Tamara Funiciello: «Ich lasse mich nicht zum Schweigen bringen»

Ein Journalist nannte sie die «meist gehasste Frau der Schweiz», sie erhielt Vergewaltigungs- und Morddrohungen. Der Grund: Tamara Funiciello hatte gesagt, Gewalt gegen Frauen beginne mit einem Witz, einem sexistischen Spruch oder einem Sommerhit wie «079» von Lo & Leduc. Die Folge: Shitstorm Nummer vier in Funiciellos Politkarriere. «Die Fresse halten» werde sie deswegen nicht, sagt die Präsidentin der Juso Schweiz im Gespräch.

«Der Grossteil der Männer, der Grossteil der Menschen, ist grundanständig» – Tamara Funiciello.

Vor dem Shitstorm war die Gewalt. Mitte August verprügelten Männergruppen in Genf und Zürich Frauen. Daraufhin sagte Tamara Funiciello, Präsidentin der Juso Schweiz, in einer Rede etwas, das die Schweiz mehr in Aufruhr versetzte als die Schlägereien selbst, nämlich: «Gewalt gegen Frauen ist wie eine Pyramide. Sie beginnt beim sexistischen Witz und der Belästigung und endet mit Vergewaltigung und Ehrenmord.»

Und jetzt kommt der Stein des Anstosses: In diesem Zusammenhang könne man auch das Lied «079» der Berner Musiker Lo& Leduc als sexistisch bezeichnen. Der Liedtext handelt von einem Mann, der eine Frau immer wieder nach ihrer Nummer fragt, obwohl sie Nein sagt.

Auf Funiciellos Kritik am Song folgte eine Welle der Empörung. Tamara Funiciello bekam Gewalt- und Morddrohungen, sie steht im Kontakt mit der Polizei. Von ihr selbst hörte man in den Medien nichts mehr, jetzt traf die TagesWoche sie zu einem Gespräch in Bern.

Bevor sich Tamara Funiciello an den Tisch des Café Einstein auf der Münsterplattform setzt, will die 28-Jährige etwas klarstellen: «Damit das jetzt nicht in die falsche Richtung läuft, möchte ich sagen: Ich bin kein Opfer.»

Wie meinen Sie das?

Mich dünkt, dass die Leute den Hass, den ich nun abbekomme, etwa so wie einen Horrorfilm konsumieren. Sie erschrecken sich, aber der Schrecken übt eine gewisse Faszination auf sie aus. Aber das ist nicht zum Konsumieren da. Was mir widerfahren ist, hat keinen Unterhaltungswert.

Werden Sie in die Opferrolle gedrängt?

Ich glaube, das passiert. Es gibt Leute, die mich lieber als Opfer sehen als in der Rolle der kämpferischen, lauten, sich nicht immer korrekt ausdrückenden jungen Frau. Sie können viel mehr damit anfangen. Meine Gedanken zu dieser Geschichte sind noch nicht ganz ausgereift, aber mir ist das einfach aufgefallen, dass viele Leute mit dieser Rolle von mir als Opfer viel besser leben können als mit der Rolle der selbstbewussten Präsidentin einer Partei. Das beschäftigt mich.

Tamara Funiciello ist Präsidentin der Juso Schweiz, Grossrätin des Kantons und Stadträtin der Stadt Bern.

Auf Facebook schrieben Sie, adressiert an die Trolle und Bedroher, dass Sie nicht daran denken, «die Fresse zu halten». Das war eine Kampfansage.

Ja, absolut. Ich lasse mich nicht zum Schweigen bringen. Jolanda Spiess-Hegglin sagt ja oft, von ihr erwartete man in ihrer Situation (sie wurde nach Vergewaltigungsvorwürfen nach der Zuger Landammannfeier an die Öffentlichkeit gezerrt, Anm. d. Red.), dass sie sich wie ein Opfer verhält. Dass sie still und leise ist, sich zurückzieht, nicht mehr über den erlebten Missbrauch redet. Aber sie macht einfach weiter, das beeindruckt mich.

Wie soll man denn auf Gewalt reagieren, sodass man sie ernst nimmt, ohne Opfer zu Opfern zu machen?

