«Und wie ist er so?» Der Pressemann lächelt schief. «Stellen Sie sich einen trockenen Weisswein vor. Einen trockenen, spröden Weisswein. Und jetzt machen Sie einen Menschen draus. So ist Ulrich Seidl.»
Das kann ja heiter werden, denke ich und setze mich in den kleinen Raum vor dem Zimmer in einem Zürcher Hotel. Hier sitzt Österreichs berüchtigtster Regisseur und gibt seit fünf Stunden Interviews. Ich sei die Letzte, wird mir gesagt. Ähnlich aufmunternd wie der Wein-Kommentar. Auch der geübteste Celebrity hat nach zehn Interviews genug. Irgendwann ist die Story erzählt.
Ich linse durch die Glastür in den Raum. Da sitzt er, grauhaarig und gelangweilt, vor einem Teller mit halb aufgegessenen Amuse-Bouches. Träge spricht er ins Mikrofon des enthusiastischen Journalisten, der bereits acht Minuten überzogen hat.
Auf zur Spassjagd
Ich blättere den Pressebericht durch. Es geht um Seidls neuen Film, den er am Zürcher Filmfestival vorstellt. «Safari» handelt von Menschen, die Grosswild jagen. Einfach so, zum Spass, als Zeitvertrieb. Und doch nicht einfach so, denn das würde Ulrich Seidl nicht interessieren. Seine Filme erzählen über das hinaus, was sie zeigen. In seinem letzten Film zum Beispiel: Österreicher in ihren Kellern. Ring a bell? Eher brisant, das Thema.
Entsprechend verstörend muteten denn auch die Szenen in «Im Keller» an. Da gab es den Sexkeller, natürlich, aber auch einen Jagdkeller, einen Schiesskeller, einen Keller mit Nazi-Paraphernalia (plus entsprechendem Skandal) und den unheimlichsten Keller von allen: Einen kleinen vollgestellten Raum, der immer wieder von einer untersetzten Frau mittleren Alters betreten wurde. Jedes Mal steuerte sie denselben Karton an, öffnete ihn behutsam und begann mit liebevoller Stimme auf das, was sich darin befand, einzureden. «Guten Morgen Schatzli» gurrte sie dabei und holte ein Baby aus der Schachtel.
Der Zuschauer und sein Voyeurismus
«Im Keller» wollte nicht unbedingt die gruseligen Dinge aufdecken, die Österreicher in ihren Kellern bunkern und anstellen, sondern die menschliche Natur erforschen: Was macht den Menschen zum Menschen? Was tut er im Verborgenen? Wieso tut er es im Verborgenen? Und wieso kann ich meine Augen nicht von dieser offensichtlich sehr einsamen Frau abwenden, die herzzerreissend zärtlich ein starres Plastikbaby streichelt?
Das ist Seidls Steckenpferd: Der Zuschauer und sein Voyeurismus. Meistens funktioniert ein Seidl-Film so: Er sucht sich Menschen, begleitet sie mehrere Monate und stellt mit ihnen schliesslich ihr Leben nach. Immer streng inszeniert, nichts wird dem Zufall überlassen. Der Österreicher versteht es hervorragend, tiefste Begehren und Ängste auszugraben, dokumentarisch zu inszenieren und dem Zuschauer in die Fresse zu hauen. Eine unflätige Art, diese Art Vorgehen zu beschreiben, aber sie passt zu Seidls provokativer Praxis: menschliche Psyche mitten in die Fresse.
Das verhält sich auch in «Safari» nicht anders: Im Mittelpunkt steht eine wohlhabende Familie aus Oberösterreich, die als Hobby gemeinsam auf Grosswildjagd fährt. Man schaut ihr bei allem zu: sich gut zureden, Gewehr ansetzen, schiessen, zittern, umarmen und neben der erlegten Giraffe schnell mal fürs Fotoalbum posieren. Dann die schlaffe Giraffe umständlich aufs Auto packen und wegfahren, wobei die Giraffe vom Laster fällt und schliesslich dem Boden entlanggeschleift werden muss. Es ist zum Heulen. Und man schaut keine Sekunde weg davon.
