«Nirgendwo sind die Eliten so verblendet»

Der indische, in London lebende Schriftsteller Pankaj Mishra, dessen neues Buch «Das Zeitalter des Zorns» diese Woche auf Deutsch erscheint, spricht über Jeremy Corbyn, Brexit und die britische Obsession mit dem Empire.

Die Entwicklung kurz und knapp: Margaret Thatchers Tories und Tony Blairs New Labour haben Theresa May eine neoliberale Suppe eingebrockt, die nun Jeremy Corbyn nach oben geschwemmt hat.

Der indische, in London lebende Schriftsteller Pankaj Mishra, dessen neues Buch «Das Zeitalter des Zorns» diese Woche auf Deutsch erscheint, spricht über Jeremy Corbyn, Brexit und die britische Obsession mit dem Empire.

Pankaj Mishra, letzten Sommer feierten die Rechtspopulisten das Brexit-Votum und vergangene Woche sorgte der linke Labour-Chef Jeremy Corbyn mit seinem Wahlerfolg für Überraschung. Wie passen diese beiden Ereignisse zusammen?

Beide sind ein Ausdruck derselben Unzufriedenheit, die der Neoliberalismus anglo-amerikanischer Prägung verursacht hat. Die Wirtschaftspolitik, die in Grossbritannien und in den USA entwickelt und dann in andere Länder exportiert wurde – die Vorherrschaft des Marktes, die Abschaffung des Sozialstaats, die Senkung der öffentlichen Ausgaben –, hat viele Menschen in einen Zustand der Verzweiflung gestürzt. Jetzt sehen wir diese Gegenreaktion: Der Brexit war ein Ausdruck dieser Unzufriedenheit und der Aufstieg Corbyns ein anderer.

Sind die beiden nicht grundverschieden?

Doch, das sind sie natürlich. Beim EU-Referendum vermochten prinzipienlose Politiker die Ängste und Unsicherheiten vieler Menschen in diesem Land auszunutzen, indem sie Bürokraten in Brüssel für alles verantwortlich machten. Sie behalfen sich mit offensichtlichen Lügen, etwa dass Einwanderer die Gesellschaft und Kultur zerstörten oder dass uns Brüssel Milliarden von Pfund wegnehme, die wir für den Gesundheitsdienst ausgeben könnten. So konnten sie viele britische Wähler überzeugen.

Und was hat sich seit 2016 geändert?

Seither hat sich bei vielen Leuten die Ansicht durchgesetzt, dass nicht die EU die Ursache ihrer Probleme ist – obwohl die EU ein problematisches Gebilde ist – , sondern vielmehr die Sparpolitik der konservativen Regierung und, in einem allgemeineren Sinn, die neoliberale Wirtschaftspolitik, die mit Margaret Thatcher begann und unter Tony Blair fortgeführt wurde.

 

epa04122138 Indian publisher Pankaj Mishra attends the opening ceremony of the Leipzig Book Fair at the Gewandhaus in Leipzig, Germany, 12 March 2014. Mishra will recieve the Book Prize for European Understanding at the event. The book fair runs until 16 March. EPA/HENDRIK SCHMIDT

«Identität, Gemeinschaft, ein Gefühl der Zugehörigkeit – alle diese Dinge hat der neoliberale Individualismus beiseite gefegt.» (Bild: HENDRIK SCHMIDT)

Corbyn bietet also eine Alternative zur «zornigen» Reaktion auf die Verwerfungen des neoliberalen Zeitalters, die Sie in Ihrem Buch beschreiben – das Wiedererstarken des Nationalismus, die Wahl Donald Trumps, den Nihilismus der Islamisten…

Genau. Das Problem, das ich im Buch beschreibe, ergibt sich aus der Tatsache, dass es keine Alternative gibt zur aggressiven, entwurzelten Ideologie der Anhäufung privaten Reichtums.

Können Sie das erläutern?

Die historische Rolle des Sozialismus bestand lange Zeit darin, die Konsequenzen des Kapitalismus zu mildern und den Menschen ein mögliches gesellschaftliches Gegenmodell zu bieten. Mit der Delegitimierung des Sozialismus in den vergangenen drei Jahrzehnten ist diese Alternative verschwunden, und dies hat den Leuten die Hoffnung geraubt. So sehen wir eine trostlose Landschaft, in der der neoliberale Individualismus die sozialen Bindungen ausgehöhlt hat. Identität, Gemeinschaft, ein Gefühl der Zugehörigkeit – alle diese Dinge, die der Mensch braucht, um ein erfülltes Leben zu führen, sind beiseite gefegt worden.

Was kam stattdessen?

