WM-Experte Benjamin Huggel: «Im Sport bin ich ein Patriot»

Benjamin Huggel erklärt dem Schweizer Fernsehpublikum in den kommenden Wochen den Fussball an der WM. Ein Gespräch mit dem ehemaligen FCB-Profi über Stilfragen und Beisshemmungen, über das Expertenwesen und warum der bald 41-Jährige sich das Wort «genau» abtrainieren lässt.

«Der erste Eindruck spielt schon eine Rolle» – Benjamin Huggel, der Experte im WM-Programm des SRF, mit seiner Turnierfrisur beim Gesprächstermin mit der TagesWoche.

Herr Huggel, tragen Sie schon Ihre WM-Frisur?

Das ist sie. Und die Haare schneidet mir eine Bekannte, mit der ich schon in der Schule war.

Neben Rainer Maria Salzgeber und seinen kleinen modischen Extravaganzen hat man ja keinen ganz einfachen Stand.

Das ist eine Herausforderung. Absolut. Und wir sprechen uns ab, damit es farblich nicht zu sehr kollidiert.

Mischt sich Ihre Frau denn ein, wenn es um das Hemd oder das Sakko fürs Fernsehstudio geht?

Meine Frau redet mir da eigentlich nicht rein, sie sagt höchstens mal so etwas wie: «Du, das hat mir jetzt nicht gefallen.» Ich bin extern sehr gut beraten von einem Basler Unternehmen und von den Stylingberatern des SRF.

Wie schwer ist es denn, neben dem Charme des Anchorman Salzgeber zu bestehen?

Rainer ist ein absoluter Vollprofi. Er hilft mir, er ist strukturiert, er überlegt während der Einspieler oder der Werbung, mit welchem Bild man zurückkommt. Wir sprechen durch, was genau wir sagen, wie er mich lanciert – er will einfach ein gutes Produkt schaffen.

Neben allem Fachlichen und der Persönlichkeit – welche Rolle spielt die äusserliche Erscheinung?

Die Optik ist sehr wichtig. Den Leuten vor dem Bildschirm fällt auf, ob man rasiert ist oder nicht, was man anhat, und als ich kürzlich mal in leichten Freizeitschuhen ohne Socken im Studio sass, gab es nicht wenige Reaktionen. Fernsehen ist ein visuelles Medium, und der erste Eindruck spielt da schon eine Rolle.

Bekommt man mehr Reaktionen auf solche Äusserlichkeiten oder auf das, was Sie zum Spiel zu sagen haben?

Es hält sich die Waage.

Regen sich die Leute eigentlich noch über den Basler Benjamin Huggel als Stimme im TV auf? In Zürich zum Beispiel?

Ich habe festgestellt, dass die Leute in der Schweiz mich unabhängig vom Dialekt als Experten wahrnehmen. Ich glaube, ich trage eher dazu bei, dass der Basler Dialekt beliebter wird (lacht). Und ich bekomme sehr viele wohlwollende Rückmeldungen aus Zürich. Ich war beim Sächsilüüte und positiv überrascht, wie nett die Leute waren.

Der Moderator und der Experte: Rainer Maria Salzgeber (links) posiert mit Benjamin Huggel.

Wie wird man beim SRF Fussballexperte für die WM?

Als ich 2012 als Fussballprofi aufgehört habe, übertrug SRF ein Spiel pro Super-League-Runde, dafür hat das Fernsehen Experten gesucht. So bin ich da reingerutscht, und zwei Jahre später begleitete ich auch Champions-League-Spiele. Als Alain Sutter Sportchef in St. Gallen wurde, gab es eine Vakanz als Nationalmannschaftsexperte. Es ist das Grösste, was man beim SRF als Fussballexperte machen kann.

Und eine WM ist die Krönung des Expertentums?

Ziehen Sie das jetzt ein wenig ins Lächerliche?

Gott bewahre, nein.

Es hört sich aber so an (lacht). Die Wichtigkeit im Fernsehen korreliert mit den Einschaltquoten. Und die Schweizer Spiele an den Turnieren haben halt sehr hohe Einschaltquoten. Unter den Top 10 der meistgeschauten SRF-Sendungen seit 2013 – damals wurde ein neues Messsystem eingeführt – sind neun Fussballländerspiele.

Das Nordirland-Spiel in der Barrage hat vergangenes Jahr alles geschlagen.

Das wird an der WM auch so sein, die Spiele werden mehr als eine Million Menschen in der Deutschschweiz verfolgen. Die Nationalmannschaft ist das Aushängeschild unseres Fussballs. Und es gibt ein nationales Gemeinschaftsgefühl.

Spüren Sie das auch?

Was Sport anbelangt, bin ich ein absoluter Patriot. Als die Eishockey-WM lief, da klebte ich am Fernseher, ich bin fast in den TV reingesprungen.

Das heisst, Sie haben auch noch Zeit, Eishockey zu schauen?

(lacht) Muss ich mich jetzt auch noch rechtfertigen für meinen TV-Konsum?

Natürlich nicht. Aber im Ernst: Was erfordert Ihr Job an Vorbereitung?

Es gibt zwei Komponenten: Erstens, wie die Mannschaft in der Vergangenheit gespielt hat, welcher Spieler wo agieren könnte und ob er in Form ist. Solche Fragen. Da kriegen wir Fakten, die wir interpretieren. Vor dem Testspiel neulich in Griechenland habe ich mal ein paar mögliche Aufstellungen für mich aