Wie weiter, Genossen?

Die Sozialdemokraten suchen ihren Weg in eine ungewisse Zukunft. Nach dem eher dürftigen Wahlergebnis schwankt die Partei zwischen alten Extremen: der idealistischen Neugestaltung der Gesellschaft auf der einen Seite und der pragmatischen Realpolitik auf der anderen Seite. Die TagesWoche hat sich mit zwei Vertretern der beiden Positionen zum Gespräch getroffen. Der Aargauer Nationalrat Cédric Wermuth und die Basler Regierungsrätin Eva Herzog unterhalten sich über Möglichkeiten in schwierigen Zeiten.

Zwei Gesichter, eine Partei: Cédric Wermuth und Eva Herzog. (Bild: Stefan Bohrer)

Die Sozialdemokraten suchen ihren Weg in eine ungewisse Zukunft. Wie pragmatisch soll die Partei sein? Wie idealistisch? Und wer soll überhaupt noch SP wählen? Ein Gespräch zwischen Nationalrat Cédric Wermuth und Regierungsrätin Eva Herzog, zwei Gesichtern der gleichen Partei.

Selten muss sich ein dürftiges Wahlergebnis besser angefühlt haben. Die Menschen sprachen über die darbende SVP, den Freisinn im Sinkflug, die unsägliche «neue Mitte» und die schwachen Grünen – dass die SP ihren Besitzstand nur knapp halten konnte, schien niemanden zu interessieren. Ausser die Sozialdemokraten selber. Seit Jahren schon schwankt die Partei zwischen utopischem Aufbruch und seriöser Regierungsarbeit und versucht dabei, es möglichst allen recht zu machen. Wie schwierig das sein kann, zeigt das Gespräch zwischen Cédric Wermuth und Eva Herzog. Sie sind in der gleichen Partei, der frischgewählte Nationalrat aus dem Aargau und die langjährige Finanzdirektorin in Basel-Stadt, aber sie sprechen nicht die gleiche Sprache. Wo Wermuth das Wirtschaftssystem demokratisieren will, redet Herzog vom Wirtschaftsstandort, für den sie sich verantwortlich fühlt. Ein Gespräch über Ideen. Ein Gespräch über eine ungewisse Zukunft.

Frau Herzog, warum hat die Aargauer SP bei den Wahlen so viel besser abgeschnitten als die Basler SP?

Eva Herzog: Ich finde es super, dass Pascale Bruderer für die SP einen Ständeratssitz holen konnte – und auch faszinierend, dass gleichzeitig mit Cédric Wermuth ein Repräsentant des linken Flügels in den Nationalrat gewählt wurde. Die SP Basel-Stadt hatte mit 29 Prozent schweizweit das drittbeste Resultat aller SP-Kantonalparteien und hat ihre Sitze ebenfalls gehalten. Aber klar bin ich enttäuscht, dass die SP Basel-Stadt Stimmen verloren hat. Das doch eher unerfreuliche Resultat hat damit zu tun, dass wir von einem hohen Wähleranteil aus starteten – wir hatten immerhin über 35 Prozent vor vier Jahren. Im Aargau dagegen ist die Ausgangslage anders. Dort hat die SP ihren Anteil von 18 Prozent verteidigt, wie gesagt ein tolles Resultat. Aber ich denke, ein so hohes Niveau zu halten wie in Basel-Stadt ist schwieriger. Man kann weniger gut mobilisieren.

Sehen Sie das auch so, Herr Wermuth?

Cédric Wermuth: Wahrscheinlich stimmt das. Wir hatten eine Sondersituation im Aargau. Wir haben lange Zeit immer wieder verloren, und es gab einige Solidarisierungsmomente, die uns zusammenrücken liessen. Die letzten Grossratswahlen im Jahr 2009 haben wir massiv verloren. Kurz darauf sprangen zwei SP-Grossräte zu den Grünliberalen ab und die Grünen entschieden sich für eine Listenverbindung mit der bürgerlichen Mitte statt mit uns. Von den Gewerkschaftslinken bis hin zu Pascale Bruderer zogen alle am gleichen Strick. Zudem konnten wir sehr pointiert als Opposition und einzige Linke auftreten, weil wir das im Aargau auch tatsächlich sind. Das kann die SP in Basel natürlich nicht. Sie ist in der Regierungsverantwortung. Jetzt müssen wir die Kantonsrats– und die Grossratswahlen abwarten, die im Aargau und in Basel im Herbst stattfinden. Dann sehen wir, wie nachhaltig der SP-Erfolg im Aargau und der Rückgang in Basel sind.

