«Wir werden in den Abgrund regiert»

Ein Gespräch mit Peter Sloterdijk bedeutet vor allem: zuhören. Der Philosoph beklagt den Umgang mit der Natur. Ein Essay im Kleid eines Interviews.

Aufgepasst, Peter Sloterdijk holt gerade aus: Der Philosoph bewies beim Interview in der Bar des Hotel Trois Rois, dass auch aktuelle Probleme einer kulturgeschichtlichen Betrachtung bedürfen. (Bild: Christian Schnur)

Ein Gespräch mit Peter Sloterdijk bedeutet vor allem: zuhören. Der Philosoph beklagt den Umgang mit der Natur. Ein Essay im Kleid eines Interviews.

Peter Sloterdijk kommt gerade von der Basler Messe «Natur», wo er dem geneigten Publikum seine Auslegung des ökologischen Imperativs erklärt hat. Ob seine Botschaft angekommen ist, wollen wir wissen. Er zweifelt: «Wer chronisch besser ist als andere, spürt wenig Lernbedarf.» Ins Gespräch im Hotel Trois Rois trägt er das Odeur des Starphilosophen. Porträtaufnahmen lehnt er ab. Nach einer halben Stunde Gespräch folgt der Abgang: «So, ich muss jetzt los.» Davor ereignen sich 30 Minuten, die sich zwischen zwei Buchdeckel klemmen und im Fachbedarf für bewusstes Handeln vertreiben liessen.

Klimaerwärmung, Ressourcenverschwendung, Landschaftsverbrauch – eine Mehrheit der Gesellschaft nimmt die ökolo­gische Problematik wahr. In rein demokratischen Prozessen wird es aber kaum gelingen, sich auf erfolgreiche Strategien gegen die Umweltzerstörung zu einigen. Was läuft falsch?

Die Frage, was falsch läuft, ist vielleicht ein wenig einseitig, denn sie taucht erst im Schatten einer anderen Frage auf beziehungsweise einer anderen Überzeugung, nämlich, dass die Dinge im Grossen und Ganzen richtig laufen.

«Die politische Moderne begann als ein Unternehmen zur Erhebung des breiten Volks in den Adel.»

Man muss sich erinnern: Die politische Moderne begann als ein Unternehmen zur Erhebung des breiten Volks in den Adel. Dagegen kann man wenig sagen. Wenn es nur um eine kostenlose Würde ginge, sollte man alle aufsteigen lassen, lieber heute als morgen. Wenn es nur darum ginge, Wohlstand für alle zu garantieren – warme Bäder für die schönen Mädchen aus dem Volk! Es muss ja nicht immer Eselsmilch sein – so wäre dagegen gar nichts einzuwenden.

Das 19. Jahrhundert jedoch erwies sich als die Zeit, in der die Menschen die Entdeckung machten, dass der von Marx so genannte Stoffwechsel des Menschen mit der Natur, sprich: die Arbeit, eben diese Natur nicht unberührt lässt. So kommen wir auf den kritischen Punkt!

Die grosse Zäsur im modernen Denken erfolgte am Vorabend des Ersten Weltkrieges. 1912 hat einer der führenden Naturwissenschaftler Europas, Wilhelm Ostwald, ein Buch unter dem Titel «Der energetische Imperativ» publiziert, das bis heute die «Magna Charta» der grünen Bewusstseinslage darstellt, auch wenn es kaum noch jemand kennt.

Es ist die erste profunde Interpretation des physikalischen Paradoxons der ­Moderne: Ostwald deckt die Tatsache auf, dass wir im Begriff sind, auf einer endlichen Grundlage ein ­unendliches Konsumexperiment durchzuführen. Daher spricht er vom «energetischen Imperativ».

Dieser hat antizipatorischen Charakter: Denn Knappheit antizipieren heisst sparen. Ostwald war der erste Ethiker des globalen Haushaltens. Sein energetischer Imperativ besagt lapidar: «Weil (fossile) Energie eine endliche Grösse darstellt, spare sie!»

Der bekannteste Niederschlag dieser Überlegungen findet sich bei Max Weber. Nach dessen Überzeugung würde das gewaltige Experiment der Industriezivilisation erst an ein Ende kommen, «wenn die letzte Tonne Erz mit der letzten Tonne Kohle verhüttet» wäre.

