Schriftsteller Hassan Blasim: «Europa muss sich nur etwas anstrengen»

Vor zehn Jahren kam der irakische Autor und Filmemacher Hassan Blasim nach vier Jahren dauernder Flucht in Europa an. Spannend und verstörend erzählt er vom Horror, den Flüchtlinge mit sich tragen. Am 3. Februar ist er im Literaturhaus Basel zu Gast.

Hassan Blasim erzählt in seinen Geschichten von Erfahrungen, die er auf der Flucht auch selber gemacht hat.

(Bild: Katya Bohm)

Vor zehn Jahren kam der irakische Autor und Filmemacher Hassan Blasim nach vier Jahren dauernder Flucht in Europa an. Spannend und verstörend erzählt er vom Horror, den Flüchtlinge mit sich tragen. Am 3. Februar ist er im Literaturhaus Basel zu Gast.

Hassan Blasims preisgekrönter Erzählungsband «Der Verrückte vom Freiheitsplatz» ist zu einer Zeit erschienen, in der Europas Flüchtlingsdebatte zunehmend von einer Abwehrhaltung dominiert wird. In dieser Debatte will Blasim mitreden – nicht als Literat, sondern als politischer Autor, als einer, der selbst geflüchtet ist und im «Paradies» auf Zynismus, Feindseligkeit und Ignoranz gestossen ist.

Herr Blasim, mit Blick auf die Flüchtlingsfrage kann man sagen, Ihr Buch ist zur rechten Zeit gekommen. Als was werden Sie momentan eingeladen – als Autor oder als politischer Kommentator?

Schon bevor Europa die Flüchtlingskrise zu erkennen bereit war, wurde ich an Anlässe zu Flüchtlingsfragen eingeladen. Das ist also nicht neu für mich. Aber es hat zugenommen, das ist richtig. Zu Ihrer Frage – vorher wurde meine Arbeit als Literatur behandelt, nun aber spricht jeder über die Flüchtlinge, und nun bin ich plötzlich interessant und Journalisten wie Sie rufen mich an. Die Leute erschaudern, wenn sie von einem tragischen Fall wie dem in Österreich hören, wo Flüchtlinge in einem Laster erstickt sind, dabei habe ich genau solche Szenen bereits vorher in meinen Geschichten beschrieben.

Das Thema treibt Sie weiterhin um. In Ihrem Blog haben Sie das Gedicht «A Refugee in the Paradise that is Europe» veröffentlicht. Sie beschreiben darin, wie einer, der dem Tod entkommen und im europäischen Paradies angekommen ist, in den Zeitungen rassistisch beleidigt wird. Die Bevölkerung vergiesst zuerst Krokodilstränen, um danach gegen ihn auf der Strasse zu demonstrieren. Sie sind ernüchtert von der europäischen Flüchtlingspolitik?

Ja. Europa stellt sich den wichtigen moralischen Fragen nicht, und das ist ein Problem. Europa hat grosse Errungenschaften in der Moral hervorgebracht, die freie Rede, die Menschenrechte und so weiter, darauf dürfen die Europäer stolz sein. Umso trauriger ist es zu sehen, wie Europa die Moral über den Haufen wirft. 

Wie meinen Sie das?

Als Europäer hat man das Privileg, überall hinreisen zu dürfen. Zur Grosswildjagd nach Afrika oder für billigen Sex nach Thailand – aber umgekehrt müssen andere Menschen an der europäischen Grenze stehen bleiben. Wer hat den Europäern das Recht gegeben, andere so zu behandeln, die am europäischen Paradies ebenfalls teilhaben wollen?

Hassan Blasim wurde 1973 in Bagdad geboren. Er studierte an der Filmhochschule und drehte kritische Dokumentationen über das Leben und die Gesellschaft im Irak der 1990er-Jahre, bis er selbst bedroht wurde. Mehrere Jahre lebte er im kurdischen Norden des Landes und arbeitete unter einem Pseudonym weiter, bis er im Jahr 2000 endgültig aus dem Land floh. Über die Türkei, den Balkan und Osteuropa gelangte er nach Finnland, wo er heute lebt.

Sie erkennen keine Hilfsbereitschaft in Europa?

Doch ja, die der europäischen Linken. Die setzen sich aus romantischen Antrieben ein für die Flüchtlinge…

Romantisch?

