«Wir können mit unserer neuen Stadtgeschichte aktueller sein als andere Kantone»

Seit wenigen Tagen schreibt ein zehnköpfiges Team an der neuen Stadtgeschichte von Basel. Wir wollten vom Co-Projektleiter Patrick Kury wissen, was da genau entsteht – und warum das nötig ist.

In der Basler Wirtschaftsgeschichte gibt es noch einige weisse Flecken. Das Bild aus dem Jahr 1961 zeigt das Sandoz-Areal (heute Novartis-Campus).

Lange hatte es das Projekt schwer. Ein erster Anlauf, eine neue Basler Stadtgeschichte zu erstellen, scheiterte in den 1990er-Jahren in einer Volksabstimmung. 2011 versuchte man es erneut. Doch es brauchte wiederholt parlamentarische Vorstösse und viel Überzeugungsarbeit von Historikern, bis die Basler Regierung 2016 überzeugt war: Die Stadt Basel braucht so etwas. 

Jetzt wird es endlich konkret. Ein zehnköpfiges Team hat sich Mitte September an die Arbeit gemacht. Der Verein Basler Geschichte hatte den Auftrag erhalten, das neue Geschichtswerk so zu schreiben, dass es nicht rein universitär, sondern auch zivilgesellschaftlich verankert ist. 9,36 Millionen Franken schwer ist das Projekt; 4,4 Millionen Franken trägt der Kanton, der Rest stammt von privaten Geldgebern und aus dem Swisslos-Fonds. 

Patrick Kury leitet das Projekt gemeinsam mit der Historikerin Lina Gafner. Im Gespräch mit der TagesWoche erklärt der Geschichtsprofessor, warum das Werk am Ende auch diejenigen mit Interesse lesen können, die keinen Uniabschluss haben, wo Basel in seiner Selbstwahrnehmung weisse Flecken aufweist und wie das Ganze überhaupt zustande kam und kommt.

Herr Kury, Basel gilt als durchaus geschichtsaffin. Nun zeigten andere Kantone und Städte weniger Mühe damit, ihre Geschichte aufzufrischen. Warum lief das Vorhaben hier so harzig ab?

Genau kann ich dies auch nicht beantworten. Sicherlich spielen die erfahrenen Ablehnungen eine Rolle. Möglicherweise aber auch die Diskussionen über die Kosten von Kultur und Bildung mit Baselland. 

Beim ersten Anlauf in den 1990er-Jahren wurde kritisiert, dass das Projekt zu verkopft, zu universitär ausgerichtet sei. Heute sprechen Sie von einem zivilgesellschaftlichen Projekt. Warum kann die neue Basler Geschichte nicht einfach ein Projekt der Universität sein?

Patrick Kury arbeitet seit 1997 als Lehrbeauftragter an den Universitäten von Basel, Bern, Zürich und Luzern. Anfang 2018 wurde er von der Universität Luzern zum Titularprofessor ernannt. Er ist Verfasser zahlreicher Publikationen zur Geschichte der Migration, der Wissensgeschichte der Bevölkerung, Gesundheit sowie Medizin und hat und zugleich verschiedene historische Ausstellungen realisiert.

Ob der Vorwurf damals wirklich stimmte, sei hier mal dahingestellt. Was daraus aber entstand, ist die Idee oder die Forderung, das Projekt mit den verschiedenen geschichtsaffinen Organisationen Basels stärker zu verbinden und es nicht zu stark an die Universität anzubinden. Das ist jetzt so. Wir sind administrativ zwar bei der Universität verortet, und im Herausgeberrat sitzen zahlreiche Vertreter des Departements Geschichte, aber es ist nicht ein universitäres, sondern ein kantonales Projekt.

Sie selber kommen aber aus dem universitären Bereich.

Aber nicht aus der Universität Basel. Ich habe hier studiert, nachher aber neben der Herausgabe verschiedener grösserer Geschichtswerke und der Mitarbeit an diversen Ausstellungsprojekten an verschiedenen anderen Universitäten gearbeitet. Seit 2012 bin ich an der Universität Luzern tätig. Ich bringe also beide Aspekte mit, was offensichtlich gewünscht war.

Ihr Hintergrund ist die seriöse Grundlagenforschung. Nun müssen Sie mit geschichtsaffinen Vereinen zusammenarbeiten, also auch mit Laien und Amateuren. Wie gehen Sie damit um?