Wenn Sie in die Zukunft blicken: Wer soll die SP überhaupt noch wählen?

Wermuth: Ich habe Mühe mit dieser Fragestellung. Das entspricht einem sehr technokratischen Politik-verständnis, das uns die Politologen in den letzten Jahren haben aufzwingen wollen. Es ist die Idee, dass man die eigene Politik so ausrichten soll, dass sie dort besonders gut ankommt, wo grad am meisten Unzufriedenheit oder Unsicherheit geortet wird und man am schnellsten Wähler gewinnen kann. Es ist eine sehr opportunistische Art, Politik zu machen. Ich glaube, der Slogan der SP – «für alle statt für wenige» – hat gut ausgedrückt, dass die Sozialdemokratie sich wieder als Interessens- und Wertepartei über alle Schichten hinweg positionieren will. Das heisst, dass alle Platz haben, die unsere Überzeugungen mittragen. Das ist das Ideal einer Volkspartei. Eine solche Partei kann das Spektrum von einer Simonetta Sommaruga bis zu einem Franco Cavalli, von Eva Herzog bis zu mir abdecken. Das schliesst aber nicht aus, dass man parteiintern über Positionen und die Vorherrschaft streitet. Das gehört dazu.

Dennoch: Sie müssen mit Ihrer Politik eine gewisse Wählerschaft ansprechen. Da muss man doch ungefähr wissen, welche Themen dieses Zielpublikum überhaupt interessieren.

Wermuth: Es ist sicher so, dass wir Leute ansprechen wollen, die aus einem materiellen Interesse SP wählen. Das ist die grosse Mehrheit der Bevölkerung, die ein sozialdemokratisches Umverteilungsprojekt mittragen kann – Leute, die von konkreten Forschritten wie Mindestlöhnen, einer Einheitskasse oder der Erbschaftssteuer profitieren. Auf der anderen Seite stehen Leute, die uns aus einer Überzeugung für soziale Gerechtigkeit unterstützen. Die SP muss in beiden Bereichen stärker werden.
Herzog: Wir wissen leider, dass unter jenen, die eigentlich aus materiellen Gründen SP wählen müssten, viele der SVP ihre Stimme geben. Sie übersehen offenbar, dass die SVP mit ihrer Wirtschaftspolitik dem Wirtschaftsstandort schadet. Dass sie zum Beispiel mit ihrer Ausländerpolitik nicht nur im Innern Verwirrung stiftet, sondern Positionen einnimmt, die für unser Land wirtschaftlich schädlich sind – Stichwort Bilaterale Verträge. Es ist bedrückend, dass es die SVP mit ihrer Vereinfachung der Politik und den simplen Schuldzuweisungen schafft, viele Leute an sich zu binden. Wir argumentieren oft differenzierter, da wir die Welt nicht schwarz-weiss sehen. Aber vielleicht reden wir manchmal auch an den Leuten vorbei.

Uns scheint, Sie haben es aufgegeben, die traditionellen SP-Wähler zurückzugewinnen.

Wermuth: Die kurzfristige Perspektive ist nicht, die Leute von der SVP oder auch von den Grünliberalen in die SP zurückzuholen. Potenzial sehe ich bei entpolitisierten oder noch nicht politisierten Leuten. Uns ist es bei diesen Wahlen am besten gelungen, Neuwähler an die Urne zu bringen. Hier liegt die grosse Chance für die SP. Gerade die Finanzkrise zeigt, dass sich Menschen plötzlich engagieren wollen, die bisher öffentlich nicht aufgetreten sind.

Die sogenannte Arbeiterklasse ist für Sie also kein Thema mehr?

Wermuth: Doch natürlich, aber das geht nicht so schnell. Sie haben schon recht, die SP ist stark zu einer Art Klassenpartei des sozioprofessionellen Mittelstandes geworden. Das muss aber nicht nur negativ sein. Wir sind damit attraktiv geworden für Schichten, die es kaum goutieren würden, wenn wir mit Springerstiefeln und roten Fahnen durch die Strassen ziehen würden. Zudem ist in der Schweiz die klassische Arbeiterschicht in der Regel vom politischen Prozess ausgeschlossen. Denn es sind viele Ausländer ohne Stimmrecht.

