«Seit ich im Amt bin, gab es in der Sozialhilfe nur eine Bewegung: die nach oben»

Während der Kanton Basel-Stadt Jahr für Jahr satte Überschüsse ausweist und die Wirtschaft floriert, steigt die Anzahl der Sozialbezüger ungebremst an. Wir haben den Sozialminister Christoph Brutschin gefragt, was hier schiefläuft.

Christoph Brutschin: «Ich bin ständig auf der Suche nach Rezepten, was ich tun kann, um Verständnis zu schaffen für die Betroffenen.»

Herr Regierungsrat, wenn man Sie besucht, betritt man ein wunderbares Barock-Palais, ein Sinnbild quasi für den Kanton Basel-Stadt, dem es finanziell und wirtschaftlich prächtig geht. Sie aber sind als Vorsteher des Departements für Wirtschaft, Soziales und Umwelt auch für die Menschen zuständig, die von dieser Prosperität nicht profitieren können. Die Sozialhilfequote ist gestiegen, die Bezugsdauer der Sozialhilfe stieg. Was läuft hier schief?

Es wurde auch schon geschrieben, ich solle mich vom Acker machen, es sei eine Zumutung, dass mein Departement diese Räumlichkeiten belege. In Tat und Wahrheit haben wir schon versucht, uns von diesem Haus zu trennen, weil es ökologisch problematisch und als Bürogebäude sehr unpraktisch ist. Aber wenn Sie den Symbolcharakter ansprechen, haben Sie recht. Wir haben hier die grossen Repräsentationsräume und unter dem Dach die Kammern, in denen früher das Gesinde wohnte – mit unbehandelten Tannenholzböden und den nackten Ziegeln über dem Kopf. Das heisst, sie hatten im Sommer heiss, im Winter froren sie, weil es keine Öfen gab. Zur Sozialhilfe: Die Verweildauer wurde länger, die Quote stieg an, nachdem sie längere Zeit stabil verharrte. Die Fälle stiegen während meiner Amtszeit stets an, die Quote wurde aber lange durch das Bevölkerungswachstum stabil gehalten. In letzter Zeit hat das Wachstum der Sozialfälle das der Bevölkerung überholt.

Regierungsrat und Sozialminister Christoph Brutschin in seinem prächtigen Amtssitz am Rheinsprung.

Warum ist das so?

Da gibt es mehrere Gründe. Die Sozialhilfe wird mehr und mehr zur «Arbeitslosenhilfe zwei», bezahlt von den Kantonen und Gemeinden. Der Anteil derjenigen Menschen, die zum ersten Mal zu uns an die Klybeckstrasse kommen (Anm. Standort der Sozialhilfe) und sagen, ich habe keine Arbeit mehr, nimmt zu. Früher war die Sozialhilfe eher als Auffangbecken für die Wechselfälle des Lebens da – Suchtmittelproblematik, persönliche Abstürze nach privaten und beruflichen Problemen. Das hat sich geändert. Diese persönlichen und vielleicht vorübergehenden Probleme treten etwas in den Hintergrund, in den Vordergrund tritt ein offensichtlich wachsendes Missverhältnis zwischen den beruflichen Qualifikationen und den Ansprüchen der Wirtschaft. Das Ergebnis ist, dass die Menschen immer schwerer aus der Sozialhilfe hinauskommen. Vor allem dann, wenn sie ein gewisses Alter erreicht haben. Das ist eine Situation, die uns im Departement beschäftigt und manchmal auch traurig macht, wenn wir sehen, dass Ressourcen von Menschen brachliegen. Diese Menschen sollten etwas beitragen können zum wirtschaftlichen Gedeihen des Kantons. Und wir sehen, dass diese Menschen unter ihrer Situation leiden, weil sie von der Öffentlichkeit abhängig werden, ohne dass sie das wollen.

«Angriffe auf den vermeintlich allzu freigiebigen Sozialstaat treffen mich auch persönlich.»

Und die bequemen oder faulen Menschen, die sich aushalten lassen wollen?

Es ist nicht so bequem, wie es in der Öffentlichkeit oft dargestellt wird. Das Sozialhilferegime ist durchaus auch hart. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Menschen werden arbeitslos, erhalten Arbeitslosenunterstützung, werden ausgesteuert. Dann kommen sie zu uns, und wir müssen sie das allenfalls mühevoll gesparte Vermögen von vielleicht 30’000 Franken bis auf 4000 Franken aufbrauchen lassen. Das trifft die Menschen ungemein. Vor diesem Hintergrund treffen Angriffe auf den vermeintlich allzu freigiebigen Sozialstaat mich auch persönlich. Ich verstehe diese Angriffe auf die Institution nicht, die alles andere als ein Ruhekissen ist.

