«Wir Griechen haben verlorene Generationen»

Petros Markaris ist der erfolgreichste griechische Schriftsteller der Gegenwart. Seine Spezialität: Krimis mit gesellschaftspolitischem Hintergrund. Jetzt kümmert sich der 75-Jährige um die Finanzkrise. Und empfängt uns in Athen zu einem Gespräch über die Rettung seines Landes – und Europas.

«Ohne gemeinsame ethische und kulturelle Werte muss jedes Europaprojekt scheitern», sagt der griechische Schriftsteller Petros Markaris. (Bild: Celebs.Lists Inc.)

Petros Markaris ist der erfolgreichste griechische Schriftsteller der Gegenwart. Seine Spezialität: Krimis mit gesellschaftspolitischem Hintergrund. Jetzt kümmert sich der 75-Jährige um die Finanzkrise. Und empfängt uns in Athen zu einem Gespräch über die Rettung seines Landes – und Europas.

Schon im Jahr 2004 warnte Petros­ Markaris vor einer neureichen Mentalität, legte ein Parteiensystem bloss, in dem wenige Familien abwechselnd ihre Pfründe in einem aufgeblähten Staatsapparat verteilten. Obwohl er schon damals der bekannteste lebende griechische Autor war, wollten das manche nicht hören, nicht in Griechenland, auch nicht im restlichen Europa. Nun aber wird Petros Markaris, der das Fiasko in seinen internationalen Dimensionen voraussagte, zu einer­ ­gewichtigen Stimme in der grossen Krise seines Landes. Der 75-jährige Nestbeschmutzer mutiert zur moralischen Autorität.

Wenn er heute früh aufsteht und aus dem Fenster schaut, sieht er nicht nur Flüchtlinge in Mülleimern wühlen, sondern zunehmend auch Griechen nach Essbarem suchen. Da sie ihr Elend verbergen wollen, wählen sie die Morgenstunden, in denen die Strassen fast menschenleer sind. Einen triftigen Grund für zeitiges Erwachen hatte Petros Markaris: Er beendete gerade den letzten Teil seiner Trilogie über den griechischen Niedergang. Und arbeitete, Samstag und Sonntag eingeschlossen, täglich von 10 bis 14 Uhr, dann folgten zwei Ruhestunden – meistens mit Zeitungslektüre – und von 16 bis 20 Uhr schrieb er wieder. Trotzdem fand er am Nachmittag Zeit für ein Gespräch.

Sie beenden gerade die Krisen-Trilogie. Heisst das, Sie sehen endlich Zeichen der Hoffnung?

Nein, die Situation ist schlimmer geworden, die Arbeitslosigkeit stieg vor allem im privaten Sektor. Wir haben heute 1,6 Millionen Arbeits­lose. Vielleicht muss ich noch einen Epilog schreiben, es könnte eine Tetra­logie werden. Aber das entscheide ich nach dem dritten Buch. Wer die ersten beiden Bände über diese griechische Tragödie liest, merkt, wie die Situation sich verdunkelt. Als ich «Faule Kredite» schrieb, da gab es nicht zahlreiche Selbstmorde von Rentnern und vor allem nicht von jungen Menschen, weder im Roman noch im Leben. Bei «Zahltag» aber schon.

Dieser erschien unlängst in Deutsch, im griechischen ­Original aber schon 2011.

Es ist seither noch schlimmer ­geworden. Die Arbeitslosenquote zum Beispiel stieg von 22,1 auf 25,3 Prozent. Und durch ein perver­ses System entstand die Situation, dass die Gehälter gekürzt werden, die Preise aber nicht fallen.

Warum nicht?

Weil das Kartellsystem mit den ­ganzen abgekarteten Absprachen nicht attackiert wird.

In «Finstere Zeiten» schreiben Sie: «Und morgen werden die Väter die Wut der Kinder zu spüren bekommen.» Gibt es schon Anzeichen für eine ­Attacke gegen das System?

Bei einer Jugendarbeitslosigkeit von 53 Prozent ist die Wut gross, sehr gross, aber auch die Ratlosigkeit und die Verzweiflung.

Was zu Auswanderungen führt.

Ja, und das vor allem bei gut ausgebildeten jungen Menschen. Manche von ihnen haben sogar einen Doktortitel oder einen Master-Abschluss. Aber sie finden keine Arbeit. Sie ­wollen nicht mehr von ihren Eltern abhängig sein, viele können es auch nicht mehr, da die Eltern auch von Arbeitslosigkeit und Kürzungen ­betroffen sind. Wir haben vor allem Kürzungen, keine tiefgreifenden ­Reformen. Wir wählen immer noch Regierungen, die vor allem für den aufgeblähten Staatsapparat gut sind.