Ist es nicht enttäuschend, dass die SP in Zeiten der Krise nicht vorwärts macht?

Herzog: Der Umstand verblüfft mich eher, dass trotz Wirtschaftskrise, trotz der evidenten Auswirkungen des entfesselten Finanzkapitalismus es der SP nicht gelingt, stärker Wähler anzusprechen. Immerhin war die SP die erste Partei, die starke Bankenregulierungen, Massnahmen gegen die Boni-Exzesse oder Massnahmen gegen den starken Franken gefordert hat.
Wermuth: Ich halte die These für Unsinn, die SP müsse in Wirtschaftskrisen automatisch gewinnen. Ich erinnere daran, dass die zwei ganz grossen ökonomischen Krisen des 20. Jahrhunderts konservative Kräfte beflügelte: Nach der Weltwirtschaftskrise stiegen in den 30er-Jahren die Faschisten auf, nach der Ölkrise die neoliberalen Kräfte. Die wirtschaftliche Krise Europas hat auch diesmal wieder nationalistischen Kräften Aufwind verliehen – und in der Schweiz hat das Ende der Hochkonjunktur den Aufstieg der SVP beschleunigt.

Das tönt ziemlich resigniert.

Wermuth: Nein, das nicht. Aber die Sozialdemokratie steckt europaweit in der Krise. Das zu leugnen, bringt gar nichts. In der Wahrnehmung eines gros­sen Teils der Bevölkerung sind wir eben ein Teil des Problems und nicht ein Teil der Lösung. Gerade viele Junge spüren nach Fukushima oder nach der Finanzkrise, dass unser aktuelles politisches, ökonomisches und soziales System gescheitert ist. Das ist ein sehr diffuses Gefühl: Verantwortlich für das Scheitern ist irgendwie die Politik an und für sich. Und die SP ist in der Wahrnehmung dieser Leute nicht eine Anti-Establishement-Partei, sondern ein Teil des ganzen Gefüges und damit mitverantwortlich für das Scheitern. Ausdruck davon ist der Erfolg der GLP. In Deutschland wählt man aus Protest vielleicht die Linke oder die NDP. In der Schweiz, wo es etwas gesitteter zu und her geht, die GLP. Wer aber Veränderung oder sogar links wählen will und die GLP-Liste einwirft, macht einen Fehler. Die Grünliberalen sind die Partei für die, die etwas Neues, aber nichts verändern wollen.
Herzog: Mich stört, dass sich die mediale Darbietung von Politik doch immer mehr auf Köpfe und Konflikte beschränkt. Als Regierungsrätin steht bei mir die konkrete Sachpolitik im Vordergrund, also die Frage, was sich für die Einwohnerinnen und Einwohner in unserem Kanton ändert.

Neben Ihnen sitzt ein Paradebeispiel der personalisierten Berichterstattung.

Wermuth: Niemand glaubt es mir, aber ich bin ein Kritiker der personalisierten Berichterstattung in der Politik. Mich interessiert nicht, was ein Barack Obama oder eine Eva Herzog zuhause tut. Ich wähle ein politisches Programm. Auf der anderen Seite bin ich als Präsident einer Jungpartei oder als Kandidat für den Nationalrat in der Situation «take it or leave it». Ich kann in Schönheit untergehen oder mitspielen, bekannt werden und gewählt werden. Es ist eine Gratwanderung. Aber ich habe den Eindruck, der Erfolg der Jusos rechtfertigt unsere Strategie – ­mindestens kurzfristig. Grundsätzlich gilt aber: Die ökonomische Krise der Medienlandschaft ist für die ­politische Berichterstattung verheerend. Der Zustand des politischen Journalismus in der Schweiz ist ein bedenklicher.

Apropos personalisierter Wahlkampf: Sind Sie schon bei Twitter, Frau Herzog?

Herzog: Nein. Ich habe weder Facebook noch Twitter. Ich kommuniziere lieber in traditionelleren Formen.

Herr Wermuth wurde auch dank den Sozialen Medien in den Nationalrat gewählt.

