Der Einzelhändler ist für die Konsumforscherin Marta Kwiatkowski Schenk vom GDI kein Auslaufmodell. Doch eine Überlebenschance hat er nur, wenn er sich als Teil eines Ökosystems versteht.
Marta Kwiatkowski Schenk ist Senior Researcher und Advisor am Gottlieb Duttweiler Institute. Sie analysiert gesellschaftliche, wirtschaftliche und technologische Veränderungen. Im Interview mit der TagesWoche erklärt sie, was Läden tun können, um sich heute auf dem Markt behaupten zu können.
Frau Kwiatkowski, ist der Laden, wie er seit Jahrzehnten existiert, ein Auslaufmodell?
Nicht unbedingt. Jeder Trend hat auch einen Gegentrend. Die Anforderungen an die Geschäfte haben sich aber komplett geändert.
Inwiefern?
Durch den Online-Markt ist der stationäre Handel unter Druck geraten. Dadurch wird auch der Zwischenhändler immer weniger gebraucht. Der traditionelle Ladenbesitzer muss sich heute daher gut überlegen, welchen Mehrwert er gegenüber der Konkurrenz bieten kann. Bezüglich des reinen Kaufvorgangs ist der Online-Markt im Vorteil.
Warum ist das so?
Ich kann einkaufen, ohne auf Ladenöffnungszeiten Rücksicht nehmen zu müssen und die Ware wird mir nach Hause geliefert. Wenn der Kunde also bereits seine Wahl getroffen hat und es sich lediglich nur noch um den Kaufvorgang handelt, sind die Online-Anbieter nicht wegzudiskutieren. Wenn die Qualität und das Produkt vergleichbar sind und ich keine Inspiration, keine Beratung und auch kein spezielles Erlebnis erwarte, dann spielt der Preis eine grosse Rolle.
Gibt es nebst der Konkurrenz durch den Online-Handel weitere Gründe dafür, dass lokale Einzelhändler vermehrt schliessen?
Auch die Globalisierung per se hat dazu beigetragen: Viele Strassen wandeln sich und werden von den gleichen globalen Marken dominiert. Diese wollen sich an den Top-Standorten positionieren und verdrängen dadurch die lokalen Einzelhändler. Für die internationalen Marken sind diese Standorte bloss mehrere von vielen Schaufenstern. Die Finanzierung hängt nicht von einem einzigen Ort ab – beim Einzelhändler aber schon, da dort in der Regel der Hauptabsatzkanal ist. Firmen wie Zara und H&M haben ganz andere finanzielle Möglichkeiten, wenn es darum geht, die hohen Mieten in den Haupteinkaufsstrassen zu bezahlen. Zudem beherrschen sie die gesamte Produktionskette und verfügen über entsprechend höhere Margen.
«Heute kann jeder zu Tiefstpreisen für einen Shopping-Trip in eine Metropole fliegen und empfindet dort das grössere Freizeit-Einkaufserlebnis.»
Liegt es auch daran, dass viele Leute keine Zeit mehr haben für das Stöbern in den kleinen Läden?
Bis vor einiger Zeit war das «Lädele» eine zentrale Freizeitbeschäftigung. Diese gibt es schon noch, aber nicht mehr im gleichen Ausmass wie früher. Die Konkurrenz unter den vielen Freizeitmöglichkeiten hat deutlich zugenommen. Zudem kann heute jeder zu Tiefstpreisen für einen Shopping-Trip in eine Metropole fliegen und empfindet dort das grössere Freizeit-Einkaufserlebnis.
Welchen Einfluss hat der Einkaufstourismus auf das Ladensterben?
Grenznahe Gegenden wie Basel haben schon immer mit dem Einkaufstourismus gelebt und konnten sich trotzdem gut behaupten. Mit dem starken Franken hat sich der Einkaufstourismus aber akzentuiert. Dadurch sind die Leute vermehrt bereit, für die Einkäufe längere Distanzen zurückzulegen. Dies allein als Grund für das Ladensterben zu nennen, wäre aber vermessen.
Ist das nicht ein Widerspruch zum Rückgang des «Lädele» als Freizeitbeschäftigung, den Sie vorhin genannt haben – die Fahrten über die Grenze dauern ja auch?
Durch die aus Konsumentensicht bessere Kursdifferenz lohnen sich längere Distanzen und die damit einhergehenden höheren Ausgaben für die Anreise trotzdem.
Sind die Menschen heute also preissensibler als früher?