«Ein globales Solidarsystem würde bedeuten, dass eine weltweit effiziente Exekutive in Umweltfragen ­tätig würde.»

Interessanterweise hatten beide, Weber wie Ostwald, das Erdöl noch nicht im Horizont. Beide haben den «Spindletop Gusher» und seine Konsequenzen nicht zur Kenntnis genommen, jene über 50 Meter hohe Erdölfon­täne, die im Januar 1901 bei Bohrungen in Texas ausgetreten war.

Das war, wie wir heute erkennen, das entscheidende Emblem des 20. Jahrhunderts. Die Europäer, in ihrer morbiden Gestimmtheit, haben lieber den Untergang der «Titanic» im April 1912 als das prophetische Bild des 20. Jahrhunderts aufgefasst, und sie schleppen es bis heute mit. Den «Spindletop Gusher» hat hier kaum einer bemerkt. Und doch war er das Mahnzeichen der Epoche, er bezeichnete den Eintritt in die Ära des Erdöls.

Sie setzen beim ökologischen Imperativ von Hans Jonas an, der sinngemäss lautet: Handle so, dass die Folgen deines Handelns menschenwürdiges Leben künftiger Generationen nicht beeinträchtigen. Die erste Ihrer Umformulierungen besagt: «Handle so, dass die Folgen ­deines Handelns die Entstehung ­eines globalen Solidarsystems fördern oder zumindest nicht behindern.» Was wäre ein solches Solidarsystem?

Ein globales Solidarsystem würde bedeuten, dass eine weltweit effiziente Exekutive in Umweltfragen ­tätig würde, das heisst vor allem bei der Integrität der Elemente – zumal der Ozeane und der Lufthülle des Planeten. Ein solches Organ müsste so etwas wie einen Weltsicherheitsrat für Naturgüter ergeben.

Bisher existiert nur ein einziges politisches Organ, das von ferne einer Weltexekutive, einer rudimentären Instanz von Global Governance, gleichkommt, der Weltsicherheitsrat, dessen Zuständigkeit sich auf militärische Sujets erstreckt. Was man jetzt dringend bräuchte, wären mehrere Weltsicherheitsräte – einen für den Schutz der Elemente, einen für Urbanistik, einen für Welternährungsfragen, einen für Wirtschaftskontrolle und anderes.

Der erste Zusatz zu dem Imperativ von Hans Jonas bedeutet also, wir müssen uns so verhalten, dass das Zustandekommen dieser lebenswichtigen Welt-Exekutivorgane nicht behindert wird. Gegen diese Regel verstossen im Augenblick praktisch alle Agenten auf der Weltbühne. Handlungsfähigkeit wird derzeit nur auf darunterliegenden Ebenen gefunden.

Die UNO-Vollversammlung umfasst heute 193 sogenannte Souveräne, nämlich die Nationalstaaten. Die haben, so seltsam es klingt, ein gemeinsames Interesse daran, die Herausbildung einer höherstufigen Agentur zu sabotieren. Unsere Regierenden regieren uns in den Abgrund, weil sie die Schaffung der ­höherstufigen Agentur nicht mit der nötigen Ernsthaftigkeit betreiben.

Punkt zwei Ihrer Umformu­lierung: «Handle so, dass die ­bisher übliche Praxis der ­Plünderung und der Externa­lisierung durch ein Ethos der glo­balen Protektion ersetzt ­werden kann.» Wie muss man das verstehen?

Protektion ist ein Leitbegriff der Immunologie. Wo Leben ist, entsteht Verletzbarkeit, und wo Verletzbarkeit ist, sind Schutzvorkehrungen nötig. Die bisherigen Formen des Stoffwechsels von Mensch und Natur waren dadurch gezeichnet, dass wir vor der Ära der Massenproduktion und des massenhaften Energieumsatzes die Abfälle unseres Stoffwechsels sorglos externalisieren konnten. Die Natur hat bis vor Kurzem so gut wie alles verziehen. Durch allzu rücksichtslose Externalisierung ist die Lizenz, Umweltfolgen nicht bedenken zu müssen, verloren gegangen. Wir müssen uns jetzt tatsächlich um «die Natur» Sorgen machen. 

