Sibel Arslan, wie nehmen Sie die Verunsicherung in der kurdischen Gesellschaft in Basel wahr?
Kurdisch-, aber auch türkischstämmige Baslerinnen und Basler sind beunruhigt wegen den autoritären Entwicklungen in der Türkei, die sie selbst oder ihre Bekannten betreffen. Entsprechend wenden sich Leute mit ihren Anfragen an mich.
Was für Sorgen sind das?
Es geht um Familienmitglieder in der Türkei, die Probleme mit den Behörden haben, aber auch um Vorfälle hier. Etwa, wenn ein Polizeibeamter Informationen sammelt oder wenn der Staatsschutzbericht erscheint, der die Gesellschaft spaltet, der Angst sät. Viele fragen sich, ob sie noch sicher sind in der Schweiz. Als ich in der Türkei war, habe ich von Menschen erfahren, die vorgeladen wurden, weil ein Verwandter in der Schweiz einen regierungskritischen Beitrag auf Facebook geteilt hat. Die Verunsicherung ist gross, weil die Menschen hier spüren, dass ihre Handlungen auch Auswirkungen auf Bekannte und Verwandte in der Türkei haben.
Beeinflusst das Ihre politische Arbeit?
Ich verstehe mich als Basler Vertreterin im Nationalrat. Aber natürlich gehöre ich auch dieser Community an. Diese ist aber heterogen. Sie reicht von türkischen Linken über politische aktive Kurden, Kemalisten, Sunniten, Aleviten und Christen bis zu unpolitischen jungen Secondos. Sie erwarten von mir, aber auch von anderen türkisch-kurdischen Politikerinnen und Politikern, dass wir uns für ihre Anliegen engagieren und sie in persönlichen Angelegenheiten unterstützen. Dies kann Unterstützung bei der Lehrstellensuche bis zur Hilfe in der Not sein, wenn jemand verhaftet worden ist.
Das klingt nach Überlastung.
Ich bin die einzige nationale Parlamentarierin mit türkisch-kurdischem Hintergrund. Da kann es schnell passieren, dass die Leute enttäuscht sind, weil ich nicht alle ihre Anliegen umsetzen kann. Aber es ist nun mal so, dass unsere Möglichkeiten als Bundesparlamentarier begrenzt sind, Einfluss zu nehmen. Ich versuche, den Erwartungen gerecht zu werden, aber ich stosse auch an politische Grenzen und die wirksamste Arbeit ist nicht immer die, die man am besten sieht.
Nein sagen, wenn jemand eine Lehrstelle für den Sohn will, geht vermutlich gut. Wenn es um Existenzen geht, dürfte das schwieriger sein.
Es gibt Fälle, wo man rasch entscheiden und handeln muss. Da versuche ich, die richtigen Ansprechpersonen zu vermitteln, die Schweizer Vertretung zu informieren oder einen Anwalt zu organisieren. Ich deponiere diese Themen auch in der aussenpolitischen Kommission.
Wird Ihr Einfluss als Parlamentarierin überschätzt?
Türkische Abgeordnete haben sicher mehr Einflussmöglichkeiten. Wenn jemand mit einer signierten Visitenkarte eines Abgeordneten zu einer Behörde geht und einen Gruss ausrichtet, hilft das bei der Lösung des Problems… Deshalb muss ich manchmal erklären, dass das bei uns anders funktioniert.
«Man darf nicht vergessen, dass die Türkei drei Millionen Flüchtlinge aufgenommen hat.»
Vor ein paar Monaten haben Sie einen Artikel der türkischen Zeitung Sabah, die zum Erdogan-Clan gehört, verbreitet. Das hat Ihnen viel Kritik eingebracht. War das ein Fehler?
Nein, ich will die Dinge differenziert anschauen und zur Diskussion stellen. Im Artikel ging es darum, dass ein UN-Spezialist der Türkei attestierte, grosse Anstrengungen zu unternehmen, um Flüchtlinge zu versorgen und in die Arbeitswelt zu integrieren. Man darf nicht vergessen, dass die Türkei drei Millionen Flüchtlinge aufgenommen hat, während sich die Schweiz ausgesprochen schwer damit tut. Wenn man nun Kritik übt, nur weil der Artikel für einmal ein positiveres Licht auf die Türkei wirft, nehme ich das zur Kenntnis.
Jedenfalls werden Sie extrem genau beobachtet.
Das ist ja eigentlich gut für eine Politikerin. So kann ich Diskussionen anregen.
Es war nicht die erste Kritik an Ihnen wegen Ihres Umgangs mit der Türkei. Ein Treffen mit dem türkischen Botschafter sorgte ebenfalls für Aufregung. Warum sprechen Sie mit ihm, wenn doch klar ist, welche Interessen er vertritt?