An ihre Stelle ist die Vorstellung getreten, dass die Gesellschaft ein Markt ist und die Menschen lediglich als Konsumenten und Wettbewerbsteilnehmer auftreten. Das war der destruktivste Aspekt der vergangenen dreissig Jahre: Er hat zu einer Situation wie in einem Dampfkochtopf geführt. Wut und die politische Unzufriedenheit haben sich angestaut, und Demagogen wissen sie auszunutzen. 

Und der Aufstieg der Linken hat wie ein Ventil gewirkt?

Ja. Erst als die Linke sich zu behaupten begann, etwa mit Jeremy Corbyn oder mit Bernie Sanders in den USA, und auch mit den Parteien Syriza in Griechenland oder Podemos in Spanien, haben wir einen Gegenangriff erlebt. Das hat die Möglichkeit eröffnet, das Aufbegehren gegen den Neoliberalismus in eine andere Richtung zu lenken. Und Politiker wie Corbyn oder Sanders bieten zudem eine fundierte Kritik der vorhergehenden Jahrzehnte. Hier in Grossbritannien präsentierten die Tories ein Wahlprogramm, das zwar den «eigennützigen Individualismus» verurteilte, das jedoch mit keinem Wort erwähnte, woher dieses Dogma kam.

Und woher kam es?

Na ja, wer war denn verantwortlich für den eigennützigen Individualismus? Margaret Thatcher und Tony Blair. Die Konservativen können also nicht zugeben, dass sie es waren, die diese Politik forciert haben. Ihrer Kritik an der Wirtschaftspolitik, die so viele Menschen als erdrückend empfinden, sind also Grenzen gesetzt. Nur die Linke kann diese Kritik weiterführen. Und genau das haben Jeremy Corbyn und Bernie Sanders getan. 

«Empire-Nostalgie ist der erbärmlichste und traurigste Aspekt Grossbritanniens, und sie sorgt dafür, dass die Eliten in diesem Land die am meisten verblendeten in ganz Europa sind.»

Weshalb halten so viele Politiker, Kommentatoren und Akademiker dennoch an der Idee der Vorzüge der neoliberalen Wirtschaftspolitik fest?

Wir sind alle Kinder unserer Zeit. Viele Leute, die heute in den Medien und in der Politik tätig sind, wuchsen in einer Ära auf, in der die staatlich kontrollierten Volkswirtschaften eine Krise durchlebten, nämlich in den 1970er-Jahren. Gleichzeitig zeigten der Ostblock und die Sowjetunion die Grenzen der staatlichen Planung auf. Diese Leute erlebten ihr politisches Erwachen zur Zeit, als der Ostblock zusammenbrach – ich verallgemeinere hier ein wenig. Diese Generation erlebte Individualismus, freie Märkte und den globalen Kapitalismus als perfekte Alternative zur vorhergehenden Politik.

Und heute sollen sie nicht mehr davon abrücken?

Jemand wie Corbyn erinnert diese Leute zu stark an die gescheiterte Politik der 1970er-Jahre. Sie begreifen nicht, dass es ihre eigene Politik des Neoliberalismus ist, die gescheitert ist. Corbyns politisches Programm, mit dem er diese Verfehlungen zu korrigieren versucht, mag sich gewisser Ideale aus der Vergangenheit bedienen: etwa des Wohlfahrtsstaats, der kollektiven Verantwortung, des gegenseitigen Vertrauens innerhalb der Gesellschaft – alle diese Dinge, auf die er Wert legt. Das stellt jedoch keine Rückkehr in die Siebziger dar. Corbyn schlägt lediglich vor, beispielsweise die Privatisierung der Eisenbahn – ein durchschlagender Misserfolg – rückgängig zu machen. Sein Programm ist keineswegs radikal. 

Nach den Terroranschlägen von Manchester und London forderte Corbyn auch ein Umdenken in der britischen Aussenpolitik, etwa ein Ende der «liberalen Intervention». Vom Establishment wurde er dafür kritisiert, aber laut Umfragen stimmen ihm viele Briten zu. 

Ich glaube, dass viele Menschen erschöpft sind von der Rhetorik der Politiker, laut der wir in erster Linie die islamistische Ideologie bekämpfen müssen. Nach jedem grösseren Terroranschlag hört man die gleichen Plattitüden: Die Regeln müssen sich ändern, genug ist genug, und so weiter. Die Öffentlichkeit sieht, dass diese Politik auf katastrophale Weise gescheitert ist. Sie hat unser Leben sicherer gemacht – im Gegenteil. Und so ziehen viele Leute jetzt die Möglichkeit in Betracht, dass die Interventionen Grossbritanniens in Ländern, in denen wir nichts zu suchen hatten, zumindest teilweise verantwortlich sind für den Terrorismus. Ich spreche etwa vom Irak oder Libyen.

Grossbritanniens Erbe reicht aber noch weiter zurück.