Wir sind jetzt zur Fürsorge verdammt für eine Grösse, die uns früher oft als eine transzendente, nicht selten sogar feindliche Instanz gegenüberstand. Ist das nicht seltsam? Zuerst bedroht uns die Natur mit Mangel, Tod und Teufel, und dann sollen wir uns um sie kümmern?

Aus psychologischer Sicht ist der Zustrom zu den Grünen nur zu erklären durch die Entstehung von Individuen, die eine idea­lisierende Mutterübertragung auf die Natur vollziehen können. Menschen früherer Zeiten haben die Natur eher als Stiefmutter oder als karge Mutter konzipiert. Bei vielen Südeuropäern sieht man das noch heute recht deutlich. Sie haben die romantische Mutterübertragung auf die Natur selten entwickelt und sind mehrheitlich bei der alten agrarischen Stiefmutter­ambi­valenz stehen geblieben. Wenn solche Leute jetzt sehen, wie die Grü­nen dieses alte Miststück Natur unter Schutz stellen wollen, müssen sie denken, die da oben sind verrückt geworden.

Mutterübertragung im Sinne von «Ehre und achte die Natur»? Oder im Sinne von «sie kümmert sich um mich»?

In der idealisierenden Übertragung kommt beides zusammen. Die gros­se Mutter der Romantik ist Ernäh­rerin, Erzieherin und Heilerin zugleich: natura nutrix, natura docet, natura sanat. Menschen mit Stiefmuttergefühl würden keine dieser Aussagen unterschreiben.

Die dritte Variation Ihres kategorischen Imperativs lautet: «Handle so, dass durch die Folgen deines Handelns keine weiteren Zeitverluste bei der im Interesse aller unumgänglichen Wende entstehen.» Drücken Sie damit die zeitliche Dringlichkeit der Übergangspolitik aus?

Wir machen uns in der Regel nicht richtig klar, worin der Unterschied zwischen Humangeschichte und ­Naturgeschichte besteht. Geschichte nennen wir die Prozessform des ­Projekts, den Rechtsstaat weltweit zu verwirklichen. Das ist ein mühsames Unternehmen, in dem es summa summarum aller Rückschläge ungeachtet langsam vorangeht. Daher kann man die Geschichte auch das Reich der zweiten Chancen nennen. Was heute misslingt, kann morgen zum Erfolg führen.

«Für einen katastrophischen Einschnitt dieses Typs gelten die Denkregeln der geschichtlichen Welt nicht mehr.»

In der historischen Welt braucht man darum vor allem Geduld, verbunden mit der Pflicht zur Zuversicht. In der Naturgeschichte herrschen dagegen völlig andere Gesetze. In ihr gibt es keine zweiten Chancen, denn die Natur ist die Sphäre der irreversiblen Prozesse. Nehmen wir an, die aktuellen Annahmen über anthropogene Klimaeffekte bewahrheiten sich in den kommenden Jahrzehnten: Die Erdtemperatur steigt bis 2100 um drei Grad an. Das würde regionale Verwüstungen ebenso nach sich ziehen wie regionale Paradiesbildungen. Nehmen wir weiter an, der anthropogene Klimaeffekt sei stark genug, um uralte im Permafrost gebundene Methangasdepots auf der Nordhalbkugel freizusetzen. Dann könnte aus dem selbst bewirkten Effekt ein indirekt bewirkter physikalischer Zusatzeffekt erfolgen, durch den ein durchschnittlicher Temperaturanstieg um bis zu acht oder zehn Prozent denkbar würde.

Für einen katastrophischen Einschnitt dieses Typs gelten die Denkregeln der geschichtlichen Welt nicht mehr. Daher muss man die Ethik des geschichtlichen Handelns unterscheiden von der Ethik des naturgeschichtlichen Notstands. Im Hinblick auf den Letzteren ist evident, dass man fahrlässige Verzögerungen von Massnahmen, die das Eintreten des Notstands verhindern könnten, nicht dulden darf.

