Das Ja zum Energiegesetz hat die Schweizer Atomkraft-Befürworter erst recht mobilisiert, warnt Grossrat Rudolf Rechsteiner im grossen TagesWoche-Interview.
Herr Rechsteiner, das Energiegesetz (EnG) wurde vom Volk deutlich angenommen. Sind Sie zufrieden?
Ja, ich bin einerseits sehr zufrieden. Die Angst, die die Gegner gezielt geschürt haben, hat diesmal nicht gesiegt. Das Resultat hat meine Erwartungen übertroffen: 58 Prozent – das ist kein Zufall, sondern ein klares Bekenntnis zu den neuen Technologien.
Einerseits? Gibt es denn Gründe, nicht zufrieden zu sein?
Die Vorlage hat wichtige Themen ausgespart. Der Elefant im Wohnzimmer, wenn Sie so wollen, das sind die defizitären Schweizer Atomkraftwerke. Die Atomlobby macht nun Jagd auf Subventionen.
Aber AKW werden doch keine neuen mehr gebaut. Das verbietet das EnG.
Schon. Aber die bestehenden AKW sind ja nicht einfach verschwunden. Die Millionen-Kampagne der SVP verfolgte einen Zweck: Die immer wiederkehrende Behauptung, nur Atomkraftwerke könnten die Versorgungssicherheit garantieren, es fehle an Winterstrom usw.; es gab eine gewisse Unsicherheit, ob die Stimmenden auf diese Angstmacherei hereinfallen.
Aber dann ist doch jetzt alles gut? Oder wo liegt das Problem?
Axpo und Alpiq machen bei den jetzigen Strompreisen etwa eine halbe Milliarde Franken Verlust pro Jahr. Die beiden Konzerne wollen nun selber Hilfe vom Bund. Deshalb geht die Diffamierung der erneuerbaren Energien als «Subventionsnehmer» ungebremst weiter, so etwa nach dem Motto «wir wollen gleiches (Un-)Recht».
Aber die Rhetorik hat doch nichts bewirkt. Der Elefant steht obsolet im Raum herum.
Die Erneuerbaren wären jetzt bereit für eine Expansion zu sehr tiefen Kosten. Aber – das sieht man schon an den tiefen Richtwerten im Gesetz – es wird weiter blockiert; das Geld reicht ja nicht einmal, um die alten Projekte auf der Warteliste des Bundes zu realisieren.
Die Stromüberschüsse aus Wasserkraft würden im Sommer nach Norden verkauft, genau dann, wenn an der Nordsee normalerweise Flaute herrscht. Man nennt das ökonomisch «Nutzung der Standortvorteile», und keines der beteiligten Länder bräuchte sich zu schämen, wenn es seine Trümpfe ausspielen könnte.
Wenn es so am einfachsten ginge: Warum macht man das nicht?
Viele Verteilnetzbetreiber tun das ja schon. Die Industriellen Werke Basel (IWB) managen Hunderte von Windturbinen von Basel aus und Solarfarmen dazu, und Basel-Stadt ist nicht allein. Das Problem bleibt der Elefant im Raum und seine unbezahlten Altlasten. Die Atomlobby versucht auch nach verlorener Volksabstimmung unverdrossen, das Parlament in Hypnose zu versetzen, indem sie behauptet, nur Schweizer Atomstrom könne klimaschädlichen Strom verhindern. Das ist natürlich Unsinn, aber die Botschaft wird in Bern gerne gehört.
Hypnose? Und warum wird das gerne gehört?
Die Irreführung beginnt bei den Kosten. Die Atomdefizite will man der Wasserkraft unterjubeln, das Ganze verpackt als «Klimaschutz» – ein Riesenblödsinn! Die Beiträge der AKW-Betreiber an die Entsorgungskosten wurden auf Basis einer mehr als dubiosen Kalkulation mehr als halbiert und der Bundeskasse anheimgestellt. Die Axpo hofft wohl, mit ein paar dicken Parteispenden an SVP, FDP und CVP für ihre dicken Lügen von Kostendeckung und Klimaschutz nochmals für 20 bis 30 Jahre eine Mehrheit zu finden, die das glaubt. Und sie hat dafür einen perfiden Plan.
Einen perfiden Plan? Damit alle weiterhin für AKW bezahlen? Wie bitte soll das gehen?