Ja, lassen Sie mich erklären. Ich schätze die Hilfsbereitschaft sehr. Aber man behandelt die Flüchtlinge wie Menschen, die man erziehen muss. Nach einem Vorfall wie an Silvester in Köln haben europäische Politiker das Gefühl, sie müssen nun alle Flüchtlinge in Höflichkeit unterrichten. Wenn man Flüchtlinge derart generalisiert, dann soll man bitte mit Europa nicht anders verfahren. Europa hat über Jahrhunderte viel Leid in der Welt angerichtet, gerade im Nahen Osten. Deutschland hat Waffen an das Regime von Saddam Hussein verkauft, Holland chemische Waffen. Und die Amerikaner und Briten haben die Bomben gleich selbst abgeworfen. Verstehen Sie mich nicht falsch, natürlich muss man Männer, die Frauen belästigen, in die Schranken weisen. Aber warum nur sie – und nicht die Regierungen, deren Politik am Anfang des Elends steht?

«Die sogenannte Flüchtlingskrise hätte ein kleines Problem bleiben können, wenn Europa nicht die Augen verschlossen hätte, bis es nicht mehr ging.»

Der Westen lieferte Waffen und stützte Regime wie dasjenige Saddam Husseins, ist jedoch nicht bereit, Flüchtlinge aufzunehmen – diese Kritik ist in Europa nicht fremd.

Ist sie das? Vielleicht. Aber sie ist auch nicht mehrheitsfähig. Europa hat ein Problem mit seiner Bildung, sage ich Ihnen. Dass die europäische Bildung die beste sein soll, ist eine Illusion. Sie bringt wohl beste Leistungen hervor, aber nicht bessere Menschen. Was nützt es, noch mehr Spitzenärzte und bestens gerüstete Wirtschaftsfachleute zu haben, wenn man keine besser geschulten Menschen hervorbringt, die Probleme anerkennen und zu lösen bereit sind? Die sogenannte Flüchtlingskrise hätte ein kleines Problem bleiben können, wenn Europa nicht die Augen verschlossen hätte, bis es nicht mehr ging. Man hätte Erfahrungen gewinnen können, die später nützlich sind, denn es werden mehr und mehr Flüchtlinge kommen, wenn der Klimawandel zunimmt und sich die ökologischen Lebensbedingungen ändern.

Sie sind vor zehn Jahren in Finnland angekommen. Wie wurden Sie aufgenommen?

Finnland hat mich reingelassen und meinen Status als Flüchtling anerkannt, dafür danke ich. Aber danach? Ich durfte zuerst nicht arbeiten, konnte mich kaum integrieren. Wenn man jemanden ins Land lässt, kann man ihn nicht einfach im Regen stehen lassen. Viele Flüchtlinge verrichten niedrigste Arbeiten und putzen Toiletten, aber die Gesellschaft sperrt sie aus. Die erste Generation hat es immer sehr schwer.

Haben Sie das selbst so erlebt?

Ich bin ein offener Mensch und habe bald Freunde gefunden, mein Fall ist daher kaum repräsentativ. Ich habe Europa immer geliebt, die europäischen Werte, die Menschenrechte, die Literatur. Nun bin ich selbst Europäer, mein Sohn ist in Finnland geboren. Aus meiner Erfahrung sage ich: Europa kann das bewältigen, es muss sich nur etwas anstrengen.

Sie sind auf derselben Route nach Europa gekommen wie viele Flüchtlinge heute – aus der Levante via Türkei über den Balkan. Was hat sich geändert?

Vier Jahre war ich unterwegs. Ich überlebte, weil ich ein junger Mann war und mich nicht davor scheute, auf andere Leute zuzugehen. Es war, glaube ich, schwieriger als heute. Man war verwundbarer, Telefone hatten keine Kamera, keine Google-Map, kein WhatsApp. Das ist heute anders, Flüchtlinge können sich untereinander verständigen und sich warnen. Ich habe einige brutale Szenen erlebt. Die Grenze zwischen der Türkei und Bulgarien habe ich mit einer Gruppe Nigerianer überquert. Als die bulgarischen Grenzsoldaten uns aufgegriffen und in eine Armeeunterkunft gebracht hatten, trennten sie die Frauen von den Männern und vergewaltigten sie. Wir hörten sie schreien, aber was konnten wir tun? Wir sassen da und weinten. Solche Geschichten gibt es viele.

Was ist heute anders?

Heute sind Reporter an der Grenze, die Menschen haben Kameras, Menschenrechtsorganisationen sind auch dort. Aber diese Grenzen haben davor schon existiert, auch früher versuchten Menschen sie zu überqueren, viele starben. Ihre Geschichten hören wir nie.

«In dieselben Länder, die ich vor zehn Jahren als Flüchtling durchschritt, werde ich heute eingeladen. Damals hätte mir niemand zugehört.»

Sie erzählen sie nun.

