Naturpädagogin Sarah Wauquiez erklärt im Interview, warum Eltern keine Angst vor dem Wald haben müssen, wie wichtig Naturerlebnisse für Kinder sind und was es braucht, dass sie häufiger zu solchen Erlebnissen kommen.
Frau Wauquiez, warum ist der Wald wichtig für Kinder?
Für eine gesunde Entwicklung der Kinder sind Naturerlebnisse absolut notwendig, denn in der Natur findet das Lernen über alle Sinne statt. Hier machen die Kinder reale Erfahrungen – aus der Hirnforschung weiss man, dass solche sinnlich erlebten Erfahrungen viel besser im Langzeitgedächtnis verankert bleiben.
Kritiker wenden ein, dass der Wald auch viele Gefahren birgt.
Ja, das ist immer die grosse Angst. Ich denke: Es ist grundsätzlich draussen nicht gefährlicher als drinnen. Die meisten Unfälle im Kindesalter sind Sturzunfälle. Hier bietet der Aufenthalt im Wald Gesundheitsprophylaxe: Die Kinder werden durch den unebenen Boden und die vielen Klettermöglichkeiten im grobmotorischen Bereich deutlich sicherer als Kinder, die überwiegend drinnen spielen – das haben schon viele Studien belegt.
«Ein achtsamer Umgang mit der Natur und mit sich selbst erlernt ein Kind nur über positive Naturerfahrungen.»
Wie sieht es mit Zecken oder giftigen Pflanzen aus?
Die Lehrpersonen können im Wald die Kinder gut im Umgang mit den verschiedenen Pflanzen schulen. Und Zecken gibt es auch auf Spielplätzen. Der Unterschied ist: In der Natur sieht man die Gefahren deutlich, drinnen aber sind die Gefahren indirekt. Wenn ein Kind sich überwiegend in geschlossenen Räumen aufhält, dann werden verschiedene Bereiche weniger entwickelt, die später wichtig sind, zum Beispiel die Grobmotorik. Man beschränkt den ganz natürlichen Bewegungsdrang der Kinder. ADHS und Hyperaktivität sind auch eine Konsequenz von viel drinnen sein, von zu vielen strukturierten Angeboten. Wirklich gefährlich ist es, wenn Kinder nicht raus dürfen!
Nicht alle Kinder haben die Möglichkeit, täglich in den Wald zu gehen. Was kann man tun?
Es muss nicht unbedingt der Wald sein. Auch eine Wiese ermöglicht Naturerlebnisse oder ein Robinson-Spielplatz. Dort gibt es Werkzeuge und Naturmaterialien – mit diesen unstrukturierten Angeboten kann man die Kreativität der Kinder sehr gut fördern. Ich denke aber, dass ein möglichst täglicher Aufenthalt in der Natur ideal ist. Wenn die Natur nicht gleich neben dem Schulhaus spriesst, sollte man zumindest auf die Regelmässigkeit der Naturaufenthalte achten. Ein achtsamer Umgang mit der Natur und mit sich selbst erlernt ein Kind nur über positive Naturerfahrungen.
«Alle Schulfächer kann man auch in der Natur lehren.»
Was kann man in der Schweiz strukturell verändern, damit mehr Kinder in den Wald gehen können?
Regelmässige Waldtage in staatlichen Kindergärten und Schulen sind ideal, denn nur so werden wirklich alle Bevölkerungsschichten erreicht. Ein Waldkindergarten wird immer eine Nische bleiben für Eltern, die sich ganz bewusst damit auseinandersetzen. Dennoch könnten solche Privatinitiativen von staatlicher Seite stärker gefördert werden.
Wie viele Kinder kommen in den Genuss von Waldtagen?
Grundsätzlich ist die Deutschschweiz da schon weiter als die Westschweiz und das Tessin, aber auch hier kann man noch viel öfter mit den Kindern raus in die Natur gehen. In manchen Kantonen gibt es unheimlich viele Reglemente, die die Lehrpersonen beim Rausgehen beachten müssen; das könnten die Kantone deutlich erleichtern. Ich selbst arbeite in der Erwachsenenbildung und denke, dass noch viel mehr Lehrpersonen in Ausbildungen und Weiterbildungen ermuntert und angeregt werden können, mit ihren Schülern raus zu gehen. Alle Schulfächer kann man auch in der Natur lehren.
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Reportage: Statt in geheizten Räumen sind die Kinder im Waldkindergarten jeden Vormittag draussen. Was sie alles dabei lernen, und weshalb frühkindliche Naturerfahrungen so wichtig sind, das haben wir bei unserem Besuch beim Waldkindergarten Spitzwald erfahren.