Genau. Dazu kommen die historischen Verbrechen Grossbritanniens in verschiedenen Teilen der Welt, die viele Gesellschaften in Afrika, Asien und im Nahen Osten zerstört haben. Der Imperialismus war für diese Länder ein solch schwerer Schlag, dass sie sich davon bisher nicht erholt haben. Aber die Art und Weise, wie man in Grossbritannien über das Britische Weltreich spricht, und wie es in der Schule unterrichtet wird, hat ein Verständnis dieser Zusammenhänge erschwert.

Die Empire-Nostalgie, das zeigte auch das Brexit-Votum, hat sich in den vergangenen Jahren wieder stärker bemerkbar gemacht.

Empire-Nostalgie ist der erbärmlichste und traurigste Aspekt Grossbritanniens, und sie sorgt dafür, dass die Eliten in diesem Land die am meisten verblendeten in ganz Europa sind. Ich halte diese Mentalität für enorm einflussreich, und sie bestimmt das Denken der Menschen hier in einem absurden Ausmass. Das Selbstwertgefühl Grossbritanniens ist abhängig von der Tatsache, dass das Land einst ein Empire hatte. Auch der Brexit wurde von der imperialen Fantasie angeheizt, von der Vorstellung, dass wir die Europäer nicht brauchen, dass wir es allein schaffen können – schliesslich regierten wir einst den ganzen Erdball. Theresa Mays erste Regierungsreise führte sie beispielsweise nach Indien [Die vormals wichtigste Kolonie, Anm. d. Red]. Sie hatte das Gefühl, eine Art «Empire 2.0» errichten zu können. Kein anderes Land in Europa leidet an einer solchen Verblendung.

«Grossbritannien ist ein Opfer seines eigenen Grössenwahns.»

Warum nicht?

Deutschland hat sich mit seinen historischen Verbrechen auseinandergesetzt und sie zur Kenntnis genommen, und das war etwas vom Wichtigsten, was das Land getan hat. Die Folge ist, dass sich die Deutschen keine Illusionen machen bezüglich ihrer Rolle in der Welt – sie sind möglicherweise sogar zu zurückhaltend. Grossbritannien hingegen ist ein Opfer seines eigenen Grössenwahns, und das haben wir in den letzten Jahren gesehen. 

Ihr Buch ist sehr pessimistisch. Worin sehen Sie nebst dem jüngsten Erfolg der Linken in Grossbritannien positive Entwicklungen?

Dass junge Menschen anfangen, sich politisch zu engagieren, ist das einzig Positive, das ich derzeit ausmachen kann. Wir sehen eine junge Generation, die die Welt in ihrem heutigen Zustand betrachtet und sich nicht damit zufrieden gibt. Die vorhergehende Generation – zu der auch ich gehöre – hat es nicht nicht geschafft, mit dem Chaos fertigzuwerden, das in der Welt entstanden ist. Und heute sind es Leute in ihren Zwanzigern und Dreissigern, die politisiert werden.

Was unterscheidet sie von der älteren Generation?

Sie haben 15 Jahre des Kriegs gegen den Terror erlebt, sie haben die Wirtschaftskrise durchlebt und sehen einer unsicheren Zukunft entgegen. Und sie beginnen, einen Neuanfang zu fordern. Was hingegen die etablierten Politiker und Medien betrifft, so mache ich mir überhaupt keine Hoffnungen. Sie werden sich kaum von ihren eigenen Illusionen lösen können. Ein paar Tage lang werden sie zugeben, dass sie sich in Corbyn getäuscht haben, und dann werden sie wieder zum Angriff übergehen. 

Pankaj Mishra wurde 1969 in Jhansi im indischen Bundesstaat Uttar Pradesh geboren und lebt mehrheitlich in London. In seinem Buch «Das Zeitalter des Zorns» macht er sich auf die Suche nach den Hintergründen einer Reihe von Phänomenen, die in den vergangenen Jahren in der Weltpolitik für Aufsehen – und Verblüffen – gesorgt haben: die Wahl Donald Trumps, das Brexit-Votum der Briten, die Wahl des Hindunationalisten Narendra Modi, der erstarkende Rechtsnationalismus in weiten Teilen Europas und der Aufstieg des sogenannten Islamischen Staats.
Mishra sieht alle diese Entwicklungen als Folge einer Modernisierung, bei der Individualismus, Wettbewerbszwänge und neoliberaler Kapitalismus zu den bestimmenden Kräften geworden sind – und Millionen von Menschen verunsichert und entwurzelt haben. Er zieht Parallelen zur Zeit der Aufklärung, als Modernisierung, Rationalismus und die Kommerzialisierung der Gesellschaft eine ähnliche Gegenreaktion provozierten.

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