Ich habe keine Antwort darauf, wir Feministinnen müssen darüber nachdenken. Ich bin ja nicht die einzige Frau, die so etwas erlebt. Es gibt viele Politikerinnen, die regelmässig mit der Polizei Kontakt haben. Und die reden einfach nicht darüber, weil sie nicht in diese Position geraten wollen. Ich habe mich entschieden, darüber zu reden und das anzuprangern. Aber es macht einen zu einem gewissen Mass auch schwach. Und das finde ich eine höllenschwierige Ausgangslage.

Haben Sie deshalb bislang geschwiegen zu den Ereignissen der letzten Wochen?

Ich habe mir gut ausgesucht, mit wem ich dieses Interview hier mache. Ich rede nur mit denen, die mich nicht viktimisieren. Und man muss sagen, dass ich jetzt zwar mit Interview-Wünschen überhäuft werde, aber während des Shitstorms fast nicht angefragt worden bin.

Wie bitte?

Ja, nachdem ich diese Aussage zum Lied «079» von Lo & Leduc gemacht habe, hat Telebärn das aufgenommen. Ich gab ein einziges «Telebärn»-Interview, aber das Gespräch wurde meiner Meinung nach stark zusammengeschnitten, denn es ist ein komplexes Thema. Was dann passierte, war krass. Die Sache nahm eine unglaubliche Eigendynamik an, aber mich fragte niemand mehr.

Sie hatten eine Einladung von Roger Schawinski. Weshalb haben Sie sie ausgeschlagen?

Er hat kein Interesse, über das Thema Gewalt gegen Frauen zu reden. Ich will über Lösungen reden. Wir wissen jetzt alle, dass es Shitstorms gibt. Es ist nicht mein erster Shitstorm, es ist mein vierter oder fünfter. Die Leute sind jetzt darauf aufmerksam geworden, weil er so gross ist. Aber der erste Shitstorm traf mich viel mehr. Damals hatte ich keine Strukturen, ich wusste nicht, was passiert. Ich war völlig unerfahren.

War das der mit den verbrannten BH?

Nein, es gab noch einen vorher. Als wir uns hinter Lisa Bosia Mirra stellten, die drei junge Flüchtlinge über die Grenze brachte. Das räbelte gewaltig, auch im Tessin und in Italien. In Bern gab es gleichzeitig eine rechtsextreme Demonstration, aber viele Politiker hielten sich zurück. So war die Juso am Schluss mit dem schwarzen Block auf der Strasse und fand, dass Rassisten hier nichts zu suchen haben. Damals erhielt ich zum ersten Mal Gewaltdrohungen und musste einen Umgang damit finden. Ich hatte damals Jolanda Spiess-Hegglin, die irgendwann mit ihrem Verein Netzcourage auf meiner Matte stand und sagte: Ich weiss, was bei dir abgeht und ich kann dir helfen.

Und das konnte sie?

Ja.

Wie reagiert man auf einen Shitstorm?

Ich schirme mich ab, aber jede Person geht anders damit um. Ich muss einfach nicht alles lesen und sehen.

https://tageswoche.ch/form/interview/jolanda-spiess-hegglin-wahrscheinlich-steckt-in-uns-allen-ein-hater/

Sie können den Shitstorm von sich fernhalten?

Ja, ich gebe alle meine Social-Media-Kanäle ab, weil Social Media auch einfach kein Abbild der Realität ist.

Haben Sie nach der Aussage über «079» derartige heftige Reaktionen erwartet?

Nein, überhaupt nicht. Es war ein halber Satz in einer Rede über Gewalt an Frauen. Ausserdem hatte ich ja noch einen Politologen an meiner Seite, der mir recht gab.

Zuerst hat er gegrinst.

Ja, aber nachher sagte er fairerweise, er habe sich das länger überlegt und finde die Kritik berechtigt. In meiner Rede, wo die Aussage zu «079» fiel, wollte ich aufzeigen, dass Sexismus wie ein Eisberg ist. Wir sehen die Spitze davon, wenn es um Gewalt geht, aber alles andere sehen wir nicht. Und ich sage einfach: Dieses Lied, in dem ein Mann einer Frau nachstellt und ihr Nein nicht akzeptiert, ist genau gleich wie Zigtausend Bücher, Zigtausend Filme, die wir konsumieren. Es ist ein winziger Bestandteil dieses Eisbergs. Nicht mehr und nicht weniger. Das ist meine Aussage. Ich fand: Denkt mal darüber nach, die Sicht der Frau kommt im Lied überhaupt nicht vor. Und die Künstler geben mir im Übrigen recht.