Ich höre hier ein bisschen Frustration heraus, die Sie nicht gehabt hätten, wenn ich mit Ihnen als Wirtschaftsförderer sprechen würde, der Sie ja auch sind?

Frustration ist es nicht. Es ist die tiefe Überzeugung, für dieses System einzustehen. Das tue ich auch. Ich bin ständig auf der Suche nach Rezepten, was ich tun kann, um Verständnis zu schaffen für die Betroffenen. Es ist ein gesellschaftlicher Anspruch, denjenigen zu helfen, denen es schlecht geht, damit sie nicht ins Bodenlose fallen. In Basel dafür Verständnis zu finden, ist zum Glück weiterhin einfacher als anderswo.

Die Schere öffnet sich: Während gesamtschweizerisch die oberen Einkommen wachsen und sich das Mittelfeld hält, ist die Tendenz bei den unteren Einkommen sinkend.

Wenn wir die Einkommensentwicklung anschauen, dann fällt auf, dass bei einem relativ konstanten Medianwert …

… der leicht ansteigt …

… bei den oberen Einkommen ein starker Anstieg festzustellen ist, während die untersten Einkommen ebenso stark sinken, auf rund 6000 Franken pro Jahr. Haben wir es mit einer Einkommensschere zu tun, die sich stark öffnet?

Bei den Darstellungen des Statistischen Amtes handelt es sich um Reineinkommen, also einem Einkommen nach einer Reihe von Abzügen. Steigen diese, hat das auf die unteren Einkommen einen grösseren Einfluss. Man müsste sich die Zahlen also noch etwas genauer anschauen, bevor man urteilt.

Aber es ist ein Zeichen für eine Einkommensschere, die sich öffnet.

Das ist gesamtschweizerisch so: Die oberen Einkommen wachsen stark, das Mittelfeld hält sich mehr oder weniger und bei den tieferen Einkommen ist die Tendenz uneinheitlich. Das Reineinkommen ist das eine, wichtig ist, was die Betroffenen zur Verfügung haben. Da beginnt die Umverteilung zu wirken. Wir zahlen für beinahe einen Drittel der Basler Bevölkerung Prämienverbilligungen aus, ein Teil bezieht auch Familienmietzinszuschüsse. Wir verteilen also um, was auch absolut richtig und notwendig ist. Man müsste betrachten, was die Umverteilung bewirkt, was wir den einen mit Steuern wegnehmen und den anderen mit Zuschüssen geben. Dann würde sich die Schere wieder ein bisschen schliessen.

«Wenn Sie mir ein Patentrezept hätten, wie es anders ginge, wäre ich sehr froh, wenn Sie es mir verraten würden.»

Aber die Schere bleibt geöffnet.

Natürlich ist es so: Kapitalistische Wirtschaftssysteme lassen den Kuchen gross werden. Wie dieser Kuchen dann allerdings verteilt wird, ist häufig unschön – deshalb braucht es Umverteilung via progressive Steuern oder kurz: eine soziale Marktwirtschaft. Wir verteilen also um, indem oben etwas weggenommen und unten etwas dazugegeben wird.

Sind die stetig steigenden Sozialkosten demnach eine Tatsache, mit der wir uns einfach abfinden müssen?

Wenn Sie mir ein Patentrezept hätten, wie es anders ginge, wäre ich sehr froh, wenn Sie es mir verraten würden.

Das klingt nicht gerade zuversichtlich.

Wir suchen nach anderen Wegen, aber wir können nicht ausschliessen, dass es so weitergeht. Ich hoffe, dass die Quote nicht noch weiter steigt, aber bei den absoluten Zahlen muss ich nüchtern konstatieren: Seit ich im Amt bin (Anm. seit 2009), gab es in der Sozialhilfe nur eine Bewegung, nämlich die nach oben.

Die SVP hat doch ein Patentrezept: wenig qualifizierte Ausländer raus und mehr Jobs für Schweizer.

Das sind Rezepte, die im ernsthaften politischen Diskurs zum Glück keine Mehrheiten finden. Dass der Ausländeranteil bei der Sozialhilfe gross ist, hat nicht mit der Nationalität zu tun, sondern mit der mangelnden beruflichen Qualifikation und Sprachkenntnis. Das muss man anders lösen, als dies diese Politiker fordern. Und das tun wir auch.

«Industriearbeitsplätze bekommen wir nicht zurück, wenn wir Löhne ab 4500 Franken zahlen müssten. Dann bleibt der Produzent in China.»

