Martin Dürr und Béatrice Bowald sind Industriepfarrer beider Basel, eine schweizweit einzigartige Institution. Mit der TagesWoche sprachen der Pfarrer und die Theologin in ihrem Büro gegenüber der Peterskirche über einsame Kadermitglieder, das Beichtgeheimnis und das einfache Anti-Banken-Weltbild mancher Kollegen.
Frau Bowald, Herr Dürr, warum braucht es eigene Geistliche für die Industrie?
Martin Dürr: Das Industriepfarramt wurde vor 45 Jahren von den vier Landeskirchen beider Basel gegründet. Wir beide sind zuständig für alle Fragen, die mit Arbeit zu tun haben: Einzelbetreuung, Wirtschaftsthemen, Arbeitslosenprojekte. Deshalb heisst unsere Institution heute offiziell auch «Pfarramt für Industrie und Wirtschaft beider Basel». Wir wollen Brücken bauen zwischen Kirche und Arbeitswelt.
Aber übernehmen Sie mit Ihrer Beratung nicht die Arbeit von Sozialarbeitern und Psychologen?
Béatrice Bowald: Wenn jemand tatsächlich psychische Probleme hat oder Schulden, müssen wir ihn natürlich an Experten vermitteln. Wir verstehen uns als erste Stelle, an der Arbeitnehmer – und übrigens auch Arbeitgeber – ihre Sorgen abladen können. Ein wichtiger Teil unserer Arbeit sind aber auch die Veranstaltungen und Projekte, die wir teilweise mit Partnern durchführen, zum Beispiel die Stiftung «Arbeitslosenrappen»: Sie gewährt Menschen, die sich aus der Erwerbslosigkeit heraus selbstständig machen wollen, ein zinsloses Darlehen bis 20’000 Franken.
Dürr: Wir sind in erster Linie ein sehr niederschwelliges Angebot, so dass auch viele Konfessionslose oder Mitglieder anderer Religionen zu uns kommen. Viele Leute wollen nicht zum Psychiater gehen, weil sie sich sagen: Ich bin doch nicht verrückt. Auch bei Sozialarbeitern ist die Hemmschwelle zum ersten Kontakt grösser, weil die Kollegen oder Vorgesetzten das mitbekommen könnten. Wir können die Sicherheit der Diskretion und die Unabhängigkeit vom Arbeitgeber bieten.
Martin Dürr (57) ist in Riehen aufgewachsen und wollte zunächst Fussballprofi und Rockmusiker werden. Er bewarb sich 2010 um die Stelle im Pfarramt für Industrie und Wirtschaft, zuvor war er knapp 20 Jahre Gemeindepfarrer im St. Johann. Dürr ist auch vielen Fussballfans bekannt als Kolumnist des FCB-Magazins «Rotblau». Er lebt mit seiner Frau in Basel und hat drei erwachsene Kinder.
Welche Qualifikationen bringen Sie im Hinblick auf die Arbeitswelt mit? Waren Sie bereits selbst in der Produktion dabei?
Dürr: Tatsächlich war es früher so, dass der Industriepfarrer mal mit auf eine Schicht ging. Aber heute gibt es diese klassische Industriearbeit bei uns ja kaum noch. Es ist aber durchaus nicht so, dass nur Arbeitnehmer zu uns kommen. Im Gegenteil, wir haben auch viele Klienten aus den Chefetagen, die in einem ethischen Konflikt stecken oder darunter leiden, einsame Entscheide fällen zu müssen. Darunter sind auch kirchenferne Menschen, die wissen wollen, wie man Situationen vom christlichen Verständnis her beurteilen könnte.
In der heutigen kirchenkritischen Gesellschaft überrascht es doch ein bisschen, wie breit Ihr Angebot angenommen wird.
Dürr: Tatsächlich gab es in meiner Anfangszeit vor sieben Jahren die Angst, dass wir missionieren wollten. Gerade in den Chefetagen hiess es oft: «Schön, dass Sie sich vorgestellt haben; aber wir sind global aufgestellt». Als ich noch Gemeindepfarrer im St. Johann war, war ich schon bei Crossair und später bei Swiss tätig. Da war zum Beispiel die Bedingung, dass ich nirgends als Geistlicher bezeichnet werden durfte. Trotzdem wurde ich dann überall als «Crossair-Pfarrer» vorgestellt. Ausserdem merke ich, dass gerade Expats aus anderen Kulturkreisen sehr interessiert sind am christlichen Glauben. Es sind mittlerweile viele Türen aufgegangen und wir haben ein gutes Netzwerk aufgebaut.