Herzog: Ich weiss, ich bin vielleicht altmodisch. Aber ich habe einfach keine Lust, meine Zeit zu vergeuden, um all diese Nebensächlichkeiten zu lesen. Die Qualität ist doch oft sehr schlecht.
Wermuth: Du musst ja nicht alles lesen.
Herzog: Nicht lesen? Dann muss ich auch nichts reinschreiben! Ich dachte, es handle sich um Kommunikation!
Wermuth: Twitter ist super. Da hast du von allen Portalen, die dich interessieren, die Kurzanrisse und kannst dann auswählen.

Also doch einen Account für den Wahlkampf?

Herzog: Wenn es jemand für mich macht. Ich habe keine Lust darauf, ich rede lieber direkt mit den Leuten.

Ob mit Twitter oder ohne. Gerade wenn Sie als SP-Vertreter den Eindruck haben, als Teil des Polit-Theaters wahrgenommen zu werden, müssten Sie doch Strategien entwickeln, damit Wähler wieder Ihr Profil erkennen. Wieso soll man Ihnen vertrauen und den anderen nicht?

Wermuth: Den entscheidenden Fehler hat die Sozialdemokratie europaweit nach dem Fall der Mauer begangen. Man hat sich zusammen mit den Bürgerlichen darauf geeinigt, dass das Ende der Geschichte eingetreten sei. Die Sozialdemokratie hat darauf verzichtet, gesellschaftliche Alternativen zum herrschenden kapitalistischen System anzubieten. Das ist der Grund, warum ich für unser Parteiprogramm eintrete. Es zieht eben den fundamentalen politischen Graben wieder am richtigen Ort: zwischen links und rechts und nicht zwischen der SVP und dem Rest der Parteienlandschaft. Man hat in den 90er-Jahren vergessen, darüber nachzudenken, was eine sozialdemokratische Gesellschaft bedeuten könnte. Dafür werden wir jetzt bestraft.

Lassen Ihnen solche Vorstellungen von einem ausgeprägten Links-Rechts-Graben nicht die Haare zu Berge stehen, Frau Herzog?

Herzog: Nein, es schliesst sich nicht zwingend aus, grundsätzlich über diese fundamental anders ausgerichtete Politik nachzudenken, und dennoch eine pragmatische Politik zu machen. Ein Parteiprogramm muss eine Linie haben und darf nicht einfach Wischiwaschi sein. Unterscheiden kann man sich nur, wenn man eine erkennbare Linie verfolgt. Darum habe ich nichts gegen ein Parteiprogramm, das linker ist, als es meine tägliche Arbeit sein kann. Im Gegenteil: Ich könnte nicht hinter einem Programm wie etwa jenem der Grünliberalen stehen, das sich in erster Linie dadurch auszeichnet, dass es überall herauspickt, was gerade populär sein könnte: Die Grünliberalen wollen grün sein und ganz viel Geld in die Ökologie hineinstecken, doch parallel dazu wollen sie Steuern senken und dem Staat Mittel entziehen. Das ist eine höchst widersprüchliche Politik und entspricht in keiner Weise einer ganzheitlichen Betrachtung.

Aber ist es nicht unglaubwürdig, ein stramm antikapitalistisches Programm zu akzeptieren und gleichzeitig pragmatisch Finanzpolitik in einem kapitalistischen System zu machen?

Herzog: Wenn im Parteiprogramm steht, man müsse den Kapitalismus überwinden, dann heisst das nicht, dass man die DDR in der Schweiz installieren will. Ich verstehe darunter vielmehr, dass man gegen die Auswüchse des heute ungezügelten Kapitalismus in der Finanzwelt angehen muss. Hier muss man regulieren, Grenzen setzen.

Bleiben wir beim Programm. Dessen Wortwahl irritiert auch noch nach den Wahlen.