Die Vorgängerregierung buhlte aktiv um die Rückgewinnung guter Steuerzahler. Sie veräusserte attraktive Immobilien, die Wohlhabenden kamen zurück, die Mieten stiegen. Hat man die nicht so gut Situierten einfach vergessen?

Das ist nicht auf meinem Mist gewachsen. Abgesehen davon, gibt es keine guten und schlechten Steuerzahler. Die Steuern sind immer ein Abbild der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Die Steuern von Menschen mit einem durchschnittlichen Einkommen sind für mich genauso viel wert wie die von Menschen mit einem Millioneneinkommen.

Aber die Menschen mit Millioneneinkommen zahlen mehr.

Diese als Staat mit einem Staubsauger anzuziehen, klappt nicht wirklich. Unsere Industrie benötigt Menschen mit hohen Qualifikationen – und weil die selten sind, sind die Löhne hoch. Ob wir die anderen vergessen haben, wie Sie fragen? Wir haben die repetitiven Industriearbeitsplätze, die es in anderen Kantonen noch gibt, nicht – oder besser: nicht mehr. Wir haben Gewerbe, Gastronomie, Hotellerie, was sehr wichtig ist. Aber wir haben eine Wirtschaftsstruktur, die es Menschen mit nicht so hohen Qualifikationen nicht einfach macht. Es gibt Diskussionen, ob wir Sektoren fördern sollen, die tiefere Löhne zur Folge haben – das freut die Gewerkschaften verständlicherweise wenig. Aber Industriearbeitsplätze bekommen wir nicht zurück, wenn wir Löhne ab 4500 Franken zahlen müssten. Dann bleibt der Produzent in China.

Das bringt uns zu den Working Poor. Nicht nur die Ausgesteuerten sind massiv unterprivilegiert, auch geschiedene und alleinerziehende Erwerbstätige gehören dazu.

Die gibt es. Und zum Glück haben wir die kantonalen Familien-Mietzinsbeiträge. Diese Beiträge richten sich speziell an Working-Poor-Familien und an Alleinerziehende. Damit können wir viele Menschen relativ lange von der eigentlichen Sozialhilfe fernhalten. Es ist übrigens nicht so, dass wir diese Beiträge direkt an die Vermieter ausschütten, sondern an die Mieter, die sie selbstverantwortlich einsetzen können. Wenn das nicht reicht, kann die Sozialhilfe auch mit Teilbeiträgen helfen. Nicht jeder erhält den Maximalbetrag.

Es ist doch aber ein düsteres Bild, wenn man arbeitet und das Geld reicht hinten und vorne nicht.

Ja. Die grosse Frage ist auch hier, warum das so ist. Oft liegt es am Beschäftigungsgrad, etwa, wenn jemand alleinerziehend ist oder aus sonstigen Gründen nicht mehr Stunden arbeiten kann.

«Wir haben in Basel viele sehr kleine Genossenschaften. Das macht es anspruchsvoll, ein grösseres Projekt anzustossen.»

Wäre es nicht besser, statt Mietzinsbeiträgen Mieten zu garantieren, die die Menschen bezahlen können?

Klar, das wäre ideal. Aber viele Liegenschaften sind in privatem Besitz; auf die können wir ausser mit dem Mietrecht, das die extremen Auswüchse unterbindet, keinen Einfluss nehmen. Abgesehen davon kann es in vielen Fällen besser sein, wenn wir jemand in seinem gewohnten Umfeld belassen können und ihn nicht in günstige kantonale Siedlungen, wenn es diese denn gäbe, umsiedeln müssen. Denken Sie an Familien mit Kindern, die an einem speziellen Ort zur Schule gehen, ihre Freunde dort haben.

Halten Sie Subjekthilfe, also die finanzielle Unterstützung einzelner Menschen, für erfolgsversprechender als Objekthilfe, womit die Schaffung von günstigem Wohnraum gemeint ist?

Das ist eine wichtige Diskussion, aber es braucht beides. Ich bin der Meinung, dass sich der Kanton in der Objekthilfe wieder stärker engagieren sollte, aber nicht unter der Prämisse einer Aufgabe der Subjekthilfe, die im Einzelfall durchaus sinnvoll ist.

Dann rennt Ihre Partei, die SP, bei Ihnen mit ihrem Wohnpapier offene Türen ein?

