«Wir werden es nicht schaffen, dass die Prämien sinken», sagt der BAG-Chef

Der Direktor des Bundesamts für Gesundheit, Pascal Strupler, über den Renditedruck an Spitälern und extreme Lösungen im Gesundheitswesen.

«Der finanzielle Druck bringt Ärzte dazu, Patientenakquisition zu betreiben und tendenziell mehr als nötig zu behandeln», sagt BAG-Direktor Pascal Strupler.

Pascal Strupler hat es in der Hand, wie Bundesrat Alain Berset in die Annalen eingehen wird: Als Bundesrat, der den Umschwung schaffte und die Prämienexplosion stoppte – oder als Bundesrat, der hilflos zuschaute, wie die obligatorische Krankenversicherung zugrunde ging.

Strupler ist Direktor des Bundesamts für Gesundheit (BAG) und damit de facto Bersets wichtigster Angestellter. Wir wollen von ihm wissen, wie er die «Ökonomisierung der Medizin» bewertet, die Basler Ärzte beklagen.

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Herr Strupler, der Kaderarzt eines Nordwestschweizer Spitals berichtete uns, dass er monatlich eine Liste erhält, auf der Umsatz und Gewinn jeder Abteilung stehen. Wenn eine Abteilung die Zielvorgaben nicht erreicht, bekommt sie keine neuen Geräte bewilligt. Ausserdem wollte man diesen Arzt in ein Seminar schicken, wo er lernt, wie Fallzahlen optimiert – das heisst: gesteigert – werden. Wie finden Sie das?

Ein Spital muss natürlich rentieren. Der wirtschaftliche Druck steigt immer mehr. Was nicht angeht, ist, dass medizinisch nicht notwendige Operationen durchgeführt werden. Das ist eines der Hauptziele unserer Massnahmen zur Kostendämpfung, die eine internationale Expertengruppe in unserem Auftrag ausgearbeitet hat und die wir jetzt umsetzen wollen. Die Mengenausweitung ist ein Problem, und das, was Sie schildern, geht in diese Richtung. Der finanzielle Druck bringt Ärzte dazu, Patientenakquisition zu betreiben und tendenziell mehr als nötig zu behandeln.

An manchen Spitälern erhalten Ärzte Boni, wenn sie bestimmte finanzielle Ziele erreichen. Wie kann man das bekämpfen?

Eine der von dieser Expertengruppe vorgeschlagenen Massnahmen verlangt, dass solche Boni abzuschaffen sind. Das liegt jedoch in der Hand der Kantone. Die Kantone sind verantwortlich für die Versorgung in ihrer Region, sie sind zum Teil Eigentümer von Spitälern, sie haben die Spitalplanung unter sich. Wir erwarten von den Kantonen, dass sie in diesem Bereich intervenieren.

«Seitens der Versicherer sind verstärkte Rechnungskontrollen angebracht.»

Lukrative Eingriffe, wie etwa Behandlungen mit Herzkathetern, haben in der Region Basel enorm zugenommen. Wo sehen Sie Gründe dafür?

Die Spitäler tätigen Investitionen, und diese müssen Rendite abwerfen. Wenn die Investition zu hoch ausfällt, das heisst über den Bedarf hinaus geht, besteht der Anreiz, unnötige Interventionen durchzuführen. Wir müssen uns überlegen, ob bestimmte medizinische Interventionen für gewisse Patienten überhaupt angebracht sind. Wir führen auch Untersuchungen durch, um die Kassenpflicht gewisser Leistungen grundsätzlich zu hinterfragen.  Zudem sind seitens der Versicherer verstärkte Rechnungskontrollen angebracht.

Gibt es in der Praxis schon konkrete Massnahmen gegen solche Exzesse?
Am Unispital Zürich gibt es zum Beispiel rund 35 medizinische Boards, die konkrete Fälle in Anwesenheit von Spezialisten und Generalisten diskutieren. Solche Diskussionen führen dazu, dass nicht nur Spezialisten sagen, was sie machen möchten, sondern auch Fachärzte, die einen anderen Blickwinkel oder den Überblick über den gesamten Zustand des Patienten haben. Das kann dazu beitragen, dass am Patienten nur das gemacht wird, was wirklich notwendig und sinnvoll ist.

Damit wollen Sie unnötige Eingriffe verhindern?

Ja, das ist eine der Massnahmen, die in diese Richtung zielt.

Zu den Massnahmen, die die Expertengruppe nun vorschlägt: Eine fordert, dass die Patientenrechnung verständlicher werden soll, eine andere will Referenzpreise für Medikamente, die sich an den günstigsten Preisen im Ausland orientieren sollen. Gesamthaft kann man zum Schluss kommen: Die Massnahmen sind reine Kosmetik. Sie werden kaum eine echte Senkung der Gesundheitskosten bringen.