Wir streiten uns heute über die Frage, ob wir am Vorabend einer Notstandssituation leben oder nicht. Hier stehen ökologische Alarmpoli­tiker einer breiten Front von ökologischen Appeasement-Politikern gegenüber. Für die einen gibt es gar keinen Grund zum Handeln, für die anderen ist es 5 Sekunden vor 12.

Wo stehen Sie in diesem Streit?

Ich habe mich seit Langem mit der Logik des Alarms vertraut gemacht, und ich neige dazu, den Alarmisten recht zu geben. Zwar fürchte ich für meine Lebenszeit keine grösseren Rückschläge, aber in weiterer Per-spektive scheint mir evident, dass einschneidende Massnahmen nötig sind. Ich nehme an, dass die ökologisch Sorglosen oft schlichtes Nichtwissen oder naive Ungläubigkeit gegen dunkle Prognosen an den Tag legen. Schlimmer ist der Fall bei Leuten, die von den Risiken wissen und doch mit voller Kraft in die alte Richtung steuern. Die neue amerikanische Energiepolitik ist angesichts dessen, was wir ökologisch wissen, eigentlich schon ein Fall für Den Haag, denn sie impliziert ein in voller Kenntnis der Umstände in Angriff genommenes Verbrechen gegen die Menschheit.

«Angesichts dessen, was wir heute wissen, impliziert die erneute Forcierung fossiler Ressourcen ein Verbrechen gegen die Menschheit.»

Sie denken an den Plan der USA, mithilfe der Fracking-Technik noch viel mehr Öl und Gas aus ihrem eigenen Boden holen?

Natürlich. Man stellt auf diese Weise die fällige Wende zum post-fossilen modus vivendi leichtfertig um ein halbes Jahrhundert zurück, auf die Gefahr hin, dass es dann für eine sinnvolle Umweltpolitik zu spät sein könnte. Angesichts dessen, was wir heute wissen, impliziert die erneute Forcierung fossiler Ressourcen ein Verbrechen gegen die Menschheit. Dass dergleichen unbehindert geschehen kann, ja dass es Nachahmung hervorruft, auch in Deutschland, erläutert meine These vom Fehlen einer globalen Agentur. Unter den 193 Souveränen von heute gibt es sichtlich einige, die noch souveränere Souveräne sein wollen als die übrigen. Die Vereinigten Staaten von Amerika sind nach wie vor der egoistischste Akteur auf der Bühne der konfusen Teilagenturen. Sie reklamieren ein Menschenrecht auf bevorzugten Weltverbrauch.

Wie halten Sie es mit Ihren ­eigenen drei ­Imperativen?

Nun ja, ich fliege noch hin und wieder zu Vortragsorten – diese Meilen sind mein persönlicher Beitrag zur Apokalypse. Dennoch hoffe ich, dass ich später mal eine neutrale Umweltbilanz erreiche. Vor einiger Zeit bin ich mit Franz Josef Radermacher, ­einem deutschen Krisenpropheten, der seit Längerem zur Umkehr mahnt, nach einer Fernsehsendung in einem Steakhouse zusammengesessen. Ich fragte ihn ein wenig ­boshaft: «Was essen Sie denn da? Für einen Welt­retter ist das ein ziemlich verbotenes Menü!» Er meinte, er verrechne das Gute, das er mit seiner Prophetie bewirke, mit seinen privaten Extrakalorien und komme dabei noch immer zu einer stark positiven Bilanz. Das nenne ich: Von Propheten lernen!

 

Peter Sloterdijk
Einem breiten Publikum wurde Peter Sloterdijk, 65, als Moderator des Philosophischen Quartetts im ZDF bekannt. Bis 2012, stolze zehn Jahre lang, leitete der knorrige Philosoph die Talkrunde, bis er vom geschniegelten Richard David Precht verdrängt wurde. In seinen Werken scheute Sloterdijk die Kontroverse nicht, suchte sie oft. Den Durchbruch schaffte er mit «Kritik der zynischen Vernunft» (1983). Für heftige Debatten sorgte seine 1997 in Basel gehaltene Rede «Regeln für den Menschenpark», die ihm den Vorwurf einbrachte, Fantasien aus der Nazi-Zeit wiederzubeleben. Sloterdijk ist Professor für Philosophie und ­Ästhetik in seiner Geburtsstadt Karlsruhe.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 08.03.13

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