Der Politologe Dominique Moïsi glaubt nicht an die Radikalisierung des Islam, vielmehr werde die Radikalität islamisiert. Um Kriminellen den Nährboden zu entziehen, darf der Staat aber nicht nur durchgreifen, er muss auch dem Gebot der Brüderlichkeit nachleben.
Dominique Moïsi (69) ist einer der bekanntesten Politologen Frankreichs. Der Spezialberater des französischen Institutes für internationale Beziehungen (IFRI) war Professor an der Pariser Elite-Uni Sciences Po sowie in Harvard. Auf Deutsch erschien von ihm zuletzt «Kampf der Emotionen: Wie Kulturen der Angst, Demütigung und Hoffnung die Weltpolitik bestimmen».
Herr Moïsi, Terroranschläge noch und noch, Vormarsch des Front National: Was ist mit Frankreich los?
Dass Frankreich 2015 Schauplatz mehrerer Terrorangriffe von «Charlie Hebdo» bis «Bataclan» wurde, hat zwei Gründe. Von den EU-Staaten kämpft Frankreich heute fast allein in Irak, Syrien und Afrika. Der französische Flugzeugträger Charles de Gaulle im östlichen Mittelmeer hat dabei nicht nur symbolische, sondern auch operative Schlagkraft, trug doch seine Luftwaffe zum Fall der IS-Hochburg Ramadi bei. Dazu kommt das Gewicht der französischen Geschichte – der unverdaute Algerienkrieg, die ungelöste Integration der nordafrikanischen Zuwanderer, die Banlieue-Zonen, die der republikanischen Kontrolle entgleiten.
Und davon profitiert der Front National?
Durchaus, obschon sein Vormarsch natürlich schon früher begann. Sein Erfolg bei den jüngsten Regionalwahlen im Dezember muss zudem relativiert werden: Auch wenn erstmals fast sieben Millionen Franzosen den Front National gewählt haben, eroberte die Partei im zweiten Wahlgang keinen einzigen Regionalrat. Die Partei lebt von den Ängsten in der Bevölkerung, macht aber den Franzosen selber Angst.
Vor einem Jahr demonstrierten in Paris Millionen zum Slogan «Je suis Charlie». Was wurde aus diesem Solidaritätsgefühl?
Das war ein kurzer, fast magischer Moment, der nicht von Dauer sein konnte. Die Franzosen mögen und brauchen solche Zelebrationen, die sehr schön sind, aber auch etwas künstlich wirken.
Die Franzosen fragen sich: Gibt es so etwas wie einen Attentatsrhythmus?
Solche Anschläge erfolgen oft nach militärischen IS-Niederlagen auf dem Feld. Nach dem Fall von Kobane in Nordsyrien kam es zu Terrorattacken in Istanbul, Beirut, dann Paris. Man kann sich fragen, ob der Fall von Ramadi eine neue Anschlagsserie auslösen wird. Die IS-Chefs wollen in ihrem psychologischen Krieg beweisen, dass sie brandgefährlich bleiben. Damit versuchen sie nicht zuletzt, neue Mitstreiter im Mittleren Osten, Nordafrika und auch Europa zu mobilisieren.
«Eine Kultur der Gewalt hat keinen Erfolg – auch in Syrien und Irak ist der IS zum Scheitern verurteilt.»
Welche Rolle spielt dabei der Islam?
Viele sagen, der IS radikalisiere den Islam. Ich glaube im Gegenteil an eine «Islamisierung der Radikalität». Mehrere Studien zeigen, dass die jungen Jihadisten den Islam kaum kennen; sie interessiert einzig die Gewalt. Sie sind näher bei «Clockwork Orange» von Stanley Kubrik als beim Koran. Diese Kultur der extremen Gewalt nährt sich in den europäischen Vorstädten vom allgemeinen Gefühl der Entfremdung, der Zurückweisung und Erniedrigung. Erfolg kann eine solche Kultur trotzdem nicht haben. Auch in Syrien und Irak ist der IS auf Dauer zum Scheitern verurteilt.