«Sie können jetzt kommen.» Die Aussage stammt nicht vom Regisseur, sondern vom Pressemann, der sich ein Stück weiter hinten im Raum an den Computer setzt, während Seidl noch telefoniert. Ich setze mich und schaue auf seinen Teller. Ulrich Seidl mag offensichtlich keine Hagebuttengelée-Karrees. Dann endlich kommt er, streckt mir die Hand hin, nickt kurz und setzt sich schweigend. Der Pressemann räuspert sich laut. Ich hole Luft. Interview Nummer elf, los gehts.
Herr Seidl, sind Sie Vegetarier?
Äh, nein?
Okay, er weiss genau, worauf ich hinaus will. Schon im Vorfeld gab es zu «Safari» rege Diskussionen, ob Grosswildjagd moralisch vertretbar sei. Seidls Kommentar dazu: «Aber klar doch.»
Seit ich den Film gesehen hab, kann ich kein Fleisch mehr anrühren. Die Giraffenszene hat mich fertiggemacht.
Das ist eigentlich falsch gedacht. Für mich ist das Schlachten und Verwerten der Giraffe eine natürliche Sache. Was Sie essen, ist aber Fleisch aus Massentierhaltung. Das ist das eigentliche Verbrechen.
Wir beziehen unser Fleisch meist vom Biobauern. Aber egal, lieber noch etwas sticheln, so bleibt er zumindest wach.
Und die Jagd ist kein Verbrechen?
Wenn ich sagen würde, Jagd ist Verbrechen, dann hätte ich den Film nicht gemacht. Mit einem Vorurteil an ein Thema ranzugehen finde ich falsch und auch nicht richtig gegenüber den Protagonisten. Wenn man mit einem Film nur das einholen will, was man vorher schon gedacht hat, dann macht das Unternehmen für mich keinen Sinn. Ich habe ein Thema und lasse mich darauf ein, versuche es zu erforschen, zu ergründen, warum Menschen die Dinge tun, die sie tun. In «Safari» ist das natürlich ein grosses Thema: Warum schiesst man Tiere tot? Noch dazu wenn mans gar nicht braucht zum Leben? Da denke ich nach und versuche, dem, was hier passiert, und den Menschen gerecht zu werden. Wenn man ein Jagdgegner ist, dann muss man auch gegen Massentierhaltung sein.
«Wenn man ein Jagdgegner ist, muss man auch gegen Massentierhaltung sein.»
Das ist eine sehr klare Meinung. Im Film aber nehmen Sie eine quasi-neutrale Haltung ein. Weder glorifizieren Sie Ihre Protagonisten, noch verurteilen Sie ihr Handeln.
Das ist bewusst. Ich will dem Zuschauer die Wertung überlassen, für sich seine Meinung zu bilden. Jetzt wo der Film draussen ist, finden Jäger wie Jagdgegner, dass ihre Haltungen angemessen vertreten sind.
Da liegt die Folgefrage auf der Hand.
Sie machen es also allen recht?
Ja.
Er geht nicht darauf ein. Noch ein Versuch.
Ausser dem Zuschauer. Das Publikum leidet jeweils regelrecht im Kinosaal. Wieso tun Sie uns das an?
Ich bin nicht dafür da, es dem Publikum recht zu machen. Ich bin ja keine Entertainment-Industrie. In meinen Filmen gehts um Wahrhaftigkeit, darum, Dinge zu zeigen, die für uns alle relevant sind. Da muss es wehtun. Da muss ich Themen aufgreifen, die tabuisiert sind oder unter die Haut gehen. Und da ist der Zuschauer berührt, weil sie ihn was angehen. Da kann man nicht einfach sagen, das sind die Anderen.
«In meinen Filmen geht es um Wahrhaftigkeit. Da muss es wehtun.»
Diese Wahrhaftigkeit könnte man aber auch durch Schönheit evozieren. Wieso wählen Sie die Abgründe?
Welcher Roman handelt davon, dass alle glücklich sind?
«Der Gott der kleinen Dinge».
(Lacht)
Endlich. Obwohl es nicht ganz stimmt. Im Roman von Arundhati Roy gibts auch schlimme Schicksalsschläge. Scheint Seidl aber nicht zu wissen.