Wir fördern den genossenschaftlichen Wohnungsbau, dazu kommt die Thematik der staatlichen Wohnungen. Andernorts war es früher so, dass die Parteizugehörigkeit wichtig war, wenn man eine solche Wohnung zugeteilt bekommen wollte. Das ist mindestens so problematisch wie die finanziellen Ausschlussgründe. Heute sind es vielleicht ausländische Namen oder sonstige Faktoren, die einen ausschliessen können. An diesen Punkten müssen wir als Gesellschaft ansetzen, aber es darf sicher nicht wieder darauf ankommen, wer die richtigen Beziehungen hat. Wir fördern hier Genossenschaften, aber anders als in Zürich haben wir in Basel viele sehr kleine  Genossenschaften. Deshalb ist es bei uns anspruchsvoller, ein grösseres Projekt anzustossen – immerhin, und das freut mich, gibt es hier unterdessen klare Fortschritte durch Zusammenschlüsse kleiner Genossenschaften.

Genossenschaftswohnungen sind also unter dem Strich nicht der Weisheit letzter Schluss?

Nicht allein, weshalb der Kanton auch eigene Initiativen einbringen muss. Wir haben Ideen, die zum Teil bereits in der Umsetzung sind. Aber weiterhin wird es Familienmietzinsbeiträge brauchen.

«Für ein Departement, das das ‹S› für Soziales im Namen hat, ist es das primäre Ziel, offene Armut zu verhindern.»

Ich komme noch einmal zurück zum Wohnpapier der SP. Wirklich dazu Stellung genommen haben Sie nicht.

Die Stossrichtung stimmt, da und dort stellt sich einfach die Frage des Masses.

Welches Mass meinen Sie?

Ich finde eindrücklich, wie viel Arbeit sich die Sachgruppe der SP gemacht hat. Urteilen kann ich erst wirklich, wenn konkrete Vorstösse im Parlament eingereicht werden. Ich bin für verstärkte Objekthilfe, hinter ein Vorkaufsrecht für Einfamilienhäuser würde ich hingegen ein Fragezeichen setzen. Aber da bin ich ja nicht der Einzige in der Partei.

Thema Krankenkassenprämien: Hier müssen Sie einfach zuschauen, wie die Beiträge linear zu den Prämienerhöhungen steigen.

Ich betrachte es als Privileg, dass ich immer die nötigen Mittel zugesprochen bekomme, um die steigenden Prämien auszugleichen. Basel-Stadt ist der einzige Kanton, der die Prämienbeiträge regelmässig und eins zu eins zu den Prämienerhöhungen anpasst. Wir budgetieren auch für nächstes Jahr ein Wachstum.

Auch das ist nicht gerade aufbauend für Sie?

Für ein Departement, das das «S» für Soziales im Namen hat, ist es das primäre Ziel, offene Armut zu verhindern. Wenn Sie das Gesundheitswesen ansprechen: Wir leisten uns einen hohen Standard und wollen keine Zweiklassenmedizin. Es ist immer ein Abwägen, wie sehr Sie ins System eingreifen möchten.

Die CVP hat eine Initiative für den Steuerabzug der Prämien eingereicht. Ist das eine gute Idee?

Nein, gar nicht. Um in der Sprache der Bürgerlichen zu sprechen: Steigendes Prämienwachstum könnte da und dort vielleicht dazu führen, sich zu hinterfragen, wie ich selber zum Kostenwachstum beitrage. Bei einem Giesskannenprinzip wie dem Steuerabzug fällt das weg. Wir haben hier in Basel-Stadt die Grenze für Prämienbeiträge relativ hoch angesetzt und wollen diese mit der Steuervorlage 17 noch erhöhen. Das heisst, dass relativ breite Bevölkerungsschichten Zugang haben zu dieser Unterstützung.

Sie wollen die sichtbare Armut verhindern. Ist Sozialhilfe, etwas despektierlich formuliert, auch Kosmetik im Sinne des Standortmarketings?

Standortkosmetik ist es sicher nicht. Es geht darum, die Folgen der offenen Armut für die Betroffenen und alle anderen zu vermeiden. Offene Armut heisst, dass die Menschen keine finanziellen Mittel haben, dass sie auf Almosen anderer angewiesen sind. Sie könnten die Sozialhilfe auch als garantiertes Grundeinkommen bezeichnen.

Mit dem Unterschied, dass Sozialhilfe mit dem Makel eben der Hilfeleistungen belastet ist. Und mit der Pflicht, die Gelder zurückzuerstatten.

Wir respektieren die Grenzen der Zumutbarkeit. Es ist nicht so, dass wir jemanden, der wieder eine Stelle hat und irgendwie über die Runden kommt, bis aufs Existenzminimum pfänden.

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