Ich habe mich umgehört. Der Plan segelt unter dem schönen Etikett «Dreckstromabgabe»: Das CO2-Gesetz wird 2019 revidiert. Dieses Gesetz soll dann als Kuckucksnest dienen, um die defizitären Atomkraftwerke zu finanzieren. Die Verteilnetzbetreiber sollen gezwungen werden, Atomstrom zu kaufen – und um eine Mehrheit zu bekommen, verspricht man den Gebirgskantonen, die Wasserzinsen nicht anzurühren.
Damit kommen sie doch nicht durch?
Da wäre ich mir nicht so sicher. Die Axpo hat auf dem Papier, das mir vorliegt, bereits Alpiq, die Luzerner CKW sowie die Bündner, Tessiner und Walliser Kraftwerke an Bord.
Es sollte doch trotzdem ein Leichtes sein, das zu stoppen, nicht?
Das werden wir sehen. Die Umweltorganisationen sollten nun klare Signale abgeben: Ja zum Erhalt der Wasserzinsen, Nein zu jeglicher Finanzhilfe für Atomkraftwerke. Sonst kommen sie in ein Dilemma: Die CO2-Abgabe muss weitergeführt und erhöht werden. Die Verknüpfung mit der Atomförderung wäre natürlich für die meisten ein No-Go. Eigentlich dachte man, die Wasserzins-Sache sei mit den Anträgen der Urek unter Dach und Fach. Aber nun kommt FDP-Vize-Präsident Christian Wasserfallen – er will das Fördermodell des Urek zurückweisen. Und die Rückstufung wird dazu dienen, die Gebirgskantone zu erpressen und den gebundenen Kleinkunden auch in Zukunft möglichst viel teuren Atomstrom in ihrem Versorgungsmix beizumischen. Sie können ja den Lieferanten nicht wechseln. Was ich nicht verstehe ist, weshalb die bürgerlichen Parlamentarier aus den Gebirgskantonen für Wasserfallen stimmen und damit auf eigene Kosten die Atomenergie retten wollen.
Aber was Wasserfallen da anfängt, das will doch am Ende niemand? Wer will schon unfreiwillig für überteuerten Atomstrom bezahlen?
Viele Endverbraucher erhalten heute schon unfreiwillig Atomstrom. Alpiq und Axpo haben noch immer grosse Abnahmeverträge in der Schweiz, zum Teil auch Verträge der Tochterunternehmen wie den Zentralschweizerischen Kraftwerken (CKW) oder in Baselland EBL und EBM. Erst recht die BKW. Sie verkauft den teuersten Strom der Schweiz, belastet den kleinen Kunden für Strom aus Mühleberg Preise bis zu 15 Rappen, während man den kleinen Solar-Einspeisern im Kanton Bern nur 4 Rappen bezahlt.
Müsste nicht die ElCom diese Tarife korrigieren?
Ja, die Frage stellt sich wirklich. Auf jeden Fall gibt es keinen Grund, die Wasserzinsen zu kürzen. Axpo und Alpiq legen die Gestehungskosten und die Gewinnverwendung aus den Wasserkraftwerken nicht offen. So bleiben die Quersubventionen für die Kernenergie im Dunkeln. Und es gibt Seilschaften mit den Verteilnetzbetreibern, die den teuren Atomstrom willentlich den Kleinkunden unterjubeln, damit die billige Wasserkraft am Markt verkauft werden kann. Deshalb der Widerstand von Wasserfallen gegen den Antrag der Urek. Man will um jeden Preis verhindern, dass die kleinen Kunden nur noch den billigeren, sauberen Strom erhalten und die Wasserzinsen im Trockenen sind.
Okay. Aber wenn man das nicht will: Was kann man tun?
Wachsam sein. Die Atomkraftwerke dürfen keine Subventionen erhalten, hier muss sich eine neue Allianz formieren, die wenn nötig das Referendum ergreift. Die NZZ und die Atomlobby sprechen ja nicht von Subventionen, sondern von «neuem Marktdesign» oder von «Kapazitätsmärkten».
«Die Zukunft der Wasserkraft beginnt erst, wenn die Kernenergie endlich verschwunden ist.»
