliche nicht nur ins Private verbannt, sondern auch stark abwertet.
Wie das?
Gemäss Freud muss das Kind die Mutter ablehnen, um ein Subjekt zu werden. Das Kind wendet sich dem Vater, dem Männlichen zu, das die weite Welt, eine eigene Identität und gesellschaftlichen Einfluss verspricht. Gemäss Freud hat die Frau also keinen eigenen Subjektstatus. All das macht es bis heute schwierig, eigene Vorstellungen von Mutterschaft oder Frausein zu entwickeln. Genau das versucht der Feminismus. Feminismus bedeutet, traditionelle Rollenbilder und Konzepte zu hinterfragen.
Warum ist das so wichtig?
Weil diese Rollenbilder Frauen in das private Leben verdrängten, sie aus dem politischen Raum verbannten. In einer männerdominierten Gesellschaft wird Macht unter Männern verteilt. Während man der Frau zuschrieb, dass sie fürsorglich ist, für die Harmonie sorgt, sich kümmert.
Heute gibt es auch Frauen auf Chefposten.
In der Schweiz sind es statistisch gesehen sehr wenige. Und 80 Prozent der Haus- und Familienarbeit werden nach wie vor von Frauen gemacht. Wir leben immer noch in einer Gesellschaft, in der vor allem Männer für Kultur und Politik stehen und die Machtpositionen besetzen. Männer halten diese Struktur aufrecht, indem sie sich zum Beispiel stark aufeinander beziehen und untereinander Macht, Ressourcen und Aufmerksamkeit verteilen. Das nennt man in der Soziologie Homosozialität. In der Forschung zum Beispiel zitieren Männer eher Forscher als Forscherinnen.
Warum sollten Forscher im 21. Jahrhundert keine Forscherinnen zitieren?
Das ist keine Absicht, sondern passiert unbewusst. Männer haben gelernt, dass sie Macht und Bedeutung von anderen Männern bekommen, nicht von Frauen. Deshalb beachten Männer eher Männer, fördern Männer usw. Das macht es für Frauen sehr schwierig, da einen Fuss reinzukriegen und sich durchzusetzen. Historisch wurden weibliche Denktraditionen immer wieder unterbrochen, unsichtbar. Weil sie es nicht in den gesellschaftlichen Kanon schafften. Wie es Siri Hustvedt in ihrem Roman «Die gleissende Welt» provokativ formuliert: Die Leute nehmen etwas nur ernst, wenn sie einen Schwanz dahinter vermuten. Viele Frauen schrieben und schreiben deshalb unter männlichem Pseudonym.
«Wenn marginalisierte Gruppen etwas zu melden haben wollen, müssen sie sich an den Mächtigen orientieren.»
Wo zeigt sich die Unsichtbarkeit der Frauen konkret?
Es gibt eine interessante Studie, die das Twitter-Verhalten analysiert hat: Männer retweeten fast nur Männer. Aber es betrifft auch uns Frauen! Wir sind ebenfalls stark männerorientiert. Denn gesellschaftliche Anerkennung und Macht bekommen auch wir von den Männern. Das ist die Tragödie von marginalisierten Gruppen. Sie müssen sich, wenn sie etwas zu melden haben wollen, an denen orientieren, die mächtiger sind als sie selbst.
Mit welchen Folgen?
Es führt zu einer Entsolidarisierung innerhalb marginalisierter Gruppen. Das Dilemma ist: Wenn ich Chefin werden will unter den Prämissen der aktuellen, stark männlich geprägten Verhältnisse, muss ich deren Prämissen nacheifern. Auf diese Weise verändern sich die Verhältnisse kaum. Wobei es auch spannende feministische Ansätze gibt, die beschreiben, dass eine sogenannte «dissidente Partizipation» durchaus möglich ist.
Was würde die Machtverhältnisse verändern?
Wenn Frauen sich mehr aufeinander beziehen würden. Das kann durchaus kritisch sein, es geht nicht um «Friede Freude Eierkuchen» oder eine harmonische Schwesternschaft. Ich kann auch Frauen kritisieren und ihnen dadurch ebenfalls Relevanz geben. Wir müssten versuchen, uns mehr an denen zu orientieren, die weniger Macht haben. Das ist subversiv. Man merkt das, wenn man mal ganz bewusst die inneren Massstäbe verschiebt, zum Beispiel beim Schreiben überlegt: Für wen schreibe ich eigentlich? Möchte ich von Chefredakteur XY retweetet oder gehört werden? Oder schreibe ich für die Transfrau, für Arbeiterfrauen, alleinerziehende Mütter, Menschen mit Migrationshintergrund? Es ist radikal, die inneren Autoritäten kritisch zu hinterfragen und zu verschieben.
