Strafrichter: «‹Rundschau›-Bericht war unseriös und niveaulos»

Strafrichter René Ernst erklärt, wann er Verdächtige überwachen lässt, wie er als Korrektiv gegen einsperrwütige Staatsanwälte wirkt und weshalb er den mutmasslichen Bankräuber von Riehen laufen liess.

«Wir winken die Anträge der Staatsanwaltschaft nicht durch, das ist Mumpitz», sagt René Ernst, Richter am Basler Zwangsmassnahmengericht.

In diesem Teil des Strafgerichts sind Medienbesuche selten. René Ernst führt uns durch den Verwaltungstrakt zu seinem Büro.

Während Journalisten im anderen Gebäudeteil, dem Saaltrakt, zu den treueren Zuschauern gehören, bewegen wir uns jetzt sozusagen auf die Schaltzentrale der Basler Strafjustiz zu. Hier werden Verhandlungen vorbereitet, Akten studiert und Urteile begründet. Aussenstehende haben hier normalerweise keinen Zutritt.

Unter Ausschluss der Öffentlichkeit fällt auch das sogenannte Zwangsmassnahmengericht (ZMG) seine Beschlüsse über Haft- oder geheime Überwachungsmassnahmen. Wird etwa eine Person des Einbruchs verdächtigt und von der Polizei festgenommen, muss die Staatsanwaltschaft (Stawa) danach beim ZMG Untersuchungshaft beantragen. Ebenso, wenn die Fahnder das Handy eines mutmasslichen Heroindealers abhören wollen.

Das ZMG geriet letzte Woche in die Kritik, nachdem SRF in einer Datenanalyse festgestellt hatte, dass diese Gerichte fast alle Anträge der Strafverfolger gutheissen. Der Vorwurf der Kabinettsjustiz wurde laut, auch in Basel.

René Ernst ist Gerichtspräsident am Basler Strafgericht und seit dem 1. Januar 2018 für das ZMG zuständig, zusammen mit einer weiteren Gerichtspräsidentin. Die Strafrichter besetzen diese Posten im Rotationsverfahren. Ernst gewährt uns Einblick in seinen Alltag als Richter am ZMG.

Die «Rundschau» hat in einer schweizweiten Umfrage herausgefunden, dass Zwangsmassnahmengerichte fast alle Gesuche der Strafverfolger gutheissen. Auch in Basel dürfte die Quote bei deutlich über 90 Prozent liegen. Spricht diese hohe Quote für die Qualität der Gesuche oder gegen die Sorgfalt der Gerichte?

Ich empfinde diesen Bericht der «Rundschau» als unseriös, weil nicht transparent gemacht wird, wie diese Daten erhoben wurden.

https://tageswoche.ch/gesellschaft/basler-stawa-kommt-mit-zwangsmassnahmen-fast-immer-durch/

Die Zahlen stammen immerhin von den Gerichten selbst …

Dennoch, die Daten werden nicht differenziert behandelt. Man hat eine Zahl in den Raum gestellt, 97 Prozent aller Gesuche würden gutgeheissen. Es gibt sehr invasive Zwangsmassnahmen wie Haft, aber auch weniger invasive Massnahmen wie zum Beispiel die Randdatenerhebung. Diese beiden Dinge kann man nicht miteinander vergleichen. Es gibt noch ein weiteres Problem: In Basel-Stadt zum Beispiel fordert die Stawa meist das Maximum von drei Monaten. Wir korrigieren diese Dauer in sehr vielen Fällen nach unten. Dann ordnen wir zwar Haft an, aber beispielsweise nur für zwei Wochen. Gilt ein solches Gesuch in der Umfrage der «Rundschau» als bewilligt? Alle diese Differenzierungen sind aus dieser Zahl von 97 Prozent nicht ersichtlich.*

Aus Ihrer Sicht ist die Aussage, Schweizer Zwangsmassnahmengerichte schauten den Strafverfolgern ungenügend auf die Finger, also unbrauchbar?

Absolut. Das ist Mumpitz.

Wie steht es denn um die Qualität der Gesuche, die Sie als Richter am ZMG beurteilen müssen?

Da gibt es grosse Unterschiede, manche Gesuche sind ungenügend. Schlecht formuliert, lückenhaft dokumentiert. Was aber nicht bedeutet, dass daraus ein negativer Bescheid resultiert.

Sondern?

Wir müssen den Antrag inhaltlich prüfen, egal wie schlecht er formuliert ist. Gerade wenn es um Haft geht, ist die Zeit meist knapp. Wenn die Stawa zum Beispiel wegen Kollusionsgefahr U-Haft beantragt, dürfen wir nur diesen Haftgrund prüfen.

Und diese Forderung muss dann konkret belegt werden können?