Man kann sicher nicht sagen, dass das Projekt von Hobby-Historikern geprägt sein wird. In diesen Vereinen gibt es viele Exponenten mit einer professionellen historischen Ausbildung. Beteiligt sind unter anderem viele Geschichtslehrer, darüber hinaus weitere professionelle Organisationen und Institutionen wie die Denkmalpflege, das Staatsarchiv, die Unibibliothek und andere mehr. Wir arbeiten mit freischaffenden, studierten Historikerinnen und Historikern und Kulturwissenschaftlern zusammen, die alle auch einen professionellen Zugang zur Geschichte haben. Das gilt auch für die Mitarbeiter, die wir jetzt angestellt haben: Forscherinnen und Forscher aus der Region, anderen Schweizer Kantonen und dem Ausland.

Angestellt sind zehn Personen mit einem Teilzeitpensum. War der Andrang der Bewerberinnen und Bewerber eigentlich gross?

Ja, das war er. Über 300 Personen wollten mitmachen. Darunter gab es auch zahlreiche Doppelbewerbungen.

«Ein grosser Teil der Menschen, die hier leben, kam in den früheren Darstellungen gar nicht vor.»

So viele? Wie haben Sie da eine Auswahl treffen können?

Zuerst mussten wir uns für die Struktur der Stadtgeschichte entscheiden. Wir wählten schliesslich eine stark chronologische Ausrichtung, denn eine thematische Struktur veraltet rasch. Themen, die heute aktuell sind, könnten in 15 Jahren nicht mehr so brisant sein. Eine chronologische Struktur vermeidet dieses Problem. Es wird also acht chronologische Bände geben und ein thematischer Band zum Thema Stadtraum. Vier Bände für die Zeit von der Antike bis ins 18. Jahrhundert, die weiteren vier für das 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Diese Gewichtung war ein Anliegen, weil die letzte Gesamtdarstellung der Basler Geschichte von Rudolf Wackernagel jetzt über hundert Jahre alt ist und mit der Reformation im 16. Jahrhundert endet. Aufgrund dieser Bandeinteilung wählten vornehmlich die zuständigen Herausgeberinnen und Herausgeber die Mitarbeitenden aus. Ich zum Beispiel bin für den Band von Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg zuständig, Lina Gafner wird zusammen mit Esther Baur, der Leiterin des Staatsarchivs, den Band zum Stadtraum herausgeben. Wir hatten das Glück, dass viele gute Bewerbungen eingegangen sind, was die Auswahl aber natürlich nicht vereinfacht hat.

Worauf haben Sie bei der Auswahl besonders geachtet?

Wichtig war die Vielfalt. Also nicht bloss wissenschaftliche Erfahrung, sondern auch Arbeitserfahrung in Vermittlungsprojekten und die Bereitschaft, für ein breites Publikum zu schreiben.

Die erwähnte Basler Geschichte von Wackernagel ist ja nicht das einzige Geschichtswerk zu Basel. Basler schreiben ja bekanntlich gerne über ihre Stadt. Deshalb die etwas ketzerische Frage: Warum braucht es denn eine neue, magistral abgesegnete und öffentlich finanzierte Basler Stadtgeschichte?

Die beachtliche Zahl an thematischen Geschichtswerken ist nie mehr in eine Gesamtdarstellung eingeflossen. Gerade deshalb braucht es die neue Basler Stadtgeschichte. Basel hat im 21. Jahrhundert eine grosse Boomphase durchlebt und ein neues Selbstverständnis und Selbstbewusstsein aufgebaut. Zu diesem Selbstverständnis eines traditionsbewussten Gemeinwesens, das sich aber auch in einem globalen wirtschaftlichen Umfeld verortet, gehört ein neuer Blick in die Vergangenheit – ein Blick aus einer neuen Perspektive heraus, der sich auch von einem breiteren Publikum erschliessen lässt. Dazu kommt, dass ein grosser Teil der Menschen, die hier leben, in den früheren Darstellungen gar nicht vorkommen.

Wer ist das?

Migranten zum Beispiel. Gerade neuere Migrationsgruppen kommen bislang nicht vor, obwohl sie einen wichtigen Teil dieser Stadt ausmachen. Das sind Erkenntnisse, neue Perspektiven der Stadt, die nicht zuletzt für den Unterricht an den Schulen wichtig sind.

