«Viele Türken fühlen sich von der EU als Grenzwächter missbraucht»

Das Abkommen zwischen der EU und der Türkei zur Rückführung von Flüchtlingen sei unmenschlich und verletze die Genfer Flüchtlingskonvention, sagt die türkische Kulturanthropologin Şenay Özden. Syrische Flüchtlinge hätten in der Türkei keine Perspektive.

«Falls es je zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit kommen sollte, dann ist Europa mitschuldig», warnt Şenay Özden.

(Bild: Nils Fisch)

Das Abkommen zwischen der EU und der Türkei zur Rückführung von Flüchtlingen sei unmenschlich und verletze die Genfer Flüchtlingskonvention, sagt die türkische Kulturanthropologin Şenay Özden. Syrische Flüchtlinge hätten in der Türkei keine Perspektive.

Ursprünglich sollte Şenay Özden ihren Vortrag zum Abkommen zwischen der EU und der Türkei in der grossen Aula der Universität Basel halten. Doch die war bereits besetzt. Vorrang hatte am Abend vom 5. April Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble, der vom Europainstitut eingeladen worden war. Özden und die Hörer der öffentlichen Vortragsreihe «Fluchttopographien» mussten sich mit einem kleineren Hörsaal begnügen, der im Nu brechend voll war.

Die beiden Säle standen sinnbildlich für zwei Perspektiven auf Europa. Während Schäuble mit viel Optimismus die Zukunft der EU verteidigte, kritisierte Özden aus türkisch-syrischer Perspektive den kontroversen EU-Türkei-Deal. Sie tat dies engagiert und mit dem Selbstbewusstsein einer Insiderin.

Die TagesWoche traf Şenay Özden am darauffolgenden Morgen zum Gespräch, um mehr über die Lage der syrischen Flüchtlinge in der Türkei, den Blick der türkischen Öffentlichkeit auf die EU-Verträge und Özdens Engagement im Rahmen des ersten syrisch-türkischen Kulturzentrums «Hamisch» in Istanbul zu erfahren.

Frau Özden, Anfang April wurden im Rahmen des EU-Türkei-Deals die ersten Flüchtlinge von den griechischen Insel in den türkischen Küstenort Dikili geschifft. Wissen Sie, was mit diesen Menschen geschehen ist?

Es handelte sich zu Beginn um etwa 200 Menschen, die meisten kamen aus Pakistan, aber es waren auch einige Syrer dabei. Die Syrer wurden in Flüchtlingslager an der türkisch-syrischen Grenze gebracht. Die Pakistaner hingegen werden in Deportationszentren festgehalten. Wir wissen aktuell nicht, was mit ihnen geschehen wird. Menschenrechtsorganisationen in der Türkei befürchten aber, dass sie in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt werden könnten, obschon sie dort gefährdet sind.

Sie haben während Ihres Vortrags betont, dass die Rückführungen gegen die Genfer Flüchtlingskonvention verstossen. Weshalb?

Die Konvention verlangt eindeutig, dass jeder Fall eines Asylsuchenden einzeln geprüft wird. Doch was wir in Griechenland erleben, ist eine Massendeportation. Die Situation der Menschen wird nicht individuell beurteilt. Bereits gibt es Berichte einer Menschenrechtsorganisation, dass Flüchtlinge daran gehindert werden, einen Asylantrag in Griechenland zu stellen, obschon ihnen internationales Recht das zugesteht. Hinzu kommt: Weder Griechenland noch die Türkei haben derzeit genügend Kapazitäten für eine Fall-zu-Fall-Beurteilung. Entweder werden nicht-syrische Flüchtlinge in Zukunft sehr lange in Deportationszentren festgehalten werden, die sie nicht verlassen dürfen, oder – noch schlimmer – sie werden weiter deportiert, von der Türkei nach Pakistan, Afghanistan und Irak.

Şenay Özden hat in der Türkei und in den USA Kulturanthropologie studiert und war Assistenzprofessorin für Soziologie und Vizedirektorin für Migrationsforschung an der Istanbuler Koç Universität. Sie hat fünf Jahre in Syrien gelebt und dort zu palästinensischen Flüchtlingen in Syrien geforscht. Im März 2011 war sie dabei, als die Aufstände in Syrien begannen. Heute arbeitet sie für verschiedene Forschungsinstitutionen und in der Politikberatung sowie als Gastautorin für mehrere Zeitungen. 2014 hat Özden das syrisch-türkische Kulturzentrum «Hamisch» in Istanbul mitgegründet.