Genau. Und es gibt durchaus Fälle, in denen der Haftgrund nicht belegt werden kann. Dann bleibt mir nichts anderes übrig, als den Betroffenen wieder freizulassen. So wie ich das vor ein paar Wochen im Zusammenhang mit dem Banküberfall in Riehen gemacht habe. In ihrem Antrag hat die Stawa den Verdacht geäussert, der Betroffene käme für eine weitere Tat infrage, weshalb Kollusions- und Fortsetzunsgefahr bestehe. Dieser Verdacht war in den Akten nicht belegt, also liess ich den mutmasslichen Bankräuber laufen. Was ja dann vor allem in den sozialen Medien auf wenig Verständnis stiess. Vorwürfe von Kuscheljustiz wurden laut.

Ein Bankräuber auf freiem Fuss ist schon etwas erklärungsbedürftig.

Wir können nur prüfen, was man uns vorlegt. Bei Überwachungsmassnahmen können wir Gesuche auch zurückweisen und Nachbesserungen verlangen, bei Haft reicht die Zeit dazu nicht. Sitzt jemand ungerechtfertigt in Haft, wird der Staat schadenersatzpflichtig. Wir versuchen hier nach bestem Wissen und Gewissen, unsere Entscheide zu fällen. Und wir müssen das bestehende Recht anwenden, das gerade bei Haft enge Grenzen setzt.

Die Staatsanwälte reizen ihren Spielraum aus und fordern oft die maximale Haftdauer von drei Monaten. Ihre Aufgabe ist es, hier im Interesse des Rechtsstaates als Korrektiv zu wirken.

Selbstverständlich. Und das tun wir auch. Wenn man jetzt eine Statistik erheben würde, wie oft wir den Wünschen der Stawa eins zu eins entsprechen, wäre man wohl eher bei einer Quote zwischen 50 und 60 Prozent. Im Kanton Basel-Stadt kann also keinesfalls davon gesprochen werden, dass wir die Zwangsmassnahmen «durchwinken». Diese Aussage ist einfach falsch.

«Gerade Zwangsmassnahmen wie Telefonüberwachungen müssen geheim bleiben. Sonst sind sie wirkungslos.»

Was am ZMG geschieht, erhält kaum Öffentlichkeit. Transparenz besteht nicht. Können Sie den Vorwurf der Kabinettsjustiz nachvollziehen?

Mir leuchtet das schon ein. Aber gerade Zwangsmassnahmen wie Telefonüberwachungen oder V-Mann-Einsätze müssen geheim bleiben. Sonst sind sie wirkungslos.

Bei dem Fall in Solothurn, über den die «Rundschau» berichtet hat, konnte man schon den Eindruck bekommen, dass die Ermittlungen aus dem Ruder gelaufen sind.

Dieser Fall ist aber aus mehreren Gründen nicht repräsentativ. Zudem schien mir die Berichterstattung sehr einseitig und ehrlich gesagt etwas niveaulos. Der Verdacht, dass dieses junge Paar den beiden Kindern tatsächlich Gewalt angetan haben könnte, wurde recht beiläufig erwähnt. Eines der Kinder ist gestorben, das zweite wurde schwer verletzt. Wir sprechen hier von Kapitalverbrechen, und diese sollen auch mit allen Mitteln geahndet werden. Aus Zuschauersicht – ich kenne den Fall ja nicht direkt – würde ich den V-Mann-Einsatz dann allerdings auch als verfehlt beurteilen. Es war keine zielführende Massnahme. Wie kann man darauf hoffen, jemand würde eine solche Tat einer vermeintlichen Freundin anvertrauen. Das scheint mir eine unrealistische Erwartung.

«Telefon- und GPS-Überwachungen dürfen gemäss Gesetz nur bei schweren Straftaten angewendet werden.»

Bei den Haftgesuchen reizt die Stawa den Spielraum aus. Wie sieht es bei den Überwachungsmassnahmen aus?

In den allermeisten Fällen sind die Gesuche gerechtfertigt. Wir sprechen hauptsächlich von Randdatenerhebungen, aktiver Telefonüberwachung und GPS-Überwachungen. Und solche Zwangsmassnahmen dürfen gemäss Gesetz nur bei schweren Straftaten angewendet werden. Für GPS- und Telefonüberwachung gibt es sogenannte Katalogstraftaten. Etwa bei Verdacht auf qualifizierten Betäubungsmittelhandel oder qualifizierte Geldwäscherei. Eine Massnahme muss zudem verhältnismässig und erforderlich sein. Die Ermittlungen müssen feststecken und es muss belegt werden, dass sie nur mit Überwachungsmassnahmen vorangetrieben werden können. Was nicht nötig ist, wird auch nicht bewilligt.