Wermuth: Erstens haben wir mit dem Parteiprogramm zum ersten Mal seit Jahren die politische Agenda über Monate mit unseren Inhalten beherrscht – genau wegen der Terminologie! Vorher waren wir immer dem Vorwurf ausgesetzt, wir würden es nicht in die Medien schaffen, mit dem Parteiprogramm schafften wir es. Rein strategisch ist das aufgegangen. Zweitens haben wir in Lausanne nichts Neues erfunden, sondern etwas Altes stehen gelassen. Der Kern der Idee ist die Antwort darauf, was die Sozialdemokratie in ihrem Wesen ausmacht. Unsere Politik ist dazu da, die Freiheit des Individuums im politischen, im sozialen und im ökonomischen Bereich bestmöglich zu gewährleisten. Dazu zählt die Freiheit vor Bevormundung, vor Ausbeutung, vor Gewalt, vor Unterdrückung, vor ökonomischer Ungleichheit.
Herzog: Das würden noch viele unterschreiben.
Wermuth: Übersetzt bedeutet das die Demokratisierung all unserer Lebensbereiche – es ist das gleiche Projekt seit der Französischen Revolution. Der erste Schritt war die politische Demokratisierung von 1848, der zweite die gesellschaftliche Demokratisierung der 68er-Bewegung. In beiden Bereichen haben wir seither viel erreicht. Was heute noch fehlt, ist die Demokratisierung der Wirtschaft. Für mich heisst Demokratie: One Man – One Vote. Bei der heutigen Verteilung der ökonomischen Macht ist das nicht gewährleistet – im Gegenteil. Wir leben in einem aristokratischen Regime: Wer Kapital besitzt, der hat mehr Stimmrecht. Die aktuelle Krise zeigt es eindrücklich. Wir stehen heute vor der Wahl: Demokratie oder Kapitalismus.
Herzog: Wie meinst du das mit der Demokratisierung der Banken? Willst du bei der UBS mitreden? Ich will Rahmenbedingungen und Regulierungen schaffen – das ist für mich Demokratie.
Wermuth: Für mich geht es bedeutend weiter.
Herzog: Gibt es in deiner Vorstellung überhaupt noch Unternehmen wie die UBS?
Wermuth: Nein, gibt es nicht. Heute funktioniert das System so: Die Aktionäre der Banken entscheiden, wo gesellschaftlicher Reichtum investiert wird. Sie entscheiden, wie sich eine Gesellschaft entwickelt. Das wäre aber Aufgabe der Demokratie. Wenn sich Besitz und ökonomische Macht in politischer Macht ausdrücken, dann geht mir das gegen den Strich.
Herzog: Das ist ja alles nachvollziehbar. Wenn ich aber kurzfristig etwas ändern möchte und nicht Lust habe, in zwei Jahren bankrott zu gehen, will ich möglichst schnell an der Regulierung der Banken arbeiten. Ich nehme nicht an, dein Projekt ist in zwei Jahren umgesetzt, oder?
Wermuth: (lacht)
Herzog: Eben. Darum ist es mir wichtiger, dass der Staat Rahmenbedingungen schafft, die gewisse Auswüchse verunmöglichen. Darum, und wenn wir schon auf alte Begriffe zurückgreifen: Die Soziale Marktwirtschaft umschreibt für mich immer noch am besten, was ich meine. Es braucht Rahmenbedingungen, es braucht Regeln. Und innerhalb dieser Regeln soll der Wettbewerb spielen. Gibt es in deinem Modell überhaupt noch Wettbewerb?
Wermuth: Angebot und Nachfrage funktionieren im KMU-Bereich, beim Metzger und beim Handwerker, dort gibt es einen Markt. Die Finanzmärkte haben damit schon lange nichts mehr zu tun. Das Machtverhältnis ist hier perverserweise ungekehrt: Nicht die Gesellschaft als Kunde bestimmt, sondern die Spekulanten diktieren der Politik ihre Regeln. Das gilt übrigens auch für andere Bereiche: die Energie, oder – die Basler werden es nicht gerne hören – die Pharmabranche.

Herr Wermuth, Frau Herzog möchte es lieber praktisch. Können Sie das nicht verstehen?

Wermuth: Ich hätte mich nicht ins nationale Parlament wählen lassen, wenn ich nicht auch an der tagtäglichen Politik teilhaben möchte. Es wäre im Gegenteil absurd, auf die Revolution zu warten und bis dahin nichts zu tun. Dann wäre ich ein linker Sektierer.

Also lautet die Konsequenz, dass Sie mehr in der Mitte fischen müssten?