Die beiden Musiker Lo & Leduc fühlten sich falsch verstanden, fanden aber die Diskussion über ihren Songtext zulässig.

Als ich das Interview bei «Telebärn» gab, schrieb ich Lo & Leduc ein SMS und sagte, das kommt jetzt, das sollt ihr wissen, aber es geht nicht um euch. Sie hatten kein Problem damit. Dann ging die Geschichte höllenhoch und sie gaben ein Statement ab und seither stehen wir in Kontakt. Sie haben sich nie rausgenommen aus der Debatte, das finde ich sehr angenehm, das muss ich wirklich sagen.

Die Künstler verurteilten die Hassreaktionen, sie riefen zur Mässigung auf. Warum konnte nichts die Welle, die über Sie hereinbrach, stoppen?

Man will in diesem Land nicht über Gewalt an Frauen diskutieren… Nein, falsch: Über Gewalt an Frauen diskutiert man, aber über Männergewalt diskutiert man nicht. Man will nicht darüber reden, man externalisiert das Problem, schiebt es auf Migranten.

Es gab einen SRF-Club über Gewalt an Frauen, «Telezüri», «Telebasel», der «Tagi», die WOZ, «Watson», NZZ, «Blick», die TagesWoche: Sie alle berichteten über Gewalt an Frauen. 

Aber nicht über Männergewalt. Wir haben nach dem Vorfall in Genf (Männer verprügelten fünf Frauen, Anm. d. Red.) in fünf Städten Demonstrationen organisiert. Es kamen 500 oder 600 Leute. Das sind nicht viele, gemessen an dem, was passiert ist und was Frauen täglich an Gewalt erleben.

«Es besteht ein Zusammenhang zwischen der systematischen Abwertung von Frauen und der Gewalt.»

Wo sehen Sie die Ursache der weit verbreiteten Gewalt gegen Frauen?

In der strukturellen Abwertung von Frauen. Es führt zu Gewalt, wenn man Frauen als minderwertig wahrnimmt. Weil Männer das Gefühl haben, sie hätten Macht über andere Menschen, im Speziellen über Frauen, und Probleme mit selbstbewussten Frauen haben, die Nein sagen. Das ist in Genf passiert, da hat eine Frau gesagt, nein, ich will das nicht, und wird dann verprügelt. Das passiert immer wieder. Ich bin überzeugt davon, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der systematischen Abwertung von Frauen und der Gewalt.

Gemäss Kriminalstatistik sind die meisten Opfer von Gewalt und Tötungsdelikten Männer.

Ja, von Männergewalt sind auch Männer betroffen. Lösen wir das Problem der Männergewalt, profitieren auch Männer.

Warum generalisieren Sie? 

Was ich spannend finde: Wenn man bei Männern generalisiert, drehen alle am Rad. Bei Ausländern ist es genau umgekehrt. Da gerät man in die Kritik, wenn man nicht verallgemeinert. Zum Glück ist der Grossteil der Männer grundanständig. Genau wie der Grossteil der Menschen mit andersfarbigen Pässen. Mein Kampf ist ja nicht Männli gegen Frauen. Mein Kampf ist zwischen denen, die bereit sind, die diskriminierenden Strukturen abzuschaffen, und denen, die daran festhalten, zum Beispiel FDP-Nationalrat Walter Müller (SG), der die grosse Zustimmung von Frauen zur Fair-Food-Initiative mit dem angeblichen Wesen der Frau erklärte.

Er sagte, Frauen seien halt emotionaler und hätten ein Herz für Tiere. 

Ich habe gedacht: Dass du so etwas sagen und deinen Posten in der Öffentlichkeit behalten darfst, ist einfach eine Frechheit. Man hat das Gefühl, Frauen seien gleichgestellt und hätten gleich viel zu sagen in unserer Gesellschaft. Und das stimmt einfach nicht. Jede Frau, die mal in einer Sitzung mit Männern gesessen hat, weiss, dass das nicht stimmt. Sie weiss, wenn sie etwas sagt, wird das nicht gleich ernst genommen, dass ihre Kompetenzen infrage gestellt werden, dass sie sich alles erkämpfen muss.

«Ich stelle mich gegen jeden Täter, egal, welchen Pass er hat, egal, welche Beweggründe er hat, egal, wie viel Alkohol er konsumiert hat.»