«Die europäischen Werte wurden von der Währung vernichtet.»

Wenn eine Mehrheit verarmt und gleichzeitig die Anzahl der Flüchtlinge steigt: Für wie gross halten Sie die Möglichkeit, dass die Flüchtlinge zu Sünden­böcken gemacht werden?

Für sehr gross. Wir haben bereits eine Neonazipartei. Sie stellt ­18 Parlamentsabgeordnete, in Um­fragen liegt sie gar bei 15 Prozent. Wenn heute Wahlen stattfänden, würde sie die drittgrösste Partei im Parlament. Aber nicht nur aus Wut gegen die Emigranten wird sie gewählt, sondern auch aus Protest gegen das ­ganze System. Ein guter Teil ihrer Wähler sind Leute unter dreissig.

Sie verglichen diese Partei, Chrysi Avgi (Goldene Morgenröte), die auf Muslimjagd geht, mit islamistischen Organisationen, die sich auch sozial engagieren. Hamas zum Beispiel.

Unlängst verteilten die Neonazis auf dem Syntagma-Platz Lebensmittel.

Also im Zentrum von Athen ­vor dem Parlamentsgebäude.

Genau. Sie richteten auch Notrufnummern für Rentner ein, die in Vierteln mit vielen Emigranten leben. Wenn die alten Menschen sich un­sicher und von Ausländern bedroht fühlen, können sie anrufen, dann kommt jemand vorbei und bleibt ­sogar über Nacht bei den Betagten.

Gibt es ein solches Engagement auch von der politischen Linken?

Nein.

Dafür kritisieren die Linken die Privatisierungsvorhaben.

Aber was soll man machen? Das Land ist fast pleite. Der Staat muss einen Teil seines Eigentums verkaufen. Pri­va­tisierungen sind notwendig, aber nicht ausreichend. Wenn der Staat nicht endlich ein System für ­regel­mässige Einnahmen durch Besteuerungen schafft, werden die Privatisierungen nutzlos sein. Und diese können nur das notwendige Geld in die Staatskasse bringen, wenn Griechenland in der EU bleibt. Wer will etwas kaufen, wenn es von einflussreichen Politikern oder ­Bankern heisst, Griechenland sollte austreten und den Euro aufgeben?

Sie plädieren in «Finstere Zeiten» auch deshalb dafür, dass Griechenland in der EU bleibt, damit es mit am Verhandlungstisch sitzt, «wenn die unausweichlichen Änderungen in Europa umgesetzt werden». Welche Veränderungen erwarten Sie?

Der Süden wird irgendwann sagen, es reicht. Ich denke vor allem an Länder mit einer guten ökonomischen Basis wie Italien. Dann wird es zu Verhandlungen kommen. Und bis dahin sollte Griechenland durchhalten. Wir haben eine dreifach gespaltene Europäische Union. Länder, die den Euro nicht haben, wie Polen, arme Länder, die den Euro haben, wie Griechenland, und eben reiche Länder wie Deutschland. Das kann auf Dauer nicht gut gehen. Ich bin kein Banker, kein Ökonom, sondern Autor, aber wenn Sie mich fragen: Der Euro wird in der jetzigen Form nicht überleben.

Als Autor kritisieren Sie das mangelnde Verständnis für die kulturelle Diversität Europas …

Ja, die gemeinsamen europäischen Werte sind von der Währung ver­nichtet worden. Die Demokratie ist aus­gehöhlt. So kann man Europa nicht einen. Ohne gemeinsame ­ethische und kulturelle Werte muss jedes Europaprojekt scheitern.

Verraten Sie noch, wer nach Bankern in «Faule Kredite» und Steuersündern in «Zahltag» im Fokus des dritten Teils steht?

Die Politiker der Generation des Polytechnikums, wie sie hier heisst.

Also die des Aufstandes von 1973, die die Junta beseitigten.

Ja, die aber, an die Macht gekommen, den wirtschaftlichen Ruin, also die jetzige Krise massgeblich verursacht haben. Durch sie leiden viele Menschen. Wir haben verlorene Generationen.

  • Die Bücher von Petros Markaris erscheinen bei Diogenes, Zürich, auf Deutsch.

  • Leseproben finden Sie auf der Artikelrückseite.

Quellen

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 30.11.12

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