Präsident Tayyip Erdogan liess die Chefs der prokurdischen Parlamentspartei HDP verhaften. Die Basler Nationalrätin Sibel Arslan findet, die Schweiz müsse sich deshalb mehr einmischen.
Die Basler Nationalrätin Sibel Arslan (BastA!) wurde am Freitagmorgen jäh geweckt. Freunde aus der Türkei schrieben ihr SMS und riefen an. Türkische Polizeieinheiten hatten in Diyarbakir den Co-Vorsitzenden der drittgrössten Partei des Landes, Selahattin Demirtas, in Haft genommen.
Gegen Demirtas laufen in der Türkei über 100 Verfahren. Ihm wird vorgeworfen, die in der Türkei verbotene Kurdenpartei PKK zu unterstützen. Er forderte die PKK zwar mehrfach auf, die Waffen niederzulegen, doch er lehnte es ab, die Partei als Terrororganisation zu bezeichnen.
Auch der Co-Parteichef der drittgrössten Parlamentspartei, Figen Yüksekdag, wurde im Rahmen einer «antiterroristischen Operation» abgeführt. Das berichtete eine türkische Nachrichtenagentur. Zuletzt liess der türkische Präsident Erdogan auch Journalisten von kritischen Tageszeitungen verhaften.
Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) hat sich zu den Vorfällen noch nicht geäussert. In Bern fand angesichts der Entwicklungen am Freitagnachmittag eine Demonstrationen der Grünen statt. Um 18 Uhr soll auch auf dem Marktplatz in Basel gegen die Zustände in der Türkei demonstriert werden.
«Zurückhaltung und Abwarten nützen nichts. Die Schweiz muss schnell handeln.»
Frau Arslan, wie ist die Stimmung in der Türkei?
Die Leute sind aufgeregt und sehr besorgt. Das Vorgehen der türkischen Justiz ist höchst bedenklich. Stellen Sie sich vor, in der Schweiz werden willkürlich Abgeordnete einer Oppositionspartei verhaftet. Das ist unvorstellbar! Wir würden uns alle für diese Parlamentarier einsetzen – egal von welcher Partei wir sind.
Was kann die Schweiz tun, um die Situation in der Türkei zu verbessern?
Zurückhaltung und Abwarten nützen nichts. Die Schweiz muss schnell handeln. Einerseits muss sie sich klar zu den Verhaftungen äussern. Andererseits sollte sie eine unabhängige Delegation in die Türkei entsenden, die den Prozess der verhafteten HDP-Abgeordneten und Journalisten begleitet. Man könnte auch hier Gespräche führen mit dem türkischen Botschafter und auf dem Konsulat.
Am Donnerstag war der türkische Aussenminister in Bern. Didier Burkhalter äusserte dezidierte Kritik – vor allem an der Überlegung, die Todesstrafe wiedereinzuführen. Er sagte aber auch, mit Drohungen erreiche man nichts. Wie müsste der Bundesrat denn reagieren?
Drohungen sind sicher der falsche Weg. Der Bundesrat könnte aber klar zum Ausdruck bringen, was er von den Entwicklungen hält. Zum Beispiel, dass diese Art von Vorgehen gegen unsere Vorstellung von Demokratie und Menschenrechten verstösst. Als Geschäftspartner, aber auch Mitglied des Europarats – wo die Türkei auch Einsitz hat – könnte die Schweiz noch stärker betonen, was man von einem Partner erwartet.
Haben die Äusserungen eines Schweizer Staatsoberhaupts überhaupt ein Gewicht beim türkischen Regime?
Die europäischen Länder müssen sich gemeinsam äussern. Der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck macht vor, was andere auch tun müssten. Gemeinsam können wir sicher etwas erreichen. Man muss aber auch über die Verhältnismässigkeit diskutieren. Wenn wir den Kontakt abbrechen, erreichen wir ebensowenig, wie wenn wir nichts tun.
«Realistisch betrachtet, erwarte ich in näherer Zukunft keine positiven Entwicklungen.»
Warum ist es wichtig, dass sich die Schweiz engagiert?
Es gibt viele Menschen aus der Türkei, die in Europa leben – auch in der Schweiz. Diese sind Teil der Gesellschaft und in grosser Besorgnis ob der aktuellen Entwicklungen. Die Schweiz muss auch deshalb etwas unternehmen, weil sie es diesen Menschen schuldig ist. Todesstrafe, Folter und willkürliche Verhaftungen sind mit unseren Werten nicht vereinbar.
Was erwarten Sie, was auf Oppositionelle und Journalisten in der Türkei noch zukommen könnte?
Realistisch betrachtet, erwarte ich in näherer Zukunft keine positiven Entwicklungen. Aktivisten sagen, die Zeit der Worte sei vorbei, es sei Zeit auf die Strasse zu gehen. Ich fürchte, dass die Regierung die Eskalation mit weiteren Massnahmen anheizen wird. Das macht wenig Mut auf Verbesserungen.
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Nach dem Putschversuch hatte Präsident Recep Tayyip Erdogan massive «Säuberungen» im Staatsapparat angekündigt. Die Zahlen dazu:
- Seit Mitte Juli wurden mehr als 110’000 Beamte, Richter, Staatsanwälte, Polizisten oder Soldaten suspendiert oder entlassen,
- Zehntausende wurden verhaftet.
- Zudem wurden 170 Zeitungen, Zeitschriften, TV-Sender und Nachrichtenagenturen geschlossen.
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