Kriminalstatistiken zeigen, dass die meisten Täter und Opfer von häuslicher Gewalt Migranten sind. Wie können Sie sagen, dass wir hier kein Ausländerproblem haben?

Ja, gemäss Statistik haben knapp über 50 Prozent der Täter einen ausländischen Pass. Aber was machen wir denn mit den restlichen fast 50 Prozent der Täter? Geben wir uns ein High Five und sagen, die Mehrheit ist nicht Schweizer? Wenn wir alle Ausländer ausweisen, haben wir immer noch Männer, die Frauen schlagen in der Schweiz. Die SVP ist da inkonsequent. Sie sind die Softies, weil sie nur 50 Prozent anschauen.

Sie sind härter als die SVP?

Ich stelle mich hinter jede Frau, egal in welchem Land. Und ich stelle mich gegen jeden Täter, egal, welchen Pass er hat, egal, welche Beweggründe er hat, egal, wie viel Alkohol er konsumiert hat. Wenn ihr ein Alkoholproblem habt, dann lasst euch helfen – aber schlagt nicht eure Frau. Punkt. Ich akzeptiere all diese Entschuldigungen nicht mehr, und zwar international. Rebecca Solnit spricht in ihrem Buch «Wenn Männer mir die Welt erklären» von einer Gewaltepidemie gegen Frauen.

Gewaltepidemie?

Männliche Gewalt ist für Frauen zwischen 15 und 44 die Haupttodesursache weltweit. Sie sterben häufiger durch einen Mann als an Krebs, Malaria, Krieg, Autounfällen und weiss der Henker was alles zusammen. Und wir sagen: Es ist ein Ausländerproblem? Und in Spanien sagen sie: Es ist ein Ausländerproblem? Und in Indien sagen sie: Es ist ein Ausländerproblem? Nein, es ist ein Männerproblem.

«Stellt euch vor, Frauen hören auf, Kinder zu gebären. Sie sind sich ihrer Macht oftmals gar nicht bewusst.»

Und jetzt kommt Tamara Funiciello und sagt, die Wurzel des Problems liege in unserem Alltag, unserer Kultur, unserer Musik. Es ist schwierig, das anzuerkennen.

Ja, weil es nicht nur beschissen ist, Privilegien zu verlieren. Es ist bereits beschissen, anzuerkennen, dass man Privilegien hat.

Das Privileg, Frauen hundertmal nach ihrer Nummer zu fragen, wie im Lied «079»?

Zum Beispiel. Frauen wie Männer werden über Filme, Bücher, Lieder dazu erzogen, dass wenn eine Frau Nein sagt, sie das nicht als Nein meint. Eigentlich will sie, dass man nochmals fragt. Eigentlich will sie, dass man sie zu einem Drink einlädt. Eigentlich will sie, dass du antanzt, Blumen schickst, ihr folgst. Mir erzählten so viele Frauen, die gestalkt wurden, wie schlimm diese Erfahrung ist: Du sagst Nein, und es wird nicht akzeptiert. Diese Männer verschwinden einfach nicht. Und was macht die Polizei? Im besten Fall sagt die Polizei, er darf sich nicht näher als auf 100 Meter nähern. Mein Handy hat eine grössere Reichweite als 100 Meter.

Wie konnte sich an diesem Gedanken eine solche Empörung entwickeln?

Feminismus ist so schwierig, weil er runterbricht bis zum einzelnen Individuum. Du musst dich selber auch hinterfragen, nicht nur die Gesellschaft als Ganzes. Du musst dir überlegen: Was ist mir alles von dieser Gesellschaft eingepflanzt worden? Und wie verhältst du dich anders gegenüber Frauen und Männern, nur weil sie ein anderes Geschlecht haben? Das ist ein schwieriger Schritt. Ohne Kontext ist die Aussage: «079 ist sexistisch» auch einfach ein bisschen komisch. Das klingt ein bisschen wie: Jedes Hochhaus ist sexistisch, weil es als Phallussymbol interpretiert werden kann.

Das ist der Titel unseres Interviews: Tamara Funiciello – «das Hochhaus ist ein sexistisches Phallussymbol».

Puuh, Eskalation. Im Ernst: Ich glaube, viele Leute dachten nach meiner Aussage über sich selber: «Ich könnts auch sein, mich könnts auch betreffen.»