Ist es Zufall oder Absicht, dass die beiden Stellen jeweils mit einem Mann und einer Frau besetzt sind? Gibt es typische Frauenthemen in der Arbeitswelt?
Bowald: Seit 1995 ist eine der beiden Stellen weiblich besetzt; und das soll auch so beibehalten werden. Ein typisches Frauenthema sind Lohnverhandlungen, wo Frauen bekanntlich oft schlechter abschneiden. Zu diesem Thema veranstalten wir in Kooperation mit anderen regelmässig Workshops nur für Frauen.
Sind Mobbing und sexuelle Belästigung kein Thema?
Dürr: Sexuelle Belästigung kaum noch. Die Sensibilität in diesem Bereich ist in den letzten Jahrzehnten stark gestiegen, so dass sich nach meiner Erfahrung betroffene Frauen selbst sofort an die Vorgesetzten oder die Personalabteilung wenden. Dasselbe gilt für Mobbing – bei beiden Geschlechtern. Böse gesagt, scheint mir Mobbing teilweise eine Modeerscheinung zu sein. In Einzelfällen werden wir aber sogar von Vorgesetzten angefragt, um zu vermitteln.
Wenn Ihnen jemand gesteht, dass er zum Beispiel Geld aus dem Betrieb gestohlen hat, unterstehen Sie dann dem «Beichtgeheimnis»?
Bowald: Die Gespräche sind vertraulich; das ist klar. Ich war allerdings noch nie in einer Situation, wo es um Straftaten gegangen wäre.
Dürr: Mir kam das auch noch nie unter. Es gibt für mich aber durchaus Grenzen: Wenn man Probleme bei der Arbeit hat, ist ja normalerweise der ganze Mensch und das Umfeld betroffen. Wenn mir ein Klient also erzählt, dass er daheim seine Frau schlägt, versuche ich, eine Paartherapie zu vermitteln. Ich hatte vor einiger Zeit den Fall eines Technikers mit Alkoholproblemen. Dem konnte ich natürlich nicht einfach die Absolution erteilen, dafür war das Risiko eines Unfalls im Betrieb viel zu gross. Notfalls muss ich die Vorgesetzten darüber informieren. Aber wenn jemand zu uns kommt, beweist er ja bereits, dass er Hilfe sucht.
Herr Dürr, Sie haben gesagt, dass Sie Brücken schlagen wollen, von der Kirche zur Arbeitswelt und umgekehrt. Wie muss man das verstehen: Sind Sie die Pharmalobby in den Kirchgemeinden?
Dürr: Nein, das nicht (lacht). Aber es ist eine Tatsache, dass die Ausbildung von Theologen beider Konfessionen oft ohne Kontakt zur Arbeit anderer Branchen erfolgt. Es geht nicht, dass ein Pfarrer auf die Kanzel steigt und sagt: «Alle Banker sind böse Menschen.» Dieses Weltbild ist zu einfach. Deshalb bieten wir Workshops für Pfarrer, Kirchenmitarbeiter und Theologen an, bei denen wir unter anderem einen Kleinbetrieb und eine Bank besuchen und uns den Novartis-Campus ansehen. Andererseits gibt es auch viele Theologen, die in der Kommunikation oder Finanzabteilung grosser Firmen arbeiten.
Bowald: Ich finde, es wurde schon früh erkannt, wie wichtig der reale Bezug zur Arbeitswelt ist: Zum Beispiel gibt es seit Jahren Betriebspraktika für Theologiestudenten.
Ihre Arbeit, wie Sie sie beschreiben, scheint weit weg vom Alltag eines typischen Pfarrers. Wie oft haben Sie überhaupt noch eine Bibel in der Hand?
Dürr: Das habe ich natürlich deutlich weniger als früher (lacht). Aber ich vermisse meine Arbeit als Gemeindepfarrer nicht. Heute sind meine Aufgaben als Seelsorger viel breiter angelegt. Ab und zu werde ich angefragt, ob ich eine Trauung oder Beerdigung übernähme, was ich aber nur in begrenztem Masse tue. Das einzige, was mir wirklich fehlt, ist die tägliche Arbeit mit Jugendlichen.
Bowald: Da ich nie in einer Kirchgemeinde tätig war, kann ich die Arbeit dort nicht vermissen. Für mich schliesst die Stelle als Industriepfarrerin nahtlos an meine vorherige wissenschaftliche Arbeit im Bereich Arbeit, Ökologie und Soziales an.