André Stern ging nie in eine Schule und spricht fünf Sprachen fliessend. Wie geht das? Ganz einfach, sagt der Sohn des Malort-Gründers Arno Stern: mit Spielen.
Im Spiel lerne der Mensch alles, was er fürs Leben braucht, und erst noch ohne Anstrengung, so das Credo des Bestseller-Autors. Ein Kind kenne den Unterschied nicht zwischen Lernen und Spielen, schreibt Stern in seinem neuesten Buch. Deshalb mache es auch keinen Sinn, wenn man dem Kind sage: «Nach dem Spielen machst du dich aber ans Lernen, ja?»
Was der 46-Jährige sagt, klingt eigentlich banal, er sagt es aber mit einer Konsequenz, die aufhorchen lässt. Zum Beispiel sagt Stern, ein Kind vom Spielen zu unterbrechen sei «Gewalt». Und wer das Spiel des Kindes nicht ernst nehme, nehme das Kind nicht ernst.
Mit solch zugespitzten Thesen verkauft Stern seine Bücher und füllt Vortragssäle – kürzlich den Ackermannshof in Basel. In Zeiten, in denen der Leistungsdruck an Primarschulen für Diskussionen sorgt, schien die Erwartung der Gäste klar: eine Alternative zur aktuellen Schulpolitik. Stern sprach in seinen 90 Minuten aber nicht darüber, was in der Schule schiefläuft. Er formulierte nur seine sehr persönliche, radikale Einstellung zum Lernen, die keine allgemeingültige Antwort zum Thema Bildung gebe.
Stern sagt, mit seiner Haltung und seinen Ideen wolle er nicht das System kritisieren. Und doch steht seine Haltung diametral dem entgegen, was an Schulen praktiziert wird.
Herr Stern, als ich klein war, musste ich jeden Tag Cello üben. Manchmal stellten meine Eltern einen Küchenwecker auf den Tisch neben mir. Dann musste ich üben, bis der Wecker klingelte.
So stirbt die Musik in einem. So stirbt der Elan zur Musik, den wir eigentlich alle in uns haben …
… Ich habe das Cellospielen später aufgegeben.
Es ist eigenartig, dass Sie mir das erzählen. Ich habe heute im Zug für mein neues Buch darüber geschrieben.
Was denn?
Musik ist ein Impuls von jedem Menschen. Stellen Sie ein kleines Kind vor einen Lautsprecher mit Musik: Das Kind beginnt zu tanzen – mit einem so sicheren Rhythmusgefühl, da muss man gar nichts entwickeln. Musik darf auf keinen Fall zu etwas werden, das wir müssen. Ab dem Moment, ab dem Musizieren zur Arbeit wird, ist die Musik tot. Die Musik stirbt auf diese Weise in so vielen Menschen, in so vielen Kindern. Niemand muss üben! Sobald man übt, heisst das, man geht es nicht mehr spielerisch an. Und sobald man es nicht mehr spielerisch angeht, kann man das Instrument nicht mehr spielen. Es macht mich als Musiker ziemlich rasend, zu sehen, wie die Musik vernichtet wird – eigentlich aus Goodwill. Ihre Eltern wollten Ihnen die Musik nicht für immer verderben.
Sie wollten, dass ich Cellospielen lerne.
Ja, sie wollten, dass Sie Fortschritte machen. Das Problem ist, dass man so keine Fortschritte machen kann. Denn Musik passiert jetzt und nicht weiter fort!
In Ihrem Buch nennen Sie einige Beispiele, die zeigen, wie Kinder im Spiel lernen. Gibt es auch Dinge, die Kinder nicht mit Spielen lernen können?
Nein. Es geht nur mit Spielen. Wir als Gesellschaft vermischen alles. Zum Beispiel vermischen wir «spielen» mit «sich amüsieren» und «lernen» mit «auswendiglernen» – das ist aber nicht dasselbe. Auswendiglernen, das ist ein Akt, den man durch Willen tun kann. Lernen nicht. Wirkliches Lernen ist, was übrig bleibt, wenn Sie fertig gespielt haben. Neurobiologen wie Gerald Hüther sagen: Eine Information, die uns nicht berührt, geht hier rein und da wieder raus (zeigt auf sein linkes und rechtes Ohr). Darum vergessen wir 80 Prozent von dem, was wir haben lernen müssen – und finden das normal. Du kannst in einer Runde gerne sagen: Oh ja, das habe ich gewusst, aber inzwischen habe ich es vergessen. Niemand nimmt dir das übel. Sagst du: Ich habe das nie gelernt – was eigentlich das Gleiche ist –, dann heisst es: Das ist aber eine Lücke. Es gibt nichts, woran man sich erinnern wird, das nicht mit einer Emotion oder einer spielerischen Haltung verbunden ist.
