Ob nackt oder angezogen, daheim oder im Büro – Selfies sind omnipräsent. Der Medienpädagoge Philippe Wampfler erklärt im Gespräch, welche Bedeutung digitale Selbstporträts für Jugendliche haben und was seine Schüler vom Fall Geri Müller halten.
Die Affäre um den grünen Nationalrat Geri Müller (AG) hat uns wieder einmal vor Augen geführt, wie schlecht sich die Privatsphäre in Zeiten der totalen digitalen Vernetzung schützen lässt. Gleichzeitig werden täglich Millionen Fotos in die Weiten des Internets hochgeladen. Namentlich in den sozialen Medien wie Facebook, Instagram, Twitter und Whatsapp kursieren viele Terrabyte an privaten Bildern. Auch wenn insbesondere Jugendliche diese neuen Medien intensiv nutzen, bewegen wir uns alle in diesem Spannungsfeld.
Wir sprachen mit dem Medienpädagogen Philippe Wampfler über das Phänomen Selfie und über die Verletzlichkeit der Privatsphäre. Ausserdem wollten wir wissen, wie es um die Medienkompetenz der «digital natives» steht, der modernen Jugendlichen also, die mit den neuen Medien aufgewachsen sind. Wampfler ist Mittelschullehrer an der Kantonsschule in Wettingen und hat soeben sein zweites Buch zu den Themen Jugend und soziale Medien publiziert («Generation Social Media»).
Herr Wampfler, als Medienpädagoge arbeiten Sie hauptsächlich mit Jugendlichen, geben jedoch auch Workshops für Erwachsene. Gibt es im Umgang mit den sozialen Medien etwas, was beide Altersgruppen gleichermassen beschäftigt?
Angesichts der immer stärkeren Vernetzung verspüren viele ein diffuses Unbehagen. Sie befürchten den Kontrollverlust.
Und wo liegen die Unterschiede?
Eltern wünschen sich oft eine Anleitung, wie sie ihre Kinder vor Gefahren am besten schützen können. Dieser Wunsch ist schwierig zu erfüllen. Denn die sozialen Medien sind einer der letzten Freiräume, wo Jugendliche sich noch ausserhalb der Kontrolle von Erwachsenen bewegen können. Sie wollen selbstständig ausprobieren können.
«Die meisten Mittelschüler nutzen Selfies schon fast ironisch. Sie machen es zwar, meinen es aber nicht wirklich ernst.»
Mit ihren diffusen Ängsten schränken Eltern also die Freiräume ihrer Kinder ein.
Wenn sie etwa darauf bestehen, die Chatprotokolle zu lesen, dann schränken sie aus Angst um die Privatsphäre ihrer Kinder genau diese ein. Es ist paradox. Viel besser wäre es, den Kindern eine Privatsphäre im Netz zu erlauben, und sie dabei zu begleiten, wie diese geschützt werden kann.
Wie wichtig ist da das Thema Selfies in Ihren Workshops und im Medienkunde-Unterricht?
Aus der Sicht der Eltern sind Selfies eher etwas Belustigendes, Befremdliches. Bei den Jungen wiederum hängt es davon ab, in welcher Gruppe sie sich bewegen und welchen sozialen Status sie innehaben. Die meisten Mittelschüler etwa nutzen Selfies schon fast ironisch. Sie machen es zwar, meinen es jedoch nicht wirklich ernst. An meiner Schule hat es ein Mädchen, das sich sehr sorgfältig kleidet und auffällige Frisuren trägt. Kürzlich hat sie mir erzählt, wie enttäuscht sie sei, dass in der Schule kaum jemand auf ihr Aussehen reagiere. Auf Instagram ist es oft einfacher, Komplimente einzuholen. Schon alleine deshalb, weil man sich dort oft in einem Kreis bewegt, der die gleichen Interessen teilt und im Falle dieses Mädchens ebenfalls ein modisches Bewusstsein hat. Selfies dienen also auch dazu, etwas Bestimmtes darzustellen. Eine Rolle zu festigen und ein Image zu pflegen.
Ob Selfies wichtig sind, hängt davon ab, in welcher Gruppe sich ein Jugendlicher bewegt. Was heisst das konkret?
An gewissen Zürcher Sekundarschulen gibt es kleine Instagram-Stars, also Schüler, die über 1000 Follower haben und die ihre Fotos mit einem künstlerischen Anspruch gestalten. So etwas hat natürlich eine grosse Ausstrahlung. Das heisst, in diesem Umfeld werden auch andere Jugendliche mehr und professionellere Selfies produzieren. Denn sie sehen, dass sich dadurch sozialer Status gewinnen lässt. In gewissen Mittelschulen werden dann genau diese Instagram-Kanäle mit Belustigung betrachtet. Diese Schüler betrachten eine solche Selbstdarstellung mit Geringschätzung und machen sich darüber lustig.
Was dann dazu führt, dass diese Schüler selbst «ironische» Selfies machen, als eine Art Unterschichts-Zitat?
So wie sie auch manchmal gebrochenes Deutsch oder einen Balkan-Dialekt sprechen. Indem sie diese Dinge imitieren, distanzieren sie sich davon.
Gibt es denn einen Zusammenhang von Bildungsstand und der Motivation, sich mit Selfies selbst zu inszenieren?