Naja aber mein Ansatz funktioniert eben nur durch diese Abgründe. Ausserdem gibt es ja oft auch eine positive Seite: Die Jagd beispielsweise erzeugt bei der dargestellten Familie eine menschliche Nähe, nach dem Schuss sind immer alle total erlöst und befriedigt. Fast wie nach einem sexuellen Akt. Das ist sehr interessant.
Wie haben Sie die Familie gefunden?
Wir haben begonnen, bei Jägervereinen unser Projekt vorzustellen. Die gibt es ja zuhauf. Natürlich kommt man da nicht so schnell weiter, die Jagd hat ein schlechtes Image und der Seidl auch.
Sie haben ein schlechtes Image?
Nicht grundsätzlich, aber wenn da einer mit klaren Vorstellungen kommt, dann ist man am Anfang natürlich skeptisch. Und ich wollte Menschen finden, die offen sind und hinter ihrem Hobby stehen. Dann kann man sie auch bei der Ehre packen. Das sprach sich dann rum und irgendwann traf ich auf diese Familie. Das war ein glücklicher Zufall, weil eine Familie viel Stoff bietet.
Sie wollten ergründen, wieso Menschen jagen. Haben Sie eine Antwort gefunden?
Es gibt keine absolute Antwort. Man kann nur vermuten. Dass der Mensch unter bestimmten Voraussetzungen seine Macht über die Kreatur ausspielen will. Der Tötungsakt ist offensichtlich eine Befriedigung, diese Macht ausüben zu können.
Eigentlich geben Sie in «Safari» doch Antwort auf diese Frage – nur nicht in Worten. Sie lassen Situationen für sich sprechen, Aussagen und Gesten. Die Auseinandersetzung geschieht viel subtiler als das blosse «Peng, hier habt ihr eure Antwort».
Genau, gut beobachtet.
Okay, da hab ich ein bisschen gebauchpinselt. Aber es stimmt: Die Szene in «Safari», wo die Kamera ganz lange auf die Giraffen gerichtet ist, die ein paar Meter entfernt auf ihr totes Herdenmitglied starren, ist mit keinen Worten der Welt zu beschreiben. Ausserdem ist er jetzt definitiv wach.
Die Leute werfen mir immer vor, ich mache das wertfrei, das sei alles wertfrei. Und da muss ich jeweils sagen, ja, das ist wertfrei und trotzdem ist es ein Blick, der mein Blick ist und deshalb sagt er auch etwas aus. Die Leute werden durch meinen Film nicht Lust bekommen, auf die Jagd zu gehen.
Ein anderes typisches Seidl-Moment ist die Frontalaufnahme. Menschen schauen eine halbe Minute lang geradeaus in die Kamera und rühren sich nicht. Was geben Sie den Protagonisten da jeweils für Anweisungen?
«Tun Sie so, als würde ein Foto gemacht.»
Was ist der Reiz solcher Aufnahmen?
Sie sind Momente der Wahrheit. Der Protagonist schaut dem Zuschauer in die Augen, sie sind quasi an derselben Stelle zur selben Zeit. Obwohl das natürlich ein Trugschluss ist. Aber es sind Momente, in denen sich Zuschauer und Protagonist ganz nahe kommen können. Man fühlt sich verbunden, aber auch verunsichert. Man schaut in diesen Situationen ja stets auch in sich selber hinein.
Gab es Szenen in «Safari», die Ihnen so richtig zusetzten?
(Schüttelt den Kopf.)
Das kann nicht sein.
Keine einzige? Stossen Sie nie an Ihre Grenzen?
Ich erinnere mich an eine Szene in «Import/Export», wo ein kleines Baby mit starker Bronchitis behandelt wird. Da wurde es mir schon mulmig.
Was haben Sie dagegen unternommen?
Weitergefilmt. Das ist meine Aufgabe.
Da ist er. Der perfekte Schlusssatz. Seidl als getriebener Filmemacher, der schier Unerträgliches in Kauf nimmt, um seine Vision in die Welt zu tragen. Das klingt kitschig, fast schon rührselig, wer die Filme Seidls aber kennt, wird ihn in dieser letzten Aussage erkennen. Und alle anderen? Die schauen sich «Safari» an und werden genau wissen, was gemeint ist.
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«Safari» von Ulrich Seidl: ab Donnerstag, 8. Dezember, im Kino.