Es entsteht also eine Gesamtschau aus heutiger Sicht. Was aber wird in 50 Jahren sein, wenn möglicherweise eine ganz andere Sichtweise vorherrschen wird?

Deshalb werden wir neben den gedruckten Bänden auch die digitalen Medien stärker nutzen. Das unterscheidet das Basler Projekt von Werken aus anderen Kantonen. Wir können vielfältiger und aktueller sein. Wir können Fotomaterial und bewegte Bilder anders einsetzen, auf eine Art, wie sie früher gar nicht möglich war. Wir können historische Quellen einem breiten Publikum zur Verfügung stellen. Und wir können, wenn gewünscht, die Geschichte nach der Veröffentlichung der gedruckten Bände natürlich weiterschreiben. Um Ihre Frage aufzugreifen: Es kann durchaus sein, dass in 50 Jahren eine wie auch immer geartete neue Geschichte nötig sein wird. Aber das schliesst die gegenwärtige Arbeit natürlich nicht aus, zumal die doch eigentlich sehr geschichtsaffine Stadt Basel viel Zeit bis zur Schaffung einer neuen Gesamtschau hat verstreichen lassen.

«Das Bild des humanistischen Basel aus früheren Darstellungen ist zwar nicht falsch, aber doch stark fokussiert.»

Wo und was sind die auffälligsten weissen Flecken in der Basler Stadtgeschichte?

Es gibt in jeder Epoche weisse Flecken. Zum Beispiel ist die Geschichte des katholischen Basel relativ schlecht aufgearbeitet. Die früheren Darstellungen vermitteln ein stark auf genuin protestantische Leistungen aufgebautes Bild des humanistischen Basel. Das ist nicht nicht prinzipiell falsch, aber doch stark fokussiert. Dazu kommen viele wirtschaftshistorische Aspekte, die in der Vergangenheit zu wenig berücksichtigt wurden: der Handel in Verknüpfung mit der Basler Mission und der modernen Wirtschaft zum Beispiel. Erwähnen kann ich die politische Rolle der Klöster im Mittelalter. Im 20. Jahrhundert gibt es ganz vieles, was bislang zu wenig behandelt wurde: die Migrationsgeschichte zum Beispiel, die unterschiedlichen Gruppierungen, die nach Basel kamen. Wir wissen wenig über die politischen Verhältnisse, wenn man die grossen Bewegungen des Freisinns oder der Sozialdemokratie ausklammert. Auf dem kulturhistorischen Gebiet ist die tragende Rolle des Basler Bürgertums in den Kulturinstitutionen und im Sozialwesen nicht systematisch erfasst. Ich könnte noch viele weitere Themen nennen. Die Bedeutung der Religionen als weiteres Beispiel, die in den vergangenen Jahren weniger wichtig war.

Wo ist die Basler Geschichte auf der anderen Seite gut dokumentiert?

Recht gut dargestellt ist die klassische Politikgeschichte und Teile der Rechtsgeschichte, die Rolle der Zünfte, die Geschichte der Reformation, die Geschichte der Kantonstrennung, die demografische Entwicklung und auch Teile der Geschichte des sozialen Basels.

Und des FC Basel?

Das kommt ja jetzt (lacht). Aber es gilt auch die Themen, die in jüngster Zeit relativ gut aufgearbeitet wurden, in eine neue Gesamtschau einzugliedern. Zum Beispiel die Geschichte des jüdischen Basel. Basel war seit der Reformation bis 1799 eine rein protestantische Stadt. Danach kehrten Menschen mit anderem Glauben und andern Konfession wieder in die Stadt zurück.

Wann werde ich in den neuen Bänden der Basler Geschichte herumblättern können?

Das wird noch einige Zeit dauern. In sechseinhalb Jahren, im Jahr 2024. Dann sollten die neun Bände und eine kleinere, üppiger illustrierte Gesamtdarstellung vorliegen. Aber bereits ab dem kommenden Frühling erhalten Interessierte über das Netz Einblicke in ausgewählte Themen und in den Stand der Arbeit.

Ist die Gesamtdarstellung als Zusatz für Schulen und Laien gedacht?

Auch die Reihe mit den neun Bänden richtet sich nicht nur an Fachleute. Wir wollen die Werke so verfassen, dass sie jeder lesen kann, der sich für die Basler Geschichte interessiert, ohne dass er ein Hochschulstudium hinter sich hat. Und zwar in allen Formaten.

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