Als einer der wenigen, die gehört werden, ja. Es ist etwas eigenartig – in dieselben Länder, die ich vor zehn Jahren zu Fuss als Flüchtling durchschritt, werde ich heute eingeladen. Flüge, gute Hotels, ein aufgeschlossenes Publikum. Das ist schön, die Menschen sind nett, aber ich versuche immer, daran zu erinnern, wie das vor zehn Jahren war. Damals hätte mir keiner zugehört. Ich bin mir nicht sicher, ob es den Menschen klar ist, die meine Bücher kaufen, dass im selben Moment, in dem sie mir zuhören, andere Menschen genau das durchleben, was ich beschreibe.

Glauben Sie, dass Sie als Erzähler etwas daran ändern können?

Ich mache mir nicht allzu grosse Illusionen. Aber Schriftsteller sollten das Reden nicht der Politik überlassen.

Der Autor als Aufklärer?

Das klingt gut, ja? Ich kann aber schon zugeben, dass Literaten Egoisten sind, sie geniessen die Aufmerksamkeit des Publikums. Als ich anfing zu schreiben, wollte ich vor allem ein guter Autor sein. Ich verehrte die europäische Literatur, vor allem Kafka. Doch dann denkt man an all das Elend, das man erlebt hat und das nun anderen Menschen zustösst, und man fragt sich: Wozu ist das alles gut, Philosophie, Literatur, Kunst? Das Leben ist ein Traum, ein Rätsel, es geschehen viele verrückte Dinge, die man nicht begreifen kann. Man kann nur versuchen, sein inneres Gleichgewicht zu behalten.

Haben Sie deshalb zu schreiben begonnen? Als Therapie?

Im Irak? Nein. Dort ist Literatur sofort politisch. Saddam Hussein war unser Feind. Künstler haben darüber geschrieben und Filme gedreht, viele verschwanden im Gefängnis, und viele sind geflohen. Die Überzeugung, aus dem Innern etwas bewirken zu können, war eine Täuschung.

Warum war das so?

Saddam war stark, weil er vom Westen stark gemacht wurde, um in den 1980er-Jahren den Iran zu bekämpfen. Und wir haben den Preis bezahlt, damit der Westen seine Ölreserven schützen konnte. Für die Menschen im Irak hat man sich nie interessiert. Noch heute sind die einzigen Westler im Irak Soldaten oder Vertreter der Energiekonzerne.

Der schweizerisch-irakische Regisseur Samir hat vor einem Jahr einen Film über die Geschichte des Iraks gedreht. Er stellt die Frage, weshalb ein Land mit derart guten Voraussetzungen – hoher Bildungsstand, natürliche Ressourcen – über Jahrzehnte in Gewalt versinken konnte. Seine Antwort: Interventionen aus dem Ausland haben das Land zerrüttet. Zuerst die Briten, dann die Russen, dann die Amerikaner. Pflichten Sie ihm bei?

Ich habe von dem Film gehört, ihn aber nicht gesehen. Natürlich gab es auch innere Probleme, nicht immer sind die anderen schuld. Aber das irakische Volk war nie frei und unabhängig, um seine Probleme lösen zu können. Ich glaube nicht, dass es unserer Generation gelingt, die Wunden der letzten vierzig Jahre zu heilen. Aber Frieden ist möglich, und die Versöhnung ist dann die Aufgabe der nächsten Generationen.

«Grenzen sind nicht wichtig, was zählt, ist der Friede, egal unter welcher Flagge.»

Angesichts der Zersplitterung des Landes und der verschiedenen Bevölkerungsgruppen ist das eine grosse Aufgabe. Sie sind zuversichtlich?

Der Irak als Zentralstaat, wie ihn die Briten und Franzosen geschaffen haben, ist nicht mehr zu retten. Wenn die Kurden unabhängig sein wollen, dann gebt ihnen ihren Staat. Grenzen sind nicht wichtig, was zählt, ist der Friede, egal unter welcher Flagge. 

Der Staat ist für Sie verloren – was ist mit dem Land? Können Sie sich vorstellen, zurückzukehren?

Das ist im Moment nicht vorstellbar. Im Westen kennt man mich als Autor von Kurzgeschichten, aber für ein arabisches Publikum schreibe ich über Online-Plattformen schon seit Jahren, auch politisch. Als vor acht Jahren der irakische Bürgerkrieg tobte, schrieb ich viele Artikel, die auf arabischen Internet-Foren veröffentlicht wurden, und rief dazu auf: Investiert in die Bildung, vergesst Amerika, vergesst die Invasion! Und erzieht die Kinder und Jugendlichen so, dass der Hass zwischen Schiiten und Sunniten verschwindet! Ich erhielt viele positive Reaktionen, aber auch wütende Drohungen, als ob ich die Religion angreifen wollte. Ich werde also gelesen, aber nicht überall geschätzt. Freunde, die noch im Irak wohnen, schreiben mir: Hassen, komm nicht zurück. Es ist zu gefährlich.