Was ist mit den aus Griechenland ausgewiesenen syrischen Flüchtlingen – werden sie in der Türkei ein neues Zuhause finden?

Nein, denn Flüchtlinge können in der Türkei keinen Asylantrag stellen. Die Türkei hat als eines von wenigen Ländern bei der Unterzeichnung der Flüchtlingskonvention von 1951 die geografische Limitierung nicht aufgehoben. Die Konvention gilt in der Türkei nicht für Flüchtlinge aus arabischen Ländern. Das heisst, nur ein Flüchtling aus Europa kann in der Türkei Asyl beantragen, nicht jedoch ein Pakistaner oder ein Syrer.

Heute leben 2,7 Millionen Syrer und Syrerinnen in der Türkei. Welchen Status haben sie, wenn nicht einen offiziellen durch die Genfer Konvention definierten Flüchtlingsstatus?

Bis 2014 wurden syrische Flüchtlinge in der Türkei als Gäste bezeichnet. Heute stehen sie unter temporärem Schutz und geniessen deshalb bestimmte Rechte wie kostenlose Gesundheitsversorgung, Zugang zum öffentlichen Schulsystem und seit einigen Monaten auch die Möglichkeit, eine Arbeitserlaubnis zu beantragen.

Für die EU ist damit der Schutz der syrischen Flüchtlinge in der Türkei garantiert. Sie widersprechen dem, weshalb?

Es ist vor allem der temporäre Charakter der Aufenthaltsbewilligung, der nicht in einen langfristigen Status übergeht. Das ist für Syrer in der Türkei der wichtigste Grund, weshalb sie nach Europa wollen. Sie wollen ein Papier, das ihnen einen permanenten Status bescheinigt und garantiert, dass sie langfristig in einem Staat bleiben können.   

Menschenrechtsorganisationen kritisieren auch, dass die Türkei nicht als sicherer Drittstaat gelten könne und bestimmte Gruppen besonderer Willkür ausgesetzt seien.

Die EU hat versichert, dass keine Menschen nicht rückgeführt würden, die in der Türkei gefährdet sind. Ich habe EU-Vertreter gefragt, wer damit gemeint sei. Die Antwort war: Homo-, Bi-, und Transsexuelle sowie Kurden. Jemand erwähnte aber auch nicht-muslimische Minoritäten. Das finde ich sehr gefährlich, denn das heisst nichts anderes als: Nicht-Muslime haben bessere Chancen, in Europa Asyl zu finden als Muslime. Man trennt und selektiert gewisse Gruppen auf Basis ihrer Religion oder Ethnizität. Das kann sehr schnell in Islamophobie und Rassismus umschlagen, und es führt zu Ressentiments gegenüber Europa, vor allem bei muslimischen Arabern.

Sie traten von Beginn weg als Kritikerin des EU-Türkei-Deals auf. Wem gilt Ihre grösste Kritik: der EU oder der Türkei?

Die 28 Länder der EU haben bislang eine Million Flüchtlinge aufgenommen; die Türkei alleine nahezu drei Millionen. Und dies, obschon das durchschnittliche Bruttoinlandprodukt pro Kopf in Europa um einiges höher ist als in der Türkei. Es ist offensichtlich, dass da etwas nicht stimmt. Nur damit Sie mich nicht falsch verstehen: Ich habe überhaupt kein Problem damit, dass nun so viele Syrer in der Türkei leben. Von mir aus sollten sie so schnell wie möglich eingebürgert werden. Ich will damit nur auf die Doppelzüngigkeit der EU aufmerksam machen. Denn Europa verrät aktuell gerade all die Werte, die es als eigenes Fundament beansprucht.

Und was ist mit der Türkei?

Zumindest nach Beginn der syrischen Aufstände 2011 verfolgte das Land eine Politik der «open doors», also der offenen Grenze. Wenn die Türkei damals die Grenzen geschlossen hätte, wären in Syrien Tausende mehr durch Fassbomben getötet worden. Natürlich gibt es auch politische Gründe für die Grenzöffnung. Trotzdem sehe ich darin auch einen Akt der Solidarität. Leider hat sich das im Mai 2015 rapide geändert, als die Grenzen geschlossen wurden, obschon noch immer Menschen in Syrien getötet werden. Viele Flüchtlinge stecken nun an der Grenze zur Türkei fest. 

Der syrische Exodus hält schon seit fünf Jahren an. Wie gut war die Türkei darauf vorbereitet?