Das ist Ihre Schlussfolgerung. Wir sind hier optimistischer. Die internationalen Experten haben 38 Massnahmen vorgeschlagen. Diese sind zwar nicht völlig neu. Aber die Diskussion wird jetzt lanciert. Es sind alle Akteure des Gesundheitswesens in der Pflicht. Der Bundesrat wird dieses Jahr eine erste Vorlage mit Massnahmen in die Vernehmlassung schicken. Es gibt auch Massnahmen, die von den Kantonen umgesetzt werden müssen und andere, die die Versicherungen betreffen. Weitere Massnahmen fordern die Ärzteschaft. Es sind aber auch die Patienten in der Pflicht. Das Gesundheitswesen schafft ein Angebot, und wenn ein Angebot da ist, ist der Patient natürlich auch versucht, dieses anzunehmen. Eine verstärkte Information des Patienten über das Gesundheitswesen kann auch das Kostenbewusstsein verbessern. Es sind alle in der Pflicht.

«Wir sagen nicht, nur die Patienten seien schuld. Wichtig ist, dass alle ihren Beitrag leisten.»

Das hört man so ähnlich seit Jahren.

Wir werden es sicher nicht schaffen, dass die Prämien sinken. Unser Ziel ist ein weniger steiler Anstieg der Kosten und damit der Prämien. Wenn Sie sich die Massnahmen genauer anschauen,  werden Sie anerkennen, dass sie alles andere sind als Kosmetik.

Das Argument, der Patient sei schuld, weil er zu oft zum Arzt geht, hört man häufig. Machen Sie es sich damit nicht zu einfach? Müsste man nicht viel stärker in die Tarife eingreifen und die Kostenspirale an den Spitälern stoppen?

Wir sagen nicht, nur die Patienten seien schuld. Wichtig ist, dass alle ihren Beitrag leisten. Es nützt nichts, nur bei den Tarifen einzugreifen. Es nützt auch nichts, wenn nur die Kantone oder die Ärzte etwas tun. Es ist das Zusammenwirken aller Beteiligten, das eine Breitenwirkung entfalten kann. Durch eine bessere Prävention und ein besseres Gesundheitsbewusstsein bleibt der Patient länger gesund und es gibt keinen Bedarf, den Arzt aufzusuchen.

Sie schlagen auch einen Experimentierartikel vor, der den Kantonen und Tarifpartnern mehr Spielraum gibt. Das klingt zunächst etwas hilflos. Wie sollen die Kantone denn konkret experimentieren?

Das Krankenversicherungsgesetz lässt eigentlich viel mehr an Kostendämpfungsmassnahmen zu, als effektiv verwirklicht werden. Der Experimentierartikel wird zusätzliche Möglichkeiten bieten. Was daraus konkret gemacht wird, werden die Vorschläge einzelner Stakeholder zeigen.

Sehen Sie bereits heute positive Beispiele von Experimenten bei den Kantonen oder haben Sie Vorstellungen davon?
Vielleicht neue Versicherungsmodelle. Ich sehe auch Möglichkeiten telemedizinischer Voruntersuchungen, die eine Triage ermöglichen und Dringendes von Bagatellen trennen, ohne dass in jedem Fall gleich der Gang zum Spezialisten erfolgt.

In diese Richtung sollen die Kantone weiterdenken?

Nicht nur die Kantone, auch die Apotheken oder Ärzte können experimentieren. Wir sind selber gespannt, was dabei herauskommt. Unser Ziel ist es, einen Artikel zu formulieren, der innovative Möglichkeiten eröffnet.

«Wenn wir es nicht schaffen, die Kostenentwicklung zu bremsen, besteht die Gefahr von extremen Lösungen.»

Wie viel Einsparungen erhoffen Sie sich konkret vom vorgeschlagenen Massnahmenpaket?

Die Experten haben Hinweise darauf gefunden, dass in diesen Bereichen Einsparungen möglich sind. Sie haben sich nicht über das Ausmass der Einsparungen ausgelassen. Ich selber wage hier auch keine Prognose.

Sie wollen die Massnahmen doch mit einer gewissen Hoffnung oder Absicht umsetzen.

Ich erhoffe mir in erster Linie, dass medizinisch unnötige Eingriffe verhindert werden. Das wird automatisch zu einer Reduktion der Kosten und damit der Prämien führen. Ich hoffe, dass es für den Prämienzahler eine spürbare Entlastung geben wird.

Sollten Ihre Massnahmen wenig Wirkung zeigen, sehen Sie dann die Gefahr, dass radikale Lösungen – wie eine Erhöhung der Franchisen auf 10’000 Franken – mehr Anklang finden?

Wenn wir es nicht schaffen, mit unseren Massnahmen die Kostenentwicklung zu bremsen, besteht die Gefahr, dass extreme Lösungen anvisiert werden.