Wichtig ist, dass man sich bewusst ist, dass die Wasserkraft entgegen allen Behauptungen die billigste einheimische Energie ist. Sie kostet im Durchschnitt unter 5 Rp/kWh und wird für 8 Rp/kWh an die Kleinkunden verkauft. Es sind die AKW, die keinen Abnehmer mehr finden. Sie decken nicht mal ihre laufenden Kosten. Je länger sie laufen, desto höher wird der ungedeckte Schuldenberg. Die Kosten werden in den Buchhaltungen säuberlich versteckt.
Wie versteckt?
Man betitelt die Unterhaltskosten als «Nachrüstung» und aktiviert sie buchhalterisch als Investition. Es ist wie bei einem Auto, das 40 Jahre alt ist und längst auf den Schrottplatz gehört. Dann müssen sie neue Winterpneus kaufen. Die verbuchen diese nicht als Verbrauchsausgabe, sondern als Investition und geben vor, das Auto habe dank der neuen Pneus mehr Wert. Dabei bleibt der Wagen defizitär, alle Neuwagen laufen billiger, niemand kauft Ihnen den wertlosen Schrott ab, egal, wie viel Reparaturen Sie nachholen. Je länger es dauert, desto mehr teure Teile müssen Sie nachrüsten. In diesem Sinne betrügen die AKW-Betreiber Parlament und Öffentlichkeit. Ich habe das zusammen mit dem Finanzexperten Kaspar Müller in einer 100-seitigen Studie dargelegt.
Das mag ja alles zutreffen. Aber das Wissen allein wird bei den derzeitigen politischen Mehrheitsverhältnissen im Parlament kaum ausreichen, um da Gegensteuer zu geben.
Wichtig ist, dass man einen Kaufzwang für Atomstrom ebenso verhindert wie neue Subventionen. Solche Lösungen muss man per Referendum angreifen, in welchem Gesetzespaket auch immer: Das müssen die Umweltverbände schon bald klarmachen. Das zweite ist, dass man sagt: Man steht zur Wasserkraft, und die Wasserzinsen sind angesichts der günstigen Gestehungskosten nach wie vor berechtigt. Die Zukunft der Wasserkraft beginnt erst, wenn die Kernenergie endlich verschwunden ist.
Woran denken Sie konkret?
Ich würde vorschlagen, dass die Schweiz eine strategische Reserve schafft, aus Speicherwasser. Die Idee ist, dass man die Stauseen nicht dann leert, wenn der Preis am höchsten ist, damit in kalten Perioden im Winter immer genug Strom da ist, damit das System einige Wochen lang auch ohne Auslandlieferungen autonom betrieben werden kann. Das ist wichtig, wenn zum Beispiel in Frankreich ein Atomunfall passieren sollte, mit anschliessender Serienstilllegung wie in Japan. Diese strategische Reserve müsste man angemessen entschädigen.
Bliebe damit nicht einfach alles wie vorher?
Nein, überhaupt nicht. Man nennt das Kapazitätsmarkt. Die BKW hat das als Erste vorgeschlagen. Allerdings versuchen auch die Kernkraftwerke unter diesem Begriff, Geld zu erhalten, indem man die Konditionen einer Abgeltung auf ganz enge Tatbestände beschränkt, die auf Atomkraftwerke zugeschnitten sind, zum Beispiel «permanente Produktionsfähigkeit einer Kraftwerksleistung (MW) über eine Zeitdauer von mindestens x (z.B. 10) Tagen im April». Wird das Modell so konstruiert, erhalten Atomkraftwerke finanzielle Zulagen, die Fotovoltaik ginge dann leer aus. Mir schwebt etwas anderes vor.
Und zwar?
Das neue Energiegesetz sieht vor, dass ab 2023 ein marktnahes Modell gelten soll. Mir schwebt vor, dass dann neue Verträge ausgeschrieben werden. Solche Bezugsverträge sind in den USA längst üblich, das ist freier Markt in Reinform. Wenn man in den Bergen dann dank der Strategischen Speicherwasserreserve immer genügend Energie vorhält, damit man ganzjährig vier Wochen durchhält, dann kann man so viel günstige Wind- und Sonnenenergie produzieren wie man will, und man kann einen Teil davon auch importieren, zu sehr tiefen Kosten, wenn es sich um zyklisch auftretende Stromüberschüsse handelt. Die Zeitphasen, in denen Stromüberschüsse auftreten, nehmen dank dem Ausbau der erneuerbaren Energien in Europa massiv zu. Dank der Strategischen Reserve könnte man etwa ein Sechstel nahezu gratis aus dem Ausland holen – natürlich zertifizierte erneuerbare Energien – und so die gesamte Stromversorgung verbilligen, während man die saubere inländische Stromerzeugung in einem definierten Umfang ebenfalls mittels Ausschreibungen erhält und ausbaut.