Die Situation in der Türkei ist nicht mit derjenigen in Schweden, Deutschland oder Frankreich vergleichbar. Diese Länder haben ein rechtlich verfasstes Flüchtlingsregime mit entsprechenden Institutionen, und sie haben oft viel Erfahrung mit Flüchtlingen. In der Türkei fehlt diese. Bis vor Kurzem gab es nicht mal eine eigene Flüchtlingspolitik, zum Beispiel eine Bildungsstrategie zur Integration von Flüchtlingskindern mit Spezialausbildungen für Lehrkräfte. Erst 2013 wurde eine eigene Stelle für Migrationsmanagement im Innenministerium aufgebaut. Das ist die erste zivile Behörde, die sich um Migration kümmert. Zuvor wurde die Flüchtlingsfrage alleine als Sicherheitsfrage behandelt und war bei der Polizei angesiedelt.

Sind den EU-Vertretern, welche die Rückführungsverträge mit der Türkei ausgearbeitet haben, diese Defizite bewusst?

Anscheinend nicht! Sie scheinen kein Problem damit zu haben, Menschen in ein Land zurückzuschicken, das Flüchtlingen keinen Flüchtlingsstatus gewährt und keine Zukunftsperspektive bietet. Falls es je zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit kommen sollte und Syrer in ihre Heimat deportiert werden, während dort noch Krieg herrscht, dann ist Europa genauso mitschuldig wie die türkische Regierung!

Hätte die EU die Türkei im Rahmen des Rückschaffungs-Deals verpflichten könnten, die geografische Limitierung des Flüchtlingsstatus aufzuheben?

Ja, absolut. Wenn das der Fall gewesen wäre und man die Rückführung von Flüchtlingen an die Anerkennung des Flüchtlingsstatus gekoppelt hätte, dann wäre vielleicht sogar etwas Gutes bei diesem unmenschlichen Deal herauskommen.

Wie ist die Wahrnehmung der türkischen Öffentlichkeit bezüglich des EU-Türkei-Deals?

Die Opposition verweist darauf, dass es in der Türkei vermehrt zu Menschenrechtsverletzungen kommt und die EU durch die Verträge bewusst die Augen davor verschliesst. Als Angela Merkel kurz vor den Wahlen in der Türkei Erdogan traf, wurde dies als Unterstützung der regierenden Partei wahrgenommen. Hinzu kam, dass die EU die Publikation ihres Progress-Reports zur Türkei bis nach den Wahlen verschob. Viele sehen zudem in den Verträgen das Ende jeglicher Chancen, dass die Türkei je ein Mitglied der EU werden könnte.

Wieso das – die EU hat die Türkei doch gerade auch mit dieser Aussicht für das Rückschaffungs-Abkommen geködert?

Es ist sehr unwahrscheinlich, dass die EU ein Land aufnehmen wird, in das sie zuvor die Flüchtlinge abgeschoben hat, die sie selber nicht haben will. Auch wenn die türkische Regierung gelegentlich von einer EU-Annäherung spricht: Die Leute nehmen ihr das nicht mehr ab. Viele Türkinnen und Türken fühlen sich gedemütigt – auch Anhänger der Regierungspartei. Die EU bezahlt drei Milliarden Euro, kauft sich bei der Türkei ein, damit die ihre Drecksarbeit erledigt. Und dies nachdem die Türkei selbst bereits neun Milliarden Euro für Flüchtlinge ausgegeben hat. In der Wahrnehmung vieler missbraucht die EU die Türkei einzig als Pufferzone und Grenzwache.

Und wie verteidigen Präsident Erdogan und seine AKP die Verträge mit der EU vor dem Volk?

Sie machen sie zum Teil ihres nationalistischen und religiösen Diskurs, der dem Muster folgt: Die EU und die Christen wollen keine Muslime; bei uns dagegen treffen sie auf muslimische Solidarität und Grossherzigkeit. Das spielt in die derzeitige Polarisierung zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen hinein, die wir in Europa genauso beobachten wie in der Türkei.

Sie haben viel Feldforschung in den Flüchtlingscamps an der Grenze zu Syrien gemacht. Wie ist die Situation der syrischen Flüchtlinge aktuell in der Türkei?