Was heisst das für unsere Vorstellungen von Mutterschaft?
Die Massstäbe zu hinterfragen hat auch mein Bild von Mutterschaft verändert. Ich habe angefangen, Tätigkeiten der Fürsorge wertzuschätzen und als elementaren Beitrag zur Gesellschaft ernst zu nehmen. Aber ohne das wiederum zu idealisieren! Es ist eine Gratwanderung. Bei der Idealisierung des sogenannt «Mütterlichen» fällt man genauso schnell in patriarchale Muster, wie wenn man das Mütterliche ablehnt und abwertet.
Sie haben vorhin gesagt, dass es schwierig ist, Mutter zu sein und feministisch zu denken. Wie ging es Ihnen damit, als Sie Ihr erstes Kind bekommen haben?
Das hat mich natürlich sehr beschäftigt, weil ich es genauso erlebt habe, dass ich traditionelle Mutterideale stark internalisiert hatte und mit dem Gefühl konfrontiert war, so und so sein zu müssen. Es war ein Prozess, mich davon zu emanzipieren. Das Dilemma ist wie gesagt: Wenn man das Mütterliche und Hausfrauliche ablehnt, wie es Feministinnen wie etwa Simone de Beauvoir vorschlagen, ist man genauso in der patriarchalen Geschichte gefangen. Wir dürfen auch nicht vergessen, wie vielen Frauen Mutterschaft abgesprochen wird, sie ihnen nicht zugetraut wird. Oder sie machen die Erfahrung, dass ihre Kinder gesellschaftlich nicht gewollt sind.
Wen betrifft das?
Zum Beispiel geflüchtete oder schwarze Frauen. Während es also für privilegierte Frauen oft zur Emanzipation gehört, sich aus traditioneller Mutterschaft zu befreien, ist es für andere Frauen ein Akt der Emanzipation, überhaupt Kinder zu bekommen und das Label Mutter zu beanspruchen. Wichtig für mein eigenes Muttersein war und ist es, Elternschaft mit meinem Partner auszuhandeln. Wir haben inzwischen eine gleichberechtigte Aufteilung von Familien- und Erwerbsarbeit, aber das war nicht von Tag eins an so. Wir mussten erst herausfinden, wie wir es genau machen wollen.
Eine Möglichkeit ist, alle anfallenden Aufgaben aufzuschreiben, auch die scheinbar kleinen, und sie dann verbindlich aufzuteilen.
Das ist bestimmt hilfreich. Entscheidender als die penible Aufteilung und das Stundenzählen ist aber meist die Frage: Wer hat das Organisationsbüro im Kopf? Wer sitzt im Cockpit? Das sind fast immer die Frauen. Und aus der Forschung wissen wir, dass das eine grosse Belastung ist. Frauen sind in der Regel diejenigen, die mit dem Gedanken einschlafen: «Morgen muss ich für die Kinder Hausschuhe kaufen.» Die daran denken, wann der nächste Test geschrieben wird oder der Arztbesuch ansteht, für welchen Kindergeburtstag es noch ein Geschenk braucht und so weiter. Diese Hauptzuständigkeit ist ein mentaler Stress, der zu Erschöpfungssyndromen führt. Väter sind oft ganz gute Assistenten, aber viele sind nicht bereit, wirklich ins Cockpit zu kommen.
«Es geht um Wahlfreiheit. Darum, dass wir nicht vorgegebene Muster erfüllen müssen.»
Woran liegt das?
Man kann das nicht auf einen Faktor zurückführen. Viele Männer sind nicht erpicht darauf, weil es sich um nicht bezahlte, unsichtbare Managementarbeit ohne gesellschaftliches Prestige handelt. Frauen wiederum reissen es oft automatisch an sich. Sie tragen also zu stereotypen Modellen bei. Natürlich hat das viel mit Sozialisierung zu tun. Frauen sind es gewohnt, diese Zuständigkeit zu übernehmen und bekommen dafür ja auch Anerkennung, sie ziehen daraus Identifikation. In einer männerdominierten Welt, die Frauen oft immer noch marginalisiert oder diskriminiert, ist die Familie der Ort, an dem Frauen Macht ausüben können, das ist verführerisch.
Wie war das bei Ihnen?