Ich bin Parlamentarierin und das ist meine Rolle. Der Botschafter ist für uns Schweizer unsere Ansprechperson bei Themen zur Türkei. Er ist die offizielle Vertretung der Türkei und die Stelle, Kritik zu deponieren und um Fragen zu stellen. Ich hatte den ehemaligen Botschafter übrigens auch schon früher einmal besucht, als ich ihm einen Brief übergeben habe, wo sämtliche Schweizer Politiker mit türkisch-kurdischem Hintergrund die Wiederaufnahme der Friedensgespräche einforderten. Dieselben Personen, die meinen Besuch heute kritisieren, unterstützten mich damals. Zudem bin ich Mitglied der Aussenpolitischen Kommission und der parlamentarischen Gruppe Schweiz-Türkei.
«Niemand hat etwas davon, die Beziehungen zur Türkei mit harschen Worten weiter zu belasten.»
Während andere Politiker und Aktivisten die Türkei meiden müssen, reisen Sie regelmässig dorthin. Auch das sorgt für Unverständnis.
Was tue ich dort? Ich besuche NGOs, Journalisten, Oppositionelle, aber auch meine Familie. Es tut mir sehr leid, dass gewisse Leute nicht in die Türkei reisen können. Aber ich habe auch einen politischen Auftrag, wenn ich dort unterwegs bin. Ich war in den umkämpften Kurdengebieten, in zerstörten Städten wie Sur in Diyarbakir. So kann ich mir vor Ort ein Bild machen. Ich werde auch weiterhin in die Türkei reisen – immer im Wissen, dass es vielleicht irgendeinmal nicht mehr möglich sein wird.
Vermeiden Sie gewisse Dinge, gewisse Aussagen, um dieses Privileg nicht zu verlieren?
Als nationale Politikerin habe ich eine andere Rolle als eine Aktivistin. Ich will etwas Konkretes für die betroffenen Menschen erreichen, was mit sich bringt, dass ich meine Worte mehr abwäge. Ich kritisiere die Türkei, wenn es um Menschenrechtsverletzungen geht, aber diese Kritik darf das Gespräch nicht verunmöglichen. Niemand hat etwas davon, die Beziehungen zur Türkei mit harschen Worten weiter zu belasten.
«Die Schweiz tauscht ihre Informationen mit anderen Geheimdiensten, auch mit dem türkischen.»
Vor zwei Jahren wurden Sie mit einem hauchdünnen Vorsprung in den Nationalrat gewählt. Haben Sie Angst, entscheidende Stimmen zu verlieren, wenn Sie sich nicht konform zur kurdisch-linken Wählerschaft verhalten?
Die Wahlen waren knapp, und sie werden wieder knapp ausgehen in zwei Jahren. Ich werde wie alle anderen auch kämpfen müssen, aber ich werde mich nicht verbiegen. Meine politischen Werte haben sich in den letzten 13 Jahren nicht verändert. Es gab schon damals Kritiker, die mich nicht gewählt haben – diese werden mich auch in zwei Jahren nicht wählen. Ich engagiere mich in Bundesbern auch für viele andere Anliegen wie soziale Gerechtigkeit und Klimaschutz und wurde von vielen Baslerinnen und Baslern gewählt, für die mein türkisch-kurdischer Hintergrund kein Argument war. Ich hoffe, dass meine Wählerinnen und Wähler sehen, was ich leiste.
Unternimmt die Schweiz genug, den Menschen hier die Angst zu nehmen?
Nein, das tut sie leider nicht. Ein wichtiges Problem stellt sich bei Interpol. Es gibt anerkannte Flüchtlinge hier, die Angst haben, in andere europäische Länder zu reisen, weil die Türkei über Interpol nach ihnen weltweit fahndet, auch wenn sie schon lange nicht mehr politisch aktiv sind. Da bin ich dran. Aber auch in Basel laufen Dinge schief, wenn etwa der Staatsschutz gewisse Leute als Angehörige einer Terrororganisation bezeichnet und sie fichiert. Ich wünsche mir da mehr Sensibilität. Diese nachrichtendienstlichen Berichte können schlimme Konsequenzen haben, wenn Betroffene in die Türkei reisen. Die Schweiz tauscht ihre Informationen mit anderen Geheimdiensten, auch mit dem türkischen. Da kann es nicht sein, dass irgendwelche Annahmen getroffen werden und in Akten einfliessen.
Und auf Bundesebene?
Das Aussendepartement EDA dürfte sich viel engagierter einbringen und zwar nicht nur im Zusammenhang mit der Türkei. Wenn ein Schweizer Staatsbürger irgendwo verhaftet wird, muss die Schweiz einen Rechtsbeistand organisieren und zwar sofort. Was die Schweiz anbietet, ist einzig eine Hotline, von der kaum einer weiss. Es fehlt aber auch an einer klaren Haltung. Die Schweiz macht mit Ländern, die Menschenrechte mit Füssen treten, wirtschaftliche Verträge, etwa ein Freihandelsabkommen mit Bahrain, wo Leute in den Gefängnissen verschwinden.