Ist es nicht sinnvoll als Erwachsener, das Kind an etwas heranzuführen, damit es damit spielt?
Das Kind hat die Veranlagung, in die weite Welt hinauszugehen, es will neuen Gesichtern, neuen Landschaften entgegentreten. Das Kind hat noch keine schlechten Erfahrungen mit Neuem gemacht. Es geht nicht darum, dass man das Kind an etwas heranzieht. Es geht darum, dem Kind keine Steine in den Weg zu legen.
Nach Ihrer Philosophie sollten sich Eltern und Erwachsene gar nicht einmischen in das, was das Kind tut?
Das bedeutet aber nicht, dass man keinen Einfluss ausübt. Sonst landet man beim Laissez-faire, einer Methode, die insbesondere in den 1970er-Jahren praktiziert wurde als Antwort auf die schwarze Pädagogik. In beiden Fällen haben wir es mit einer Manipulation des Kindes zu tun, die vom Erwachsenen ausgeht. Man beeinflusst sich ja gegenseitig, wenn man zusammenlebt.
«Sie sagen Ihrer Partnerin auch nicht: Iss sauber,
sonst gehst du auf dein Zimmer!»
Wie meinen Sie das?
Genauso, wie wenn Sie in einer Partnerschaft leben. Dann verändert sich Ihre Art und Weise zu leben. Dasselbe passiert, wenn Sie ein Kind kriegen. Es geht darum, dass man auf einer Augenhöhe zusammenlebt. Ich begegne dir nicht mit der Idee, dass ich weiss, was für dich gut ist (steht auf, stellt sich neben mich und blickt auf mich hinab). Es geht beim Kind oft von oben herab. Ist das angenehm so (lacht und setzt sich wieder hin)? Auf Augenhöhe sind wir Partner, dann ist es nicht so, dass du mich in Ruhe lässt. Nein, du nimmst mich ernst. Und du denkst, dass das, was ich tue und wie ich bin, relevant ist. Das Kind leidet darunter, dass es sehr schnell die Erfahrung macht: Man liebt mich mehr, wenn ich mehr dem entspreche, was man von mir erwartet. Anders gesagt: Ich gebe meine Kindheit auf, zugunsten von dem, was der Erwachsene unter Kindheit versteht. So hat man keine Kindheit mehr.
Was machen Sie, wenn das Kind beim Esstisch mit dem Wasser spielt und vielleicht das Glas auskippt? Aus eigener Erfahrung weiss ich: Das tun Kinder sehr gerne. Unterbrechen Sie das Kind dann im Spiel?
Kinder sind kleine Forscher, Entdecker und Gestalter. Das Kind hat kein Problem damit, sich an Regeln zu halten, solange die Neins nicht überwiegen – und das tun sie in unserer Gesellschaft leider sehr oft. Wenn es nur noch Neins gibt, ertrinkt das Kind im Nein. Mein jüngster Sohn ist anderthalb Jahre alt und er kippt auch gerne das Wasserglas aus. Er sieht, wie wir am Tisch essen, aber natürlich hat er seine eigene Interpretation davon. Wenn er gerne mit Wasser spielt, kann man das auch sehr gut in der Badewanne organisieren. Am Tisch vielleicht nicht, hier isst man.
Es gibt also Grenzen des Spielens?
Ich würde nicht sagen Grenzen, aber Orientierungen. Eine Grenze ist Machtausübung, eine Orientierung kann ein Anhaltspunkt fürs Zusammenleben sein. Das ist eine andere Haltung. Es gibt keine Rechtfertigung dafür, wenn man mit einem Kind anders umgeht und kommuniziert, als mit dem eigenen Partner – zum Beispiel, wenn es nicht sauber isst. Sie sagen Ihrer Partnerin auch nicht: Iss sauber, sonst gehst du auf dein Zimmer! Wenn Sie es Ihrer Partnerin nicht sagen, gibt es keinen Grund, dass Sie es Ihrem Kind sagen sollten.