Für uns war es entscheidend, dass mein Partner mit ins Cockpit kam. Manchmal ist es ein bisschen chaotisch, wenn jeder an alles denkt. Eine klarere Rollenverteilung ist natürlich auch bequem. Aber für mich persönlich ist diese Augenhöhe wichtig, um ein emanzipiertes Leben führen zu können. Wir sind beide Familien-Chefpiloten.
Ich finde das Cockpit ein sehr griffiges Bild. Würden Sie sagen: Das ist ein emanzipatorischer Zugang zum Thema Mutterschaft? Oder geht es Ihnen um die Wahlfreiheit, Mutterschaft auf verschiedene Arten auszuleben?
Politisch gesehen geht es um Wahlfreiheit. Es geht darum, dass wir nicht vorgegebene Muster erfüllen müssen. Dass es möglich ist, eine Mutter zu sein, die Hausfrau ist, aber dass es auch ok ist, alleinerziehend zu sein und nicht so viel Zeit mit den Kindern zu verbringen. Oder in der Patchwork-Familie soziale Mutter zu sein oder gleichgeschlechtliche Elternschaft leben zu können. Es geht um die Ermöglichung von Vielfalt. Ich würde niemanden verurteilen für das selbst gewählte Modell. Oft sind Entscheidungen gesellschaftlichen Zwängen geschuldet. Das traditionelle Einernährer-Modell geht für viele Menschen finanziell gar nicht mehr. Die meisten Mütter sind nicht – wie Konservative oft unterstellen – aus Selbstverwirklichung und Egoismus berufstätig, sondern weil sie zum Familieneinkommen beitragen müssen.
«Das System hat kein Interesse an starken Frauenbeziehungen. Denn diese würden die männliche Ordnung infrage stellen.»
Es wirkt manchmal so, als wäre die Hausfrau neidisch auf die berufstätige Mutter und umgekehrt. Im Sinne des Feminismus wäre es doch besser, Frauen würden sich gegenseitig unterstützen, egal, welches Modell sie leben.
Ja, die Spaltung unter Frauen ist etwas, das sich durch die patriarchale Geschichte zieht. Dagegen sollten wir kämpfen. Die Weitergabe von Macht und Besitz findet bis heute stark unter Männern statt. Es ist, überspitzt formuliert, im Interesse dieses Systems, dass es keine starken Frauenbeziehungen gibt. Denn diese würden die männliche Ordnung infrage stellen. In der Mainstream-Kultur – in Märchen, Mythologie, Literatur, Religion, auch im Film – gibt es entsprechend kaum Darstellungen von positiven Frauenbeziehungen, keine Darstellungen von gelingenden Mutter-Tochter-Beziehungen.
Es fehlen also Identifikationsfiguren für Frauen, Mütter und Töchter?
Ja, es ist dramatisch! Gleichwohl gibt es einige Ausnahmen: Erzählungen über starke Frauen und Frauenbeziehungen.
Welche sind das?
Der Pixar-Film «Merida» zeigt eine Mutter-Tochter-Beziehung als Hauptplot. In diesem Animationsfilm versteht die Mutter irgendwann, dass ihr die Beziehung zur Tochter wichtiger ist als die Frage, wen diese heiratet. Am Schluss des Films gehen beide Frauen auf Augenhöhe und als Subjekte dem Sonnenuntergang entgegen. Es ist zum Heulen schön, weil es das sonst nicht gibt. Auch in der griechischen Mythologie gibt es eine positive Darstellung einer Mutter-Tochter-Beziehung: die zwischen der Fruchtbarkeitsgöttin Demeter und ihrer Tochter Persephone. Die Tochter wird von Hades in die Unterwelt entführt. Schliesslich macht Demeter mit Hades den Deal, dass Persephone ein halbes Jahr in der Unterwelt lebt und das andere halbe Jahr mit ihrer Mutter auf der Erde. Immer wenn sie in der Unterwelt ist, dann ist Winter, und wenn sie bei ihrer Mutter ist, dann ist Frühling und Sommer.
Eine aussergewöhnliche Geschichte.
Ja, und sie besagt: Wenn Frauen in Beziehung zueinander stehen, dann blüht die Welt.
«Mutterkomplex»: Vortrag von Franziska Schutzbach, 23. Oktober, 20 Uhr, Unternehmen Mitte.
Im November erscheint im Xanthippe Verlag Franziska Schutzbachs Buch: «Die Rhetorik der Rechten. Rechtspopulistische Diskursstrategien im Überblick».