Das kann man nicht generell so sagen. Die Konsumenten sind in ihrem Verhalten hybrider geworden. Billigangebote, die keine Differenzierung bieten, werden von ein und demselben Konsumenten genauso gesucht wie das Auserlesene. Man ist heute zum Beispiel bereit, deutlich mehr für Biofleisch aus der Region zu bezahlen. Überhaupt hat das Wissen um die Machart und Qualität – sozusagen die persönliche Story zum Produkt – quasi ein eigenes Preisschild bekommen.
Kann ein Laden mit einem Konzept – wie früher – über einen längeren Zeitraum bestehen?
Ich würde nicht ausschliessen, dass sich ein Laden über längere Zeit behaupten kann. Aber selbstverständlich sind die Anforderungen gestiegen. Wie jeder andere Unternehmer auch muss sich der Ladenbesitzer dementsprechend anpassen, sein Konzept immer wieder überdenken sowie das Sortiment und das Erlebnis adaptieren, ohne seine Identität zu verlieren.
Heisst das, wir sollten uns auf weitere Wechsel im Laden-Angebot einstellen?
Jene, die sich auf ihr 20-jähriges Konzept abstützen und lediglich nach dem Prinzip Hoffnung Frequenzen abwarten, werden sicher einen schweren Stand haben.
Welche Läden haben unter diesen Umständen am ehesten Chancen zum Überleben?
Physische Läden wird es sicherlich weiterhin geben, sie werden ihr Konzept und Angebot aber grundlegend ändern müssen. Wie bereits erwähnt wird ein Mono-Brand-Store im Vorteil gegenüber den kleinen Boutiquen bleiben. Es gibt aber auch einen Gegentrend zum Laden mit lokalen Produkten. Wenn ein solcher Laden etwas bietet, das es sonst nirgends gibt, ist er nicht chancenlos: Wenn es gelingt, das Exklusive und Sinnliche zu inszenieren und die Geschichte dazu authentisch zu vermitteln.
In Basel haben sich einige kleine Läden unter dem Claim «Buy local» zusammengetan. Ist dies ein Tropfen auf den heissen Stein oder hat das Potenzial?
Das ist durchaus ein Faktor. «Buy local» ist sozusagen der gebotene aufgeladene Mehrwert. Das Erlebnis und die Kulisse kommen dazu. Bei dieser Personalisierung ist zwar der Online-Markt voraus, doch wenn man das weiterdenkt, interessiert beispielsweise viele Kunden die Machart des Produkts. Da in der kapitalistischen westlichen Welt so gut wie alles zu kaufen ist, verliert das Konsumgut an Status. Das ergibt wiederum eine Chance für das stationäre Ladenangebot. Die Story will mitgeliefert werden und nicht nur der reine Kaufprozess. Über das spezielle Erlebnis kann ich als Konsument wieder aus der Masse herausstechen und mit dem Wissen über die Machart in meinem Umfeld auftrumpfen. Überhaupt sind die Produzenten die neuen Helden: Sie verkörpern das authentische Handwerk. Insofern muss sich der Händler auch dessen bewusst sein und nicht nur das «Buy local» ansprechen, sondern auch die Produktion selbst im Laden inszenieren.
«Der Laden ist nur ein Absatzkanal.»
Warum trauern viele Leute über die Schliessung des heimeligen Ladens von nebenan, obschon sie kaum je dort einkauften?
Gewisse Läden sind lokale Institutionen und haben über Generationen das Stadtbild und die eigene Identität mitgeprägt, auch wenn sie nicht oft frequentiert wurden. Sie sind vergleichbar mit einer kulturellen Institution: Nur wenige Leute gehen etwa regelmässig in ein Kunstmuseum – dennoch ist es in der Regel unumstritten, dass es solche Institutionen braucht. Werden sie auf einmal angezweifelt oder müssen schliessen, wird dies von einem Raunen begleitet und führt nicht selten zu grosser Solidarität und kurzfristigen Rettungsaktionen.
Sie haben den Faktor Erlebnis genannt. Was muss ein Einzelhändler sonst noch bieten, um sich gegen die Online-Konkurrenz behaupten zu können?
Das stationäre Geschäft muss woanders ansetzen. Wichtig ist es auch, nicht nur in einem Kanal zu denken. Der Laden ist nur einer von vielen Kanälen. Die Kunden müssen auf den verschiedenen Stufen in ihrem Prozess begleitet werden. Das machen Einzelhändler noch viel zu wenig.
Was meinen Sie mit Stufen?