Warum macht man das nicht einfach?
Es fehlt dazu der Platz im Netz. Den muss man erst schaffen – indem man endlich die gefährlichen alten AKW abschaltet. Man kann ja den Strom erst dann importieren und verwenden, wenn es auch eine Nachfrage gibt.
Aber gibt es denn wirklich genügend erneuerbaren Importstrom?
Ja… (sucht eine Grafik in seinen Unterlagen) …schauen Sie sich doch mal das an.
Was sehe ich da genau?
Den Energieverbrauch Deutschlands (die rosa Linie), dazu die Produktion aus konventionellen, Solar-, Wind-, Wasser- und Biomasse-Kraftwerken im April 2017. Es gab in diesem Frühjahr einen Tag im ehemaligen Kohlestaat Deutschland, an dem über 80 Prozent aus erneuerbaren Energien produziert wurde. Die Erneuerbaren werden weiter ausgebaut. Die Deutschen haben auch schon über 50’000 kleine Hausspeicher, aber das reicht nicht. Es wird immer mehr Tage geben, da sinkt der Preis gegen null und man wird sich auf die Schweizer Abnehmer von grünem Strom freuen, denn sie stabilisieren den Markt.
Aber davon werden wir doch auch profitieren?
Nach dem Axpo-Modell eben gerade nicht. Man versucht vielmehr, den kleinen Konsumenten auch noch die Kosten der alten Atomkraftwerke anzuhängen. Das ist der Plan von Herrn Wasserfallen und seinen Hintermännern. Ich bin dafür, dass man den Markt für die kleinen Kunden öffnet, aber zuvor auch gleich die Wasserzinsen und die Strategische Reserve gesetzlich regelt – als Systemdienstleistung, die von allen zu bezahlen ist, nicht nur von den kleinen Konsumenten. Dann profitieren auch die Haushalte vom billigen Strom der Erneuerbaren, und die alten Ölöfen in der Schweiz werden rascher durch Wärmepumpen ersetzt, weil endlich die Preise stimmen.
Wie genau?
Man muss die Tarife neu gestalten. So, dass die kleinen Konsumenten ebenfalls die Möglichkeit haben, für 2 Cents Überschussstrom aus Wind und Sonne vom freien Markt zu beziehen. Heute gibt es nur den hohen Tagestarif und den billigen Nachttarif. Das ist nicht mehr haltbar, denn es vermittelt falsche Anreize: Wenn die Sonne scheint, kann der Einkaufstarif auf einen Cent fallen. Auch die kleinen Kunden müssten die Möglichkeit erhalten, für diesen Preis direkt ab Börse sauberen Strom zu beziehen und ihre Wärmepumpen Boiler oder Elektromobile genau dann aufzutanken, wenn die Sonne scheint.
Oder der Computer stellt den Boiler dann an, wenn der Preis gerade tief ist.
Ganz genau. Das nennt man Smart Grid. Man kann nicht von Smart Grid sprechen und die Marktöffnung verhindern. Die Marktöffnung gehört deshalb auf die Traktandenliste, aber das funktioniert nur, wenn im gleichen Schritt auch für die Wasserkraft und die übrigen erneuerbaren Energien eine wettbewerbsnahe Lösung gefunden wird, die tragfähig ist.
Es entbehrt nicht der Ironie, dass Sie als SPler der SVP, der FDP und den Wirtschaftsverbänden vorwerfen, den freien Markt weitgehend verhindern zu wollen.
Das ist so. Den Streit um die Marktöffnung haben wir natürlich auch innerhalb der SP. Für mich war die Strommarkt-Liberalisierung nie ein ideologisches Projekt, sondern ein Systemerfordernis. Der Preis spiegelt Angebot und Nachfrage; das System funktioniert nur dann gut, wenn sich alle zeitnah danach ausrichten können, dank smarten Geräten und alten oder neuen Speichern. Die Axpo hingegen will den Schweizer Markt vollkommen abschotten. Kaufzwang für Atomstrom und so weiter. Da werden dann auch die Preisvorteile der erneuerbaren Energien nicht an die kleinen Kunden weitergegeben.