Was sind denn konkrete Fälle, in denen Sie eine Überwachung bewilligen?

Randdaten werden oft in Fällen von sogenanntem Spoofing erhoben. Dabei geben sich Personen am Telefon beispielsweise als Mitarbeiter der Polizei aus und fordern dazu auf, schnellstmöglich das Bankkonto zu leeren, weil das Geld dort nicht mehr sicher sei. Sobald das Geld zu Hause ist, wird es von jemandem abgeholt. Solche Taten werden meist von organisierten Gruppen durchgeführt, oft aus dem Ausland. Ohne die Erhebung von Telefonranddaten würde man nie an Informationen zu den Hintermännern herankommen. Die aktive Telefonüberwachung wiederum wird oft beim Drogenhandel im Kilobereich eingesetzt. Dort sind ebenfalls ganz viele Menschen involviert – Abnehmer, Strassendealer, Zwischenhändler, Lieferanten. Solchen Netzwerken kommt man nur so auf die Spur. Es bleibt aber ein Kampf gegen Windmühlen, denn wenn man eine Bande aushebt, springt sogleich die nächste in die Bresche.

Was bedeutet aktive Telefonüberwachung?

Dass man die Telefongespräche und SMS, die über das überwachte Gerät laufen, inhaltlich aufzeichnet beziehungsweise mithören und -lesen kann.

Werden heute nicht hauptsächlich verschlüsselte Chat-Programme wie Threema genutzt?

Ich kann Ihnen nur sagen, was ich bewillige. Und das sind meistens aktive Überwachungen von Telefongesprächen und SMS. Die Unterscheidung von SMS und Chat-Programmen spielt für die Bewilligung keine Rolle.

Telefonüberwachungen sind arbeits- und ressourcenintensiv, vor allem wenn die Kommunikation in einer fremden Sprache erfolgt und Übersetzer beigezogen werden müssen. Es gibt also eine Grenze, wie viele Personen die Stawa überwachen kann.

Absolut. Oft werden diese Überwachungen auch an einem bestimmten Punkt abgebrochen. Man weiss zwar, dass man nur einem ganz kleinen Teil des Drogennetzwerkes auf der Spur ist, entscheidet sich aber dennoch für den Zugriff, weil man in diesem konkreten Fall genügend Belege gesammelt hat.

«Ich kann mich nicht erinnern, jemals eine Telefonüberwachung nur aufgrund eines anonymen Hinweises bewilligt zu haben.»

Von den geheimen Zwangsmassnahmen, also beispielsweise der Telefonüberwachung, erfahren Betroffene und ihre Strafverteidiger zwangsläufigt erst im Nachhinein. Sie werden mit dem ZMG-Entscheid und den Akten entsprechend dokumentiert. Erfahrene Verteidiger haben mir erzählt, dass das ZMG seine Entscheide oft aufgrund vager Informationen fällt – beispielsweise aufgrund anonymer Hinweise, diese und jene Handynummer sei in einen Drogenhandel involviert. Wie gründlich lassen Sie sich dokumentieren?

Ich kann mich persönlich nicht erinnern, jemals eine Telefonüberwachung nur aufgrund eines anonymen Hinweises bewilligt zu haben. Ein so dürftig begründetes Gesuch habe ich noch nie zu beurteilen gehabt. Meistens sind die Belege gründlicher. So lässt sich etwa der Tatverdacht auf qualifizierten Drogenhandel nur belegen, indem man von gewissen Mengen ausgeht, die über eine bestimmte Telefonnummer abgewickelt wurden. Eine einmalige Bestellung via SMS reicht nicht aus, um diese Nummer aktiv überwachen zu lassen.

Haben Sie auch schon einmal den Einsatz eines sogenannten Staatstrojaners bewilligt, mit dem die Computer von Verdächtigen ausspioniert werden können?

Ich bin nicht einmal sicher, ob das bewilligungsfähig wäre. Ich hatte aber definitiv noch nie ein solches Gesuch auf dem Tisch.

Geheime Überwachungen, Haftmassnahmen: Was landet sonst noch auf Ihrem Tisch?

Was merklich zunimmt, sind Gesuche um Entsiegelung von Datenträgern, oft von Mobiltelefonen. Es hat sich irgendwie herumgesprochen, dass man im Falle einer Beschlagnahmung von Datenträgern diese versiegeln lassen kann. Das wird immer öfter standardmässig verlangt. Doch die Versiegelung dient primär dazu, das Berufsgeheimnis etwa von Ärzten, Anwälten oder Journalisten zu schützen. Wir müssen am ZMG also in immer mehr Fällen die Entsiegelung beschliessen, wenn Betroffene dies zu Unrecht verlangt haben.

Nächster Artikel