Sie sind nie zur Schule gegangen. Ihre Kinder gehen ebenfalls nicht zur Schule. Wie unterstützen Sie Ihre Kinder dabei, dass Sie lesen, schreiben und rechnen lernen?
Die grossen drei Klassiker… Niemand hat mich je gefragt, wie meine Kinder kochen, tanzen und singen lernen.
Lesen, schreiben und rechnen lernt man normalerweise in der Schule und Ihre Kinder gehen nicht zur Schule – deshalb frage ich.
Diese drei Dinge hat man auf einen Altar gesetzt. Es sind die Könige der Fächer. Aber das ist völlig willkürlich und entspricht niemandem.
Sie sind nicht der Meinung, dass jeder Mensch lesen und schreiben lernen sollte?
Ich bin der Überzeugung, dass jeder Mensch lesen und schreiben nicht nicht lernen kann. So wie man die Muttersprache nicht nicht lernen kann.
Man lernt es automatisch?
Ihre Muttersprache wurde Ihnen nicht unterrichtet. Sie durften Ihre Muttersprache in einem eigenen Rhythmus, zum eigenen Zeitpunkt und mit Ihrer eigenen Methodik lernen. Alleine hätten Sie Ihre Muttersprache aber nicht gelernt. Sie haben Sie nur gelernt, weil die ganzen Menschen um Sie herum so gesprochen haben. Sehen Sie sich unsere Welt an: Ist es nicht auffällig, dass die Buchstaben überall da sind? Ist es nicht auffällig, dass wir die ganze Zeit Zahlen nennen und Kalkulationen machen? Es gibt unzählige Kinder, die lesen und schreiben lernen, bevor sie zur Schule gehen. Ich konnte es mit acht Jahren – spät würde man vielleicht sagen. Mein Sohn konnte es schon mit zweieinhalb Jahren – und zwar ganz gut.
Noch ein persönliches Beispiel: Ich hatte in der Schule schlechte Noten in Chemie. Also musste ich Formeln und chemische Zusammenhänge lernen, um nicht vom Gymnasium zu fliegen. So lernte ich die Chemie erst richtig kennen, was doch ein positiver Effekt ist, oder nicht?
Und jetzt: Welche Relevanz hat Chemie in Ihrem Alltag?
Keine.
Wozu dann das Ganze? Wir hinterfragen das nicht. Wenn es morgen für Sie eine Relevanz hätte und Sie hätten es in der Schule nicht gelernt, was meinen Sie, wie lange bräuchten Sie, um das zu lernen, was Sie im Chemieunterricht lernen mussten?
Ein, zwei Tage vielleicht.
Oder vielleicht paar Stunden! Ich bin nicht da, um ein System zu kritisieren, oder eine Methode anzupreisen. Aber es muss mir jemand erklären, was der Sinn der Sache ist, dass man sich zwingt, das und das zu lernen und damit die Erfahrung macht, dass Lernen eigentlich scheisse ist. Das ist eine schmerzhafte Erfahrung. Es ist schade und eigentlich eine Schande, dass man der Chemie das antut. Die Chemie verdient, umarmt zu werden von Menschen, die sie wollen und die nicht genug davon bekommen! Solche, die zu viel davon bekommen – wie Sie in diesem Fall – und sich einige Jahre später nicht mehr daran erinnern und überhaupt nichts damit anzufangen wissen, die hätte man damit eigentlich in Ruhe lassen können. Denn die Chemie braucht Sie nicht – bis zum Tag, an dem Sie sie brauchen. Und dann braucht sie Sie wieder. So ist es bei ganz vielem.
«Kreativität ist eine angeborene Eigenschaft des Menschen, die verschwindet, wenn man nur noch organisiert funktioniert.»
Sie haben ein sehr starkes Vertrauen in den Menschen, dass er das lernt, was er fürs Leben braucht.
Ja. Der Mensch merkt nicht einmal, dass er gerade damit beschäftigt ist, etwas zu lernen. Eines Morgens wacht er auf und merkt: Eigentlich weiss ich so viel über ein bestimmtes Thema, das mir unter die Haut ging. Alles, was wir einmal lernen mussten und wieder vergessen haben, ist verlorene Zeit und verlorene Energie. Meistens geht das nach dem Prinzip: Wo ist eine Wissenslücke, ein Loch? Das müssen wir stopfen. Wo bist du schwach? Da musst du üben. Es sollte vielmehr darum gehen: Wo bist du gut? Das ist dein Element.