Es hängt eher mit dem Selbstbewusstsein zusammen. Ist es noch nicht gefestigt, sind Selfies eine Möglichkeit, Anerkennung zu erlangen. Selfies haben jedoch auch noch eine andere Dimension. Sie stellen eine Art Tagebucheintrag dar. «Ich habe das erlebt. Ich war dort. Ich habe jene Personen angetroffen. Das sind meine besten Freunde.» So wie wir früher stapelweise Passfotos mit uns herumtrugen. Und schliesslich sind Selfies Ausdruck der Selbstbestimmung. Dadurch, dass man sich selbst fotografiert, hat man die Kontrolle darüber, wie man öffentlich wahrgenommen wird.
Kennen Sie auch Jugendliche, die sehr gezielt und bewusst an ihrem Auftritt im Netz arbeiten und sich somit ein Image schaffen?
Das gibt es mit Sicherheit. Ein Junge, der Rapper ist, will diesen Lifestyle auf den sozialen Medien repräsentieren. Oder ein Mädchen, das Model werden will, wird sich in verschiedenen Outfits fotografieren. Mit den Selfies können sich Jugendliche schrittweise an ein ideales Bild herantasten, das sie gerne verkörpern würden.
Nervt es Ihre Schüler, wenn jetzt auch ihre Mütter Selfies machen?
Ja, sie finden es natürlich peinlich. Genau so, wie wenn die Mutter in den gleichen Jeans rumläuft wie ihre Tochter. Aber Jugendliche haben die Kunstform weiter entwickelt. Es geht längst nicht mehr nur darum, ein Bild von sich selber zu machen. Da wird mit Photoshop gearbeitet, die Form gesprengt, werden Schlagworte gesetzt. Diese ausgefeilten Techniken beherrschen die Eltern natürlich nicht. Sie imitieren bloss.
Auch Werber wollen sich die Selfies zunutze machen. Wenn beispielsweise in Kleiderläden in der Garderobe die Aufforderung steht, sich in den neuen Kleidern selbst zu fotografieren. Sprechen Jugendliche auf so etwas an?
Solche Werbekampagnen werden regelmässig zum Flop. Denn die Intention der Jugendlichen, selbstbestimmt Fotos zu machen, verträgt sich schlecht mit der Bevormundung durch eine Kleidermarke oder ein anderes Unternehmen.
Letztes Wochenende ist eine Geschichte ins Rollen gekommen um den grünen Nationalrat Geri Müller und Nacktselfies, die er verschickt haben soll. Lassen Sie solche Themen in Ihren medienpädagogischen Unterricht einfliessen?
Klar. Ich bespreche solche Fälle oft mit meinen Schülern und lasse sie ihre eigenen Medienpraktiken damit abgleichen.
Was ist die erste Reaktion Ihrer Schüler, wenn Sie solche Fälle ansprechen?
Ein Befremden. Viele können es überhaupt nicht verstehen, wie man sich so nackt präsentieren kann. Sie sagen, «so etwas würde ich nie tun». Das Besondere an diesem konkreten Fall ist, dass viele meiner Schüler Geri Müllers Kinder kennen. Deshalb finden sie es doppelt beschämend. Müller hat aus ihrer Sicht seine Rolle als Vorbild nicht wahrgenommen. Das Thema Sexting betrifft wohl nicht allzu viele Jugendliche. Nach meiner Einschätzung leben zwischen zehn und zwanzig Prozent der sexuell aktiven Jugendlichen ihre Sexualität auch medial aus. Das müssen jedoch nicht unbedingt Nacktbilder sein. Es können auch einfach erotische Bilder an den Freund oder die Freundin sein, als eine Art «Gutenachtgruss».
Kann ein Fall Geri Müller die Jugendlichen wachrütteln, indem sie dadurch der Risiken gewahr werden?
Ja, vor allem wenn sie sehen, wie Bilder aus einem privaten Zusammenhang an die Öffentlichkeit gebracht werden. Das betrifft unter dem Stichwort «revenge porn» vor allem erotische Bilder, die nach dem Ende einer Liebesbeziehung auf einschlägigen Webseiten veröffentlicht oder im Bekanntenkreis herumgereicht werden.
«Jugendliche sind oft doppelt unbedarft, medial und sexuell. Dass es so zu missglückten Erfahrungen kommen kann, ist wenig erstaunlich.»
Wie bewusst sind sich ihre Schüler der Verletzlichkeit ihrer Privatsphäre?
Dieses Bewusstsein haben immer noch zu wenige Jugendliche, aber es werden immer mehr. Gerade auch dank Fällen wie Geri Müller. Das Problem ist, dass die Jugendlichen immer früher mit sozialen Medien und Smartphones in Berührung kommen. Sie müssen den Umgang mit dieser Technologie erst noch lernen. Gleichzeitig fangen sie damit an, ihre Sexualität zu entwickeln. Das heisst, sie sind oft doppelt unbedarft, medial und sexuell. Dass es so zu missglückten Erfahrungen kommen kann, ist wenig erstaunlich.
Es gibt Leute, die finden, dass uns ein Fall Geri Müller gar nichts angeht. Wie beurteilen das Ihre Schüler?
Sie erleben das meist als eine Grenzüberschreitung. Die meisten Jugendlichen wollen nicht, dass ihre Selfies ausserhalb der intendierten Öffentlichkeit wahrgenommen werden. So treten sie beispielsweise auf Instagram oft unter Pseudonym auf, weil sie unter keinen Umständen wollen, dass Eltern und Lehrer sehen, wie sie sich dort präsentieren. Das Bewusstsein darum, dass jeder Anrecht hat auf Privatsphäre, ist sehr gross. Gerade weil sie natürlich wissen, dass ihnen das Gleiche passieren könnte. Sie differenzieren jedoch durchaus, bei Geri Müller zum Beispiel sehen viele ein berechtigtes öffentliches Interesse.