Von den 2,7 Millionen Syrern in der Türkei lebt nur ein Zehntel in Flüchtlingscamps. Fast zweieinhalb Millionen leben verteilt in praktisch allen türkischen Städten und Dörfern  – vermehrt natürlich im Grenzgebiet. Die Mehrheit lebt in ärmeren Vierteln und oft unter furchtbaren Bedingungen und viele in zuvor unbewohnten Gebieten, die für urbane Erneuerungsprogramme vorgesehen waren. Das ist Niemandsland: Es gibt weder fliessendes Wasser noch Elektrizität. Die Unterbringung der syrischen Flüchtlinge ist eines der grössten Probleme. Und die türkische Regierung kümmert sich nicht wirklich darum.

Bis vor Kurzem war es syrischen Flüchtlingen in der Türkei verboten zu arbeiten. Wie halten sich die Menschen über Wasser?

Viele arbeiten schwarz in Textilfabriken, auf dem Bau oder in der Landwirtschaft; bis zu elf Stunden am Tag und für einen Minimallohn, ohne Vertrag und Sozialleistungen. Für die Arbeitgeber ist das attraktiv. Sie können Lohnkosten sparen und bezahlen keine Abgaben. Unter den Ausgebeuteten sind auch viele Kinder.

Haben Sie das mit eigenen Augen gesehen?

Ja, das ist nicht schwierig. Gehen Sie einfach in eine Textilfabrik in Istanbul und Sie werden dort syrische Kinder finden. Alle wissen das – auch die Regierung und die Polizei.

Seit Januar 2016 können Syrer offiziell eine Arbeitsbewilligung beantragen. Hat die Türkei bereits aus ihren Fehlern gelernt?

Das war ein wichtiger Schritt, der bereits ganz zu Beginn der Krise in Syrien nötig gewesen wäre. Das Problem ist damit aber nicht gelöst. Wenn Arbeitgeber nun einem syrischen Arbeiter gleichviel bezahlen müssen wie einem türkischen, haben sie keinen Anreiz mehr, ihn einzustellen. Wieso einen Syrer anstellen, der kein türkisch spricht, wenn die Arbeitslosigkeit unter Türken aktuell etwa zehn Prozent beträgt?

Was wäre die Alternative zur Arbeitsbewilligung?

Ich bin für eine positive Diskriminierung von Syrern und Syrerinnen. Die Regierung muss Anreize schaffen, damit sie angestellt werden. Zum Beispiel, indem jede Firma mit über 20 Angestellten eine bestimmte Anzahl Syrer anstellen muss. Oder indem die Abgaben der Arbeitgeber für syrische Angestellte reduziert werden.

In der Türkei wächst derzeit eine ganze Generation von Syrern heran, die ihr Heimatland gar nicht kennt. Wie geht die Regierung damit um?

In der Türkei leben derzeit 750’000 syrische Kinder im Schulalter. Erst 350’000 haben Zugang zu öffentlichen türkischen oder neu gegründeten syrischen Schulen. Berechnungen zu Folge sind 30’000 zusätzliche Lehrkräfte nötig, um alle syrischen Kinder einschulen zu können. Die Regierung muss nun also Hunderte von neuen Schulen bauen und enorme Ressourcen für zusätzliche Lehrer und Lehrerinnen zur Verfügung stellen.

Sie leben und arbeiten in Istanbul. Wie hat sich die Hauptstadt in den letzten fünf Jahren verändert?

Früher drehten sich viele Leute auf der Strasse noch um, wenn jemand arabisch sprach. Heute schaut niemand mehr; es ist zur Normalität geworden. In manchen Vierteln eröffneten Dutzende syrische Restaurants. Zu Beginn haben dort nur Syrer gegessen. Heute gehen auch Türken dorthin. Auf der İstiklâl Caddesi, einer der belebtesten Strassen der Stadt, spielen nun syrische Strassenmusiker neben türkischen. Und die grösste türkische Buchmesse hat neu eine arabische Sektion. Die Syrer wurden zum Teil unseres Alltags und damit auch der türkischen Kultur – und umgekehrt.

Die Kulturen vermischen sich also?

Nach den Anschlägen in Istanbul vom 6. Januar 2015 habe ich mir Facebook-Posts von Syrern und Syrerinnen angeschaut, die in Istanbul leben. Daraus ging hervor, wie stark sie sich bereits dieser Stadt zugehörig fühlen und wie sie sich durch die Attacken mit angegriffen fühlten. Das hat mich sehr berührt.

Wie gross ist heute die Solidarität in der türkischen Bevölkerung mit den syrischen Flüchtlingen?