Wermuth: Die strategische Überlegung hinter dieser Forderung verstehe ich nicht. Warum sollen wir dorthin, wo schon alle anderen sind? Zur anderen Frage: Natürlich liegt mir die SP Waadt politisch näher als einige Deutschschweizer Sektionen. Ich repräsentiere eine gewisse Linie der SP, eine andere als Eva oder Simonetta (Sommaruga) oder Pascale (Bruderer). Ich bin aber überzeugt, dass wir als Volkspartei diese Breite brauchen. Was mich in der Vergangenheit an der Realpolitik der SP störte, war, dass die grundsätzliche Frage danach, wie wir unsere Gesellschaft organisieren wollen, vernachlässigt wurde. Hier hat die Partei Fortschritte gemacht: Denken Sie an die 1-zu-12-Initiative, den Mindestlohn, die Einheitskasse. Das ist der richtige Weg: zeigen, was die Vision ist, und dann realpolitisch kleine Schritte vorwärts machen.
Herzog: Nur linker zu sein, reicht als Programm nicht. Das würde bedeuten, dass wir in der Opposition blieben und keine rotgrünen Regierungen mehr hätten. Wir wären satt links, hätten aber keine Macht mehr und würden in Schönheit untergehen. Man muss genau überlegen, was man in diesem Szenario verlieren würde. In den vergangenen sieben Jahren hat die rotgrüne Regierung in Basel nicht das SP-Programm umgesetzt – das wäre gar nicht möglich gewesen, denn wir haben im Grossen Rat leider eine bürgerliche Mehrheit. Dennoch unterscheidet sich unser Wirken von dem einer bürgerlichen Regierung – das sieht man exemplarisch bei der Finanzpolitik. Die Art, wie wir die Steuern gesenkt haben, das hätte keine Regierung mit bürgerlicher Mehrheit gekonnt. Wir haben das Existenzminimum von den Steuern befreit und alle anderen Einkommensschichten entlastet. Die zweite Steuerreform haben wir an Bedingungen geknüpft. Wir gingen gestuft vor, hielten Abstand zur Schuldenquote und verbanden die Senkungen mit dem Verlauf der Konjunktur. In anderen – bürgerlich dominierten – Kantonen wurden die Steuern einfach mal gesenkt und dann wurde geschaut, was rauskommt. Unsere Art ist nachhaltiger.

Das hört sich immer noch sehr bürgerlich an.

Herzog: Wenn man das Parteiprogramm liest, mag unser Vorgehen vielleicht zu wenig links sein. Aber als Regierung müssen wir immer eine mehrheitsfähige Umsetzung präsentieren. Auch wir unterliegen dem Referendum.

Würden Sie in der Opposition nicht auch etwas gewinnen? Wenn Novartis Nyon 320 Stellen abbaut, protestiert die Regierung. In Basel baut der Pharma-Konzern doppelt so viele Stellen ab. Und die Regierung bleibt ruhig.

Herzog: Ruhig? Wir haben uns in der Öffentlichkeit geäussert und haben mit Novartis einige Gespräche mehr geführt als unsere Waadtländer Kollegen – und auch Gespräche mit ihnen zusammen. Wir sind sehr betroffen über den Stellenabbau, was ich auch an der Demonstration der Gewerkschaften zum Ausdruck brachte. Wir haben von der Novartis klare Erklärungen für ihren Stellenabbau eingefordert und verlangt, dass sie alles daran setzen, die Zahl der unvermeidlichen Entlassungen möglichst tief zu halten. Dies wurde uns zugesichert, die tatsächlichen Entlassungen werden weit unter dem angekündigten Abbau bleiben. Novartis hat in den vergangenen Jahren mehr Stellen in Basel angesiedelt als jetzt abgebaut werden – dies jetzt einfach auszublenden, wäre auch nicht richtig. In Nyon ist dies anders, da geht es um die eine Fabrik: Wenn sie zumacht, gibt es keine Pharma-Produktion mehr in Nyon. Gleichzeitig lässt sich die Bedeutung dieser Produktionsstätte für Nyon oder die Waadt natürlich nicht mit der Pharma in Basel-Stadt vergleichen. Das ist keine Frage von links oder rechts, sondern eine der Abhängigkeit von der Branche. Es wäre interessant zu sehen, ob die Waadtländer gleich laut wären, wenn ihnen dasselbe mit Nestlé passieren würde.

Was denken Sie, Herr Wermuth? Müsste Frau Herzog offensiver mit der Pharma umgehen?