Das beginnt erstens mit der Inspiration und dem Bedürfnis, sich über ein Produkt zu informieren. Auf einer zweiten Stufe kommt die Beratung mit der Möglichkeit, Rückfragen zu stellen, mir die Geschichte anzuhören. Erst dann kommt der eigentliche Kaufprozess. Schliesslich gibt es noch das Nachher, das heisst, ob der Kunde mit dem Kauf zufrieden ist oder Fragen während des Gebrauchs hat. All das gehört ins Gesamtpaket. Dabei findet nicht jeder Schritt im Laden statt. Der Einzelhändler sollte also mitdenken, wo er die Kunden am besten abholen kann. Er sollte sich auch folgende Fragen stellen: Geht der Konsument überhaupt auf meine Internetseite? Will er sich dort inspirieren lassen oder hat er schon eine Auswahl getroffen? In welchem Prozessschritt befindet er sich gerade?
Ist das Betreiben eines Ladens bald nur noch ein Luxus? Man denke nur schon an die hohen Mieten in den Städten…
Das sollte gesamtheitlich angedacht werden. Zunehmend ist das nicht nur ein Problem des Einzelhändlers, wenn ganze Strassenzeilen leer stehen. Ein einzelner Laden hat zu wenig Ausstrahlung, um das Image einer ganzen Strasse positiv zu beeinflussen. Dabei besteht eine Chance für die Städte, die Strassen zu beleben, indem sie ihnen ein spezielles Gesicht geben.
Zum Beispiel?
Es ist wichtig, wo in einer Einkaufsstrasse oder in einer Markthalle die Bäckerei oder der Coiffeur zu finden sind, welche Marken zusammenpassen, ob eher junge, hippe Klientel angesprochen wird oder das Hochpreissegment abgedeckt werden soll. Es muss also gesamtheitlicher geplant werden. Oft sind es Nischenprodukte, die durch Verknappung grosse Anziehungskraft ausüben. In diesem Sog müsste so ein Konzept angedacht werden.
«Ein vielversprechender Trend ist die Vermischung von verschiedenen Angeboten unter einem Dach. Verkauft wird dabei ein stimmiges Gesamterlebnis.»
Gibt es Beispiele für dieses Konzept?
Eines unter zahlreichen Beispielen ist die aktuelle Zwischennutzung der alten Feuerwehrkaserne in Bern. Die Stadtverwaltung hat zusammen mit Quartierorganisationen für die Zwischennutzung Workshops durchgeführt und in einem Bewerbungsverfahren ein diversifiziertes Angebot ermöglicht. Erste Nutzer sind schon eingezogen, darunter ein Gastrobetrieb, kleine Läden oder auch Büros. Daraus kann auch für die dauerhafte Vermietung nach dem Umbau gelernt werden. Diese diversifizierten Konzepte sprechen auch einen weiteren Trend an: Die «Convergence Economy», die Vermischung unterschiedlichster Konzepte unter einem Dach, wobei die Trennlinie des Angebots gar nicht mehr so genau gezogen werden kann. Verkauft wird ein stimmiges Gesamterlebnis.
Dann müssten also die grossen Ketten eigentlich auch an den kleinen Läden ringsherum interessiert sein…
Die internationalen Ketten sind nicht zwingend an den lokalen Läden interessiert, sondern in welchem Umfeld sie sich präsentieren. Nehmen wir das Beispiel der Via Montenapoleone in Mailand, eine weltberühmte Strassenzeile, an der sich eine Luxus-Kleiderboutique an die nächste reiht. Als Anbieter eines Luxusproduktes ist es ein Muss, sich in diesem Umfeld zu präsentieren. Es herrscht ein Gleichgewicht von Konkurrenz und gegenseitiger Anziehung.
Wie wird der Laden der Zukunft aussehen?
Es gibt immer Trends und Gegentrends. Der Romantik-Aspekt wird weiterhin eine grosse Rolle spielen: Das Prinzip des «Authentischen» und das Erlebniskonzept werden weiterbestehen. Zudem wird das bereits genannte Convergence-Prinzip wichtiger: Verschiedene Konzepte wie Gastronomie, Kauf und Unterhaltung werden zunehmend kombiniert. Es werden auch Angebote verbunden, die untereinander in unterschiedlicher Frequenz genutzt werden. Zum Beispiel trinke ich wesentlich häufiger einen Kaffee, als dass ich nach Schmuck Ausschau halte. Die hohe Frequenz des einen beeinflusst damit auch das andere.