Es kommt stark auf den politischen Hintergrund an: Für viele Anhänger der Opposition sind die syrischen Flüchtlinge ein Resultat von Erdogans Syrienpolitik. Sie hassen sie, weil sie in ihren Augen Erdogans Flüchtlinge sind und verurteilen sie pauschal als Jihadisten. 

Verstehe ich Sie recht: Sie sprechen von Anhängern liberaler Linksparteien?

Ja, das ist die Ironie am Ganzen! Ich habe es aufgegeben, Politik in Kategorien von links und rechts zu denken – das geriet alles durcheinander. Unsere kommunistische Partei wurde zur Anti-Flüchtlingspartei und die Arbeiterpartei zur Speerspitze der Nationalisten. Dagegen sind es die Islamisten, die die Linke und die Kommunisten für ihre Anti-Flüchtlingsrhetorik kritisieren.

Was ist mit den Kemalisten…

…oder säkularen Faschisten, wie ich sie nenne. Sie sehen sich als Teil der westlichen Zivilisation und wollen mit den arabischen Ländern nichts zu tun haben. Für sie sind alle Araber Hinterwäldler oder Islamisten, die zu einer vormodernen Welt gehören.

Kam es wegen Ressentiments gegen die Flüchtlinge bereits zu Ausschreitungen?

Nein, im öffentlichen Leben gibt es weniger Diskriminierung, als ich befürchtet hatte. Vielleicht spielt hier auch die gemeinsame Religion eine Rolle. Es kam vereinzelt zu Zwischenfällen, aber wir hatten bisher keine brennenden Häuser wie in Deutschland.

Sie haben im März 2014 das türkisch-syrische Kulturzentrum «Hamisch» in Istanbul gegründet. Mit welchem Ziel?

Wir wollten die dominierende Wahrnehmung von Flüchtlingen in Frage stellen und nicht Charity betreiben. Denn mit Wohltätigkeit ist oft auch eine Hierarchisierung der Beziehung zwischen Einheimischen und Flüchtlingen verbunden. Unser Ziel ist es aufzuzeigen, dass die Menschen aus Syrien nicht nur hilfsbedürftige Opfer sind, sondern genauso Kulturproduzenten und Menschen mit einer politischen Vision.

Wie schaffen Sie das?

Wir bieten Raum, damit die Flüchtlinge weiterhin kulturell aktiv sein können. Dazu vernetzen wir syrische und türkische Künstler, Schriftsteller und Intellektuelle und organisieren Paneldiskussionen, Kunstausstellungen, Filmvorführungen und eine wöchentliche Radiosendung. In Zukunft soll es auch ein zweisprachiges Magazin geben. Die syrische Gesellschaft in Istanbul soll sichtbar werden und einen Platz in der Stadt einnehmen und nicht ein Schattendasein in irgendeinem Ghetto fristen. 

Sie sind eine Frau, Sie kämpfen für die Rechte von Flüchtlingen und Sie kritisieren die türkische Regierung. Wie gefährlich leben Sie?

Gute Frage… (lacht). In den sozialen Medien wurde ich schon öfters beleidigt und beschuldigt – meist von Vertretern der linken Szene. Es hiess, ich würde von Saudi Arabien und Qatar finanziert oder dass ich die Freie Syrische Armee unterstütze. Die Linien im politischen Spektrum sind heute klar definiert: Wer Pro-Regierung ist, unterstützt die Aufständischen in Syrien, wer gegen die türkische Regierung ist, ist auch gegen die Aufständischen in Syrien. Ich stehe jedoch der Regierung kritisch gegenüber und spreche mich gleichzeitig für den syrischen Aufstand aus. Das passt nicht in die aktuelle Polarisierung und viele Leute wissen nicht, wo sie mich politisch verorten sollen. Das könnte mein Vorteil sein.

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Das Departement für Gesellschaftswissenschaften der Universität Basel organisiert als Reaktion auf die aktuelle Flüchtlingsdebatte eine öffentliche Ringvorlesung zum Thema Flucht und Migration (fluchttopographien.unibas.ch). Aktivisten, Schriftsteller und Wissenschaftler aus Jordanien, Syrien, der Türkei und Europa informieren über Ursachen, Konsequenzen und Wahrnehmung von Flucht.
Nächste Veranstaltung: Am 19. April 2016 spricht der syrische Dissident und Schriftsteller Yassin Al-Haj Saleh über seine Heimat nach fünf Jahren Krieg und Vertreibung. 19.04.2016, 18.00 – 20 Uhr, Kollegienhaus der Universität Basel, Aula, Parterre, Petersplatz 1, Basel.

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