Wermuth: Eva erlebt das klassische Dilemma einer rotgrünen Regierung und einer Regierungsbeteiligung an sich. Wir beide würden auf dem Papier eine andere Welt zeichnen, wenn wir könnten. Im real existierenden Kapitalismus läuft das aber anders. Im aktuellen Fall müssten die nationale Partei und die Zivilgesellschaft heftiger eingreifen. Was haben wir die Pharma verhätschelt! Die Dividenden- und die Kapitalsteuern haben wir praktisch abgeschafft – unter dem Vorwand des Standortwettbewerbs. Heute sehen wir, dass Novartis und Holcim und all die anderen nur an ihrem Profit interessiert sind. Hier müsste man reagieren!

Was soll Basel-Stadt tun?

Wermuth: Das ist schwierig zu beurteilen. Ich will aus der Regierungsbeteiligung der SP keine Gretchenfrage machen. Man muss das pragmatisch sehen: Solange die Lebensrealitäten der Menschen verbessert werden, solange lohnt sich die Regierungsbeteiligung. Man sollte das einfach in regelmäs­sigen Abständen evaluieren. Wenn die Partei in Basel-Stadt jetzt fünfzehn Jahre hintereinander verliert, muss man sich vielleicht fragen, ob die Regierungsbeteiligung die richtige Strategie ist. Das wissen wir heute nicht.
Herzog: Nun, wer es wissen will, weiss, dass die rot-grüne Regierungsmehrheit gut war für diesen Kanton in den vergangenen Jahren: Wir haben die Schulden fast halbiert, die Pensionskasse saniert, trotzdem Steuern gesenkt für alle Leute und die Unternehmen, gleichzeitig mehr Geld investiert in die Uni, die Fachhochschule, in Tagesstrukturen, den öffentlichen Verkehr, für Sicherheit und Sauberkeit. Dies alles ist möglich, wenn es auch dem Wirtschaftsstandort gut geht. Dafür fühle ich mich verantwortlich.
Wermuth: Das ist genau die Frage. Die These liegt nahe, dass Basel-Stadt – und damit auch die Politik – zu stark am Tropf der Pharma hängt.
Herzog: Zürich hängt stärker von der Finanzindustrie ab, die Ostschweiz von der Maschinenindustrie, die Westschweiz von der Uhrenindustrie – jede Region hat ihren Schwerpunkt und profitiert in guten Zeiten. Klar ist Basel auf die Pharma angewiesen, und dies bei den Arbeitsplätzen, der Wertschöpfung und bei den Steuereinnahmen. Mir geht es darum, wie es dieser Stadt geht, wie es den Leuten geht, ob es noch Arbeitsplätze gibt. Das ist das Wesentliche!
Wermuth: Mich interessiert letztlich nicht, ob ein Arbeitsplatz in Basel-Stadt oder in der Waadt geschaffen wird. Es ist mir sogar völlig Wurst. Aber das ist genau das Dilemma von linker Regierungs-­beteiligung.
Herzog: Du bist Nationalrat für den Aargau, ist dir das auch Wurst?
Wermuth: Ich bin nicht Nationalrat für den Aargau, ich bin Nationalrat für die SP. Dass ich per Zufall im Aargau wohne, ist egal.
Herzog: Unter den Wählern hatte es wohl auch ein paar Aargauer…
Wermuth: Ja, aber ich mache nicht Standortpolitik für den Aargau. Auch nicht für die Schweiz oder sonstwen. Es interessiert mich im Endeffekt nicht, ob ein Arbeitsplatz in Schweden, Marokko oder der Schweiz entsteht.
Herzog: Mich schon. Ich bin nicht nur Teil einer Internationalen, mich interessiert auch, ob es weiterhin einen Schweizer Werkplatz gibt. Oder ob wir die Schweizerinnen und Schweizer künftig mit Sozialhilfe durchfüttern müssen.
Wermuth: Wenn hier ein Arbeitsplatz geschaffen wird, der dafür anderswo verloren geht, ist das ein Nullsummenspiel. Ich fühle mich den Arbeitnehmern gleich verpflichtet, ob sie jetzt in Aarau oder in Hongkong sitzen.
Herzog: Ich hoffe, die Schweden und die Chinesen denken ähnlich grosszügig…

Quellen

Das Parteiprogramm der SP

Finanzdepartement Basel-Stadt

Website Cédric Wermuth

Wikipedia Cédric Wermuth und Eva Herzog

Lebenslauf Eva Herzog

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 18/11/11

Nächster Artikel