Und dann wirds unbequem.

Ja. Sorry, Feminismus ist nicht pink und flauschig. Feminismus eckt an, Feminismus heisst, sich jeden Tag mit sich selber auseinanderzusetzen. Es wäre huere nice zu sagen, Feminismus heisst zu fordern, wir hätten gerne 50 Prozent CEOs.

«Ich bin Migrantin, ich sehe nicht so aus, wie sie wollen, ich fluche gern und heftig, ich schweige nicht, ich spreche Sachen an.»

Sind Hass und Hetze der Preis, den Sie für Ihre konfrontative Art des Politisierens bezahlen müssen?

Es kommt nicht drauf an, in welchem Stil ich Sachen anspreche. Es kommt drauf an, über welche Themen ich spreche. Wenn ich zu Feminismus und Rassismus etwas sage, kannst du sicher sein, dass wie auf Knopfdruck etwas passiert. Wenn ich etwas zur Umwelt sage, interessiert das niemanden.

Also kommts aufs Thema an.

Und aufs Geschlecht. Es werden auch Frauen angefeindet, die viel ruhiger sind als ich. Sorry, Simonetta Sommaruga – DAS ist die meistgehasste Frau im Land, wenn man die Anzahl Drohmails anschaut. Und es gibt wohl nicht zwei Politikerinnen, die so unterschiedlich politisieren wie sie und ich. Es gibt Leute, die schreiben mir in den Mails «PS Hässlich bist du auch noch». Und ich denke so: Es ist imfall ein Mail. Du kannst es auch obenrein schreiben. Diese Leute sind komplett überfordert: Ich bin Migrantin, ich sehe nicht so aus, wie sie wollen, ich fluche gern und heftig, ich schweige nicht, ich spreche Sachen an. Viele Leute schreiben mir: «Geh dorthin, wo du hingehörst.»

Wo gehören Sie denn hin?

Sie können es mir nicht sagen.

Einfach weg von hier.

Ja, genau. Geh weg, sei ruhig, mach keine Politik mehr. Was wollt ihr mir sagen? Soll ich an einen geografischen Ort, soll ich in die Küche?

Haben Sie die Karikatur in den «Schaffhauser Nachrichten» über Sie gesehen?

Ich habe sie vor allem gehört, weil nachher mein Telefon ständig geläutet hat, weil die Zeitung in der Karikatur meine Natelnummer veröffentlicht hat.

Wie oft hat es geläutet?

Hey, die ersten paar Tage ist es völlig ausgeartet. Ich höre meine Combox nicht ab, ich weiss nicht, was da alles drauf ist. Ich hörte die erste Nachricht, da war eine Gruppe von Leuten, die reinriefen: «Äh, Tamara, fick diiiiii.» Und dann dachte ich: okay, fertig Combox. Das ist nicht schlimm.

«Feminismus ist eine Brücke. Wenn du sie betrittst, fällt alles hinter dir zusammen und du kannst nicht mehr runter.»

Die Karikatur in den «Schaffhauser Nachrichten» vermittelte die Aussage, niemand wolle Sie anrufen, weil sie unattraktiv seien. Verletzt Sie das?

Nein, ich beziehe meinen Selbstwert nicht von anderen Leuten. Damit habe ich einfach mal aufgehört. Ich muss mit mir selber zufrieden sein. Was ich schlimm finde, ist, dass meine Telefonnummer drauf war. Da wird mir Zeit entzogen, in der ich Besseres zu tun hätte. Sorry, das nervt mich. Und Lo & Leduc könnten sich ja auch darüber aufregen, dass sie so klein gezeichnet wurden.

Auch SVP-Nationalrat Thomas Matter zieht gerne über Ihr Äusseres her.

Den beschäftige ich höllenfest. Das ist jetzt glaubs das dritte oder vierte Video, das er über mich gemacht hat. Wobei ihm jeweils nicht mehr einfällt als: Du bist fett. Das ist das Niveau eines sechsjährigen Kindsgikinds.

Wie sind Sie eigentlich im Feminismus gelandet?