Das kennen wir zwar bereits aus den Einkaufszentren.
Ja, dort ist es aber noch architektonisch getrennt. Im neueren Konzept verschmilzt hingegen beides: Kaffee trinken und gleichzeitg Buch lesen – auch hier rückt das Erlebnis in den Vordergrund. Aber eben auch die Symbiose der Anbieter. Ein biederes Kaffeehaus und eine Street-Wear-Boutique passen da vermutlich nicht so gut zusammen. Darauf muss geachtet werden.
Können Sie Beispiele für dieses Convergence-Prinzip nennen?
Etwa «Folly» in London. Eigentlich ein Gastrobetrieb, verkauft aber auch frische Blumen und regionale Lebensmittel. Morgens trinkt man in gemütlichen Sesseln seinen Kaffee und abends trifft man sich bei gedämpftem Licht zum Drink oder Abendessen. Ein wandelbares Konzept also, das sich dem Tagesverlauf, der Saison und im Angebot selbst anpasst. So bleibt man laufend interessant.
Ein Einzelhändler kann in der Realität allerdings nicht alles bieten – vor allem nicht, wenn er rentabel zu sein hat. Wäre die Zusammenarbeit von verschiedenen Einzelhändlern unter einem Dach eine mögliche Lösung?
Unbedingt, wenn auch nicht zwingend unter einem Dach im physischen Sinn. Es ist sicher eine Herausforderung für den einzelnen Händler, doch es ist wichtig, sich als Teil eines Ökosystems zu verstehen.
«Die technischen Möglichkeiten entwickeln sich weitaus schneller, als wir Menschen unser Verhalten verändern.»
Wird also in ein paar Jahrzehnten doch nicht alles via Internet ablaufen?
Es gibt durchaus auch Gegenbewegungen zum Onlinemarkt. Technologie macht alles viel komplexer – und im besten Falle zugleich einfacher. Mit der Digitalisierung wird auch die Offline-Erfahrung wieder wichtiger. Mit der Vergänglichkeit und Flüchtigkeit werden nachhaltige, konstante Produkte wieder gefragter. Ein Beispiel der Gegenbewegung ist «Mooris»: Dieses Online-Geschäft hat mittlerweile in Zürich einen Laden eröffnet und ist somit den umgekehrten Weg gegangen, ohne seine Internet- und Mobile-Präsenz und das bewusste Einbinden sozialer Netzwerke zu vernachlässigen. Beispielsweise ist der Blog mit Geschichten und Kochrezepten Teil des Gesamterlebnisses. Diese sind nur online zu finden und sie werden in der physischen Umsetzung nicht adaptiert. Man kann auch sagen, dass sie das integrierte Kanalkonzept einfach an einer anderen Stelle gestartet haben.
Wenn wir mal die technischen Erneuerungen weiterdenken und etwas Science-Fiction betreiben: Wird etwa in Zukunft die nach Lust und Laune im Internet kreierte Krawatte, die via 3-D-Drucker ins Haus kommt, das Ladenmodell der Zukunft sein?
Individualisierung bleibt ein wichtiger Megatrend. Produkte, die vor Ort konfektioniert und gar produziert werden, werden immer relevanter. Die Ideen, was mit 3-D-Druckern alles möglich sein wird, stehen sicher erst am Anfang. Individualisierung heisst aber auch Wandelbarkeit: Die Fähigkeit, einen Standort mitunter auf Tageszeiten, Saisonalitäten und Bedürfnisse «instant» anzupassen, wird zum Erfolgsfaktor.
Werden die Verkäufer der Zukunft vermehrt auch Maschinen sein?
Vielleicht, Nestlé experimentiert in seinen japanischen Nespresso-Shops etwa bereits mit humanoiden Service-Robotern, welche auf die Gefühlslage der Kunden eingehen und merken, ob man gestresst schnell für Kaffeenachschub sorgen muss oder Zeit hat, sich beim Kauf einer Kaffeemaschine beraten zu lassen. Die Roboter sind geduldig, brauchen auch nach einem langen Arbeitstag keine Pause und beziehen keinen Lohn. Was davon sich aber breit durchsetzt, entscheidet natürlich die gesellschaftliche Akzeptanz. Die technischen Möglichkeiten entwickeln sich weitaus schneller, als wir Menschen unser Verhalten verändern.
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Die TagesWoche hat dem Einzelhandel in Basel einen Schwerpunkt gewidmet, erschienen sind folgende Beiträge aktuell dazu:
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