Die explosive Lage in den Pariser Vorstädten wird aber andauern. Was ist dagegen zu tun?
In einer ersten Phase ist auf jeden Fall mehr Entschiedenheit und Autorität nötig. Der Staat muss alle Zonen dem Drogenhandel und anderen Kriminellen entreissen und sie unter seine Kontrolle bringen. Mittelfristig muss der Staat aber auch dem Gebot der Brüderlichkeit nachleben, die Schulen fördern, um diesen Territorien wieder eine Zukunft zu geben – und die massive Jugendarbeitslosigkeit bekämpfen, die in Frankreich ein regelrechtes Krebsgeschwür ist.
Und die auch den Front National nährt?
Auf jeden Fall. Gerade bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sagen sich heute viele Franzosen, sie hätten es schon mit der Linken wie mit der Rechten versucht; jetzt wollen sie Marine Le Pen eine Chance geben. Obwohl sie meist nur abstruse Rezepte hat.
Sind Populisten à la Le Pen ein europäisches Phänomen?
Man muss unterscheiden zwischen Ost- und Westeuropa. Der Osten hat wenig Erfahrung mit der demokratischen Kultur. Das führt zu Reaktionen wie in Ungarn. Die Lage in Polen halte ich, was die Durchdringung der Gesellschaft durch diese Kräfte anbelangt, für noch beunruhigender als die in Frankreich.
«Verglichen mit der aktuellen Stärke Deutschlands fällt die Mittelmässigkeit Frankreichs nur noch mehr auf.»
Frankreich scheint allerdings blockierter und damit anfälliger als etwa Deutschland.
Ja, der Unterschied ist frappant. Deutschland hat in Angela Merkel eine richtige Leaderin, die auch Risiken eingeht, dazu eine erfolgreiche Wirtschaft; und jetzt wird es auch noch zu einem moralischen Modell. Natürlich gibt es auch in Deutschland Probleme. Aber verglichen mit der aktuellen Stärke Deutschlands fällt die gegenwärtige Mittelmässigkeit Frankreichs nur noch mehr auf.
Auch in Sachen Flüchtlinge ist das frühere Asylland Frankreich viel zögerlicher.
Gewiss. Ja, und auch dafür ist die Wirtschaftslage mit der hohen Jugend- und sonstigen Arbeitslosigkeit ein wichtiger Grund.
Wie weit können sich der Front National und seine Ideologie in Frankreich noch ausbreiten?
Ich denke, die Mehrheit der Franzosen wird widerstehen. Einzelne Politiker etablierter Parteien versuchen zwar, diese Ideen zu übernehmen, so etwa Nicolas Sarkozy. Mit diesem Kurs wird er aber heute ausserhalb und zum Teil auch innerhalb seiner Partei immer unpopulärer. Ganz anders sein konservativer Parteifreund Alain Juppé, der sich gegenüber den Ideen des Front National viel resistenter und reservierter zeigt. Nicht von ungefähr erfreut er sich in Frankreich höchster Beliebtheit.
Wird Juppé 2017 der nächste Präsident Frankreichs?
Er hat reelle Chancen wegen der allgemeinen Angst vor Marine Le Pen und wegen der Enttäuschung über Nicolas Sarkozy und François Hollande. Eine solche Negativwahl hat aber in Frankreich noch nie zum Sieg gereicht; Juppé wird in diesem Jahr beweisen müssen, dass er trotz seines hohen Alters (70, die Red.) und seines kühlen Temperamentes in der Lage ist, die Franzosen zu begeistern. Nachdem ich die Delegation von Angela Merkel auf ihrer letzten China-Reise begleitet habe, weiss ich jedenfalls, dass die deutsche Regierung von einem Präsidenten Juppé begeistert wäre.