Sie haben die europäischen Werte erwähnt, die ebenfalls erst nach Erfahrungen der Diktatur errungen worden sind. Besteht keine Hoffnung, dass im Irak dasselbe möglich ist?

Doch, natürlich. Ich wurde in Deutschland angesichts der Lage im Irak einmal gefragt, ob Gewalt in der DNA eines Volkes liegen kann. Ich musste lachen und antwortete: «Wahrscheinlich ja, schauen Sie die deutsche Geschichte an, die war über Generationen hinweg gewalttätig wie verrückt.» Sowas ist natürlich lachhaft, zum Hass wird man erzogen, nicht mit ihm geboren. Man sieht hier in Europa, wie schnell das vergessen wird.

Können Sie das begründen? 

Als Kinder spielen Einheimische und Immigranten zusammen, als Erwachsene beginnen sie sich zu hassen. Sie lernen das irgendwo, und ich glaube, das hat mit der Bildung hier zu tun, mit der Erziehung. Es geht um Leistung, um Wettbewerb und darum, wer besser ist als der andere. Wir brauchen nicht fähigere, kompetitivere Menschen. Sondern Demut, Empathie, Weisheit. Das sind meines Erachtens die zentralen Werte.

Hassan Blasim: «Der Verrückte vom Freiheitsplatz und andere Geschichten aus dem Irak», Antje Kunstmann Verlag, 2015, 256 Seiten.

Jeder trägt seine Geschichte mit sich rum in diesem vom Krieg geschundenen Land, und sie stehen Schlange, um sie zu erzählen. Der Radiosender Al-Dhakira, der Erinnerungssender, spielt weder Musik noch Nachrichten. Nach dem Sturz des Diktators Hussein will er die Menschen offen über die Vergangenheit reden lassen. Die besten Geschichten werden gesendet.

Eine junge Frau tritt ans Mikrofon, erzählt von ihrem Ehemann, den eine islamistische Gruppierung verschleppt hatte und von dem nur der verweste Leichnam gefunden wurde, ohne Kopf. Eine Horrorgeschichte, aber als die Frau geendet hat und das Licht im Auditorium angeht, redet das Publikum sofort durcheinander. Manche machen sich lustig, manche behaupten, ihre eigenen Erfahrungen seien noch brutaler. «Was ist das denn für eine Geschichte?», ruft eine alte Frau. «Wenn ich meine einem Stein erzählen würde, würde der vor Schmerz zerbrechen.»

Hassan Blasim hat viele solcher Geschichten aufgeschrieben. «Der Verrückte vom Freiheitsplatz» ist seine erste in deutscher Sprache erschienene Sammlung von Kurzgeschichten. Wie seine Dokumentarfilme erzählt sie vom Leben im Irak und der Flucht – aber die Mittel, die Blasim einsetzt, sind andere. So sehr ist der Alltag in Horror und Blut getränkt, derart beiläufig werden Menschen entführt, geköpft, verstümmelt, dass der Verstand zu erzittern beginnt. Blasim erzählt in einem knappen, nüchternen Duktus, und dennoch bleiben seine Geschichten nicht fest am Boden, sondern durchbrechen die Logik, Traumsequenzen mischen sich darein, Märchengestalten treten auf.

Den magischen Realismus hat der vielbelesene Blasim in der lateinamerikanischen Literatur entdeckt, bei Bolaño, Borges, Fuentes, und nutzt ihn als Ausweg aus dem Schrecken. Als Folie über dem Morden, Schänden und Erniedrigen, das den Menschen in den Wahnsinn treiben kann, wenn er sich nicht von dieser Realität zu entrücken vermag. Prägend für Blasim ist Kafka, und man denkt an das verlorene Individuum im «Schloss» oder im «Prozess», das hängen bleibt in höheren, kaum fassbaren Systemen und Mächten, gegen die keine Wehr mehr greift.

Köpfe rollen und Blut spritzt in seinen drastischen Geschichten, aber die plakative Gewalt dient Hassan Blasim nicht als blosses Stilmittel. Trotz all der Absurdität ist der Albtraum höchst real – und er soll zeigen, wie viel Menschen aushalten können, bevor sie flüchten. Und sie die grosse Reise antreten wie Blasim selber zehn Jahre vor ihnen, um an die Tür des «Paradies Europa» zu klopfen.

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Hassan Blasim ist am Mittwoch, 3. Februar, 19 Uhr im Literaturhaus Basel zu Gast.

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