In unsere Gesellschaft hört man häufig den Ruf nach mehr naturwissenschaftlichen Fächern und Informatik, genannt MINT, weil das sind die Fächer, die die Jobs von morgen erfordern.
In 30 Jahren braucht man keine Qualifikationen. Die Menschen wollen nur noch Kompetenzen und zwar solche, für die es keine Fächer oder Diplome gibt.
Für Kreativberufe meinen Sie?
Kreativität ist zum Beispiel eine angeborene Eigenschaft des Menschen, die verschwindet, wenn man nur noch organisiert funktioniert.
Schule ist auch ein sozialer Ort, an dem Menschen aus unterschiedlichen Schichten mit unterschiedlichen Hintergründen aufeinandertreffen. Ist das etwas, das Ihren Kindern fehlt?
Es ist immer lustig, dass man sich wegen meinen Kindern Sorgen macht, in der Zeit, in der ich mir um andere Kinder Sorgen mache.
Ich mache mir keine Sorgen um Ihre Kinder.
Das Kind kommt auf die Welt, öffnet die Augen und merkt, es gibt einen Ozean an Unterschieden. Da gibt es alle Hautfarben, alle Religionen, alle Berufe, alle Geschlechter. Das Kind hat keinen Grund zu denken, dass es nur zwei Geschlechter gibt. Es könnte meinen, es gibt genauso viele Geschlechter, wie es Menschen gibt. Das Kind hat überhaupt keinen Grund dafür, sich mit einer Gruppe zu identifizieren, weil es die Gruppen gar nicht sieht. Dem Kind sind auch Rassismus und Sexismus fremd. Toleranz brauchen Kinder nicht zu lernen, denn sie kennen ja gar keine Intoleranz. Sie kennen auch keine Hierarchien zwischen Fächern und Berufen. Für ein Kind ist Stricken und Mathematik gleich. Das Kind begeistert sich genauso sehr für den Fensterputzer wie für den Astronauten. Lebewesen sind soziale Maschinen per se. Sie gehen auf andere Kinder zu, verbinden sich wahrhaftig, weil sie nicht denken, du bist gross, stark und ich bin klein, schwach. Verschiedenartige Kinder, meinten Sie? Die sind in der gleichen Klasse immer gleich alt. Verschiedenartige Menschen jeden Alters – das ist die Realität. Später sind sie auch nicht ausschliesslich unter Gleichaltrigen.
In Basel erhalten Kinder bereits im Kindergarten Lernberichte und füllen mit den Lehrpersonen Selbsteinschätzungen aus. Das ist genau das Gegenteil von der Haltung, die Sie preisen.
Wenn wir nicht von uns und unseren Erfahrungen, Konzepten, Methoden ausgehen, sondern vom Kind, dann würden wir sehen, dass das Kind nicht so funktioniert. Das Kind möchte keine Bewertungen.
Wie erklären Sie sich, dass Schulen zunehmend auf Leistung setzen?
Ich habe keine Antwort darauf, weil ich nicht darüber nachdenke. Das Kritisieren des Alten bringt uns nicht weiter. Die Menschen sind nicht mehr gegen etwas, sie sind mehr und mehr für etwas. Diese Ökologie der Kindheit, von der ich berichte, ist eine neue Haltung des Vertrauens. Eine Haltung, die dem Kind sagt: Ich hab dich lieb, weil du so bist, wie du bist. Das tut jedem gut.
Sie haben viele Berufe. Sie sind Autor, Musiker, Vortragsredner. Wenn alle so leben würden, wie Sie, wer würde den Müll wegbringen, wer würde Bäcker oder Beamter werden?
Ganz einfach: Mein Sohn oder Ihre Tochter. Sie würden das tun, solange sie keine Hierarchien zwischen den Berufen kennen. Das Tolle ist, wenn sich das Kind mit dem Müllmann oder dem Bäcker verbindet, merkt dieser plötzlich: Ich jobbe nicht, ich mache etwas Wunderbares, das dieses Kind bewundert. Wenn man etwas tut, das man wirklich, wirklich will, gibt es keine Grenzen, das man das nicht erreichen kann. Ich glaube, das würde gehen. Dann hätten wir begeisterte Beamte, begeisterte Bäcker. Und alle hätten das Gefühl, dass sie die richtige Person am richtigen Ort sind und dass das, was sie tun, wichtig ist für die anderen und für die Welt.