Zuerst bin ich Gewerkschafterin geworden. Mein Vater hat den Job verloren, die Fabrik wurde geschlossen, er hat gestreikt. Deshalb bin ich schnell Gewerkschafterin geworden und habe mich aktiv beteiligt. Und nachher bin ich in den Studirat gegangen und hatte dort eine Diskussion mit einer Frau. Es ging darum, ob es Fussgänger- oder Fussgängerinnenstreifen heissen soll und ich sagte: Sorry, wir haben echt grössere Probleme auf dieser Erde. Und da sagte sie dann: Mädchen, wir müssen reden. Danach lasen wir viele Bücher zum Thema und seither bin ich überzeugte Feministin. Und ich werde je länger, je radikaler. Eine gute Kollegin sagte mir, Feminismus sei eine Brücke. Wenn du sie betrittst, fällt alles hinter dir zusammen und du kannst nicht mehr runter.

Klingt belastend.

Ja, es wird immer beschissener, du siehst immer mehr Bereiche und Strukturen, in denen Frauen weniger zu sagen haben. Und du denkst: Das Leben war so gut, als du dachtest, wir hätten alle die gleichen Chancen. Ich frage mich, ob das heutige revolutionäre Subjekt wirklich Arbeiterinnen und Arbeiter sind. Und nicht Frauen aus einer care-ökonomischen Überlegung heraus.

Der Umsturz kommt von der Krankenschwester?

Stellt euch vor, die hört auf zu arbeiten.

Und die Kinderbetreuerin in der Kita und die Sozialpädagogin im Behindertenheim.

Und stellt euch vor, Frauen hören auf, Kinder zu gebären.

«Heute hast du Macht aufgrund deines Kontostandes, deines Geschlechts. Das ist doch nicht richtig.»

Studien zeigen, dass der Kinderwunsch bei Frauen ausgeprägter ist als bei Männern.

Wir müssten uns aber überlegen, woher dieser Wunsch kommt. Ich denke nicht, dass er etwas mit dem biologischen Geschlecht zu tun hat, eher mit der gesellschaftlich konstruierten Rolle. Doing Gender würde Judith Butler sagen. Aber zurück zum Nicht-Gebären: Wir hätten die Macht. Das heisst nicht, dass wir das Bewusstsein für die Macht haben. Ich weiss auch nicht, ob es funktionieren würde oder ob die Reaktion darauf wäre, dass Männer Frauen vergewaltigen, um Kinder zu machen. Oder ob sie dann in China eine künstliche Gebärmutter entwickeln. Spannend wäre es aber schon.

Ist der gemeinsame Nenner Ihrer Politik die Sehnsucht nach dem Umsturz? Ist Ihr Ziel, den Mächtigen die Macht wegzunehmen?

Ist das denn ein schlechtes Ziel, Macht wegnehmen? Vor allem, wenn sie darauf beruht, dass du Schwein hattest, in der Schweiz geboren zu sein mit einem Schweizer Pass, weiss zu sein, ein Mann zu sein, hetero…

Sie sind doch mittlerweile selber in einer Machtposition angelangt.

Ich bin keine Anarchistin, ich bin nicht der Meinung, dass man Macht auflösen kann. Aber es ist wichtig, dass Macht demokratisch gegeben und weggenommen werden kann. Das ist heute nicht der Fall. Heute hast du Macht aufgrund deines Kontostandes, deines Geschlechts. Das ist doch nicht richtig. Man kann doch nicht auf die Idee kommen, dass das fair ist. Chancengleichheit ist ein urliberaler Gedanke. Im Moment vertrete ich Positionen des Liberalismus, was ein bisschen traurig ist für eine bekennende Sozialistin.

Haben Sie manchmal die Befürchtung, dass Ihr Beispiel abschreckt? Dass sich Frauen gewisse Kämpfe nicht mehr zutrauen aus Angst vor heftigen Reaktionen?

Ich kämpfe dafür, dass irgendwann eine Frau meinen Job machen kann, die das nicht alles aushalten muss. Ich will, dass meine Nachfolgerin das nicht erleben muss. Wir lernen aus jedem Shitstorm, analysieren ihn penibel, mit wissenschaftlichen Arbeiten. Wir bauen Strukturen auf, wir binden die SP ein. Wir haben es geschafft, ein Frauenjahr zu lancieren in der SP, das ist eine riesige Sache.

Sehen Sie sich in einer Märtyrerrolle?

Nein, überhaupt nicht. Vor allem, da ich weiss, wie viel Schoggi und Liebe ich brauche nach so einem Shitstorm.

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