Mit der Konsequenz, dass das Krankenversicherungssystem kaputt geht?

Kaputt gehen wird es nicht. Unser politisches System und unser politisches Verständnis haben sich bisher bewährt. Da bin ich optimistisch – aber der Handlungsbedarf bei den Kosten des Gesundheitswesens ist unübersehbar.

Einen Eingriff in den Tarmed, den Tarif für ambulante Behandlungen, hat das BAG erst kürzlich gemacht. Darunter leiden nun Kinderärzte, die bei einer Behandlung nur noch 20 Minuten abrechnen können. Das reicht aber nicht aus, um die Kosten zu decken, sagen Kinderärzte. Ist das in Ihrem Sinne, dass die ohnehin wenig rentable Kindermedizin noch mehr leidet?

Natürlich nicht. Wir haben im Vernehmlassungsprozess Änderungen vorgenommen und Ausnahmen ermöglicht –gerade für Kinder unter sechs Jahren.  Die bundesrätliche Anpassung des Tarmed ist als Übergangslösung gedacht. Der Bundesrat hat im Bereich Tarmed nur eine subsidiäre Kompetenz. Die Tarifpartner sind nun in der Pflicht, einen neuen Tarif zu verhandeln.

Beim Kinderspital beider Basel (UKBB), das massiv unter der Tarmed-Anpassung leidet, sind die Verhandlungen zwischen Spital und IV unlängst gescheitert. Das zeigt doch, wie schwierig es ist, Einigungen mit Tarifpartnern zu finden.

Das ist zugegebenermassen schwierig. Die Spitäler sind in Diskussionen mit der IV und wir koordinieren uns natürlich auch mit der IV und den Leistungserbringern.

«Wenn zu viel Infrastruktur gebaut wird, dann besteht der Anreiz, mehr Fälle zu behandeln.» 

Bei den Erwachsenenspitälern könnte man hingegen meinen, dass diese im Geld schwimmen. Hier findet ein Wettrüsten statt. Das St. Claraspital in Basel hat soeben mit 140 Millionen Franken einen Neubau fertiggestellt. Das Unispital Basel baut für rund eine Milliarde ein neues Klinikum. Seit Einführung der Fallpauschalen und der Verselbstständigung der Spitäler ist die Kostenspirale kaum mehr zu bremsen. Was tun Sie dagegen?

Gute Infrastruktur braucht es, um ein gutes Gesundheitssystem zu unterhalten. Wichtig ist das richtige Mass: Bei der Planung der Infrastruktur soll der Bedarf im Vordergrund stehen – und zwar nicht nur der heutige Bedarf, sondern auch der zukünftige, der zum Teil heute schon absehbar ist. Wenn zu viel Infrastruktur gebaut wird, dann besteht der Anreiz, mehr Fälle zu behandeln.

Ein Problem, das wir schon heute kennen.

Deshalb ist es wichtig, in die Zukunft zu schauen. Wir stellen ja bereits heute fest, dass eine Tendenz vom Stationären hin zum Ambulanten besteht. Das muss bereits bei der  Planung der Infrastruktur beachtet werden, damit Überkapazitäten verhindert werden. Nochmals: Die Spitalplanung und Versorgung liegen in der Hand der Kantone. Sie stehen hier in der Verantwortung, im Interesse der Patientinnen und Patienten und der Prämienzahler.

Wie bewerten Sie denn Projekte wie die geplante Spitalfusion in Baselland und Basel-Stadt, die durchaus Pilotcharakter hat?

Solche Versuche sind sicher willkommen. Es gibt zu viele Spitäler, die zu viel anbieten. Wir verfolgen diese nicht immer ganz einfache Diskussion mit Interesse. Denn es ist eine notwendige Diskussion. Eine Spitalplanung über die Kantonsgrenzen hinweg ist etwas, das die Kosten dämpfen kann. In dieser Hinsicht ist das Basler Projekt zukunftsweisend.

Durch die Zusammenlegung erwartet man Einsparungen in Höhe von rund 70 Millionen Franken – bei Gesundheitskosten von insgesamt 5,6 Milliarden Franken in beiden Halbkantonen. Das weckt den Verdacht, dass es sich hier mehr um ein Prestigeprojekt handelt als um eine effektive Kostendämpfung.

Wie viele Einsparungen das Projekt langfristig nach sich zieht, wird sich zeigen. Aber das Potenzial zur Kosteneinsparung ist sicher da. Eine vermehrte Koordination ist zentral, auch im ambulanten Bereich. Der Bundesrat wird bald mit einer Vorlage kommen, die den Kantonen auch im Bereich der ambulanten Leistungserbringer Möglichkeiten zur Steuerung und Koordination geben soll, auch über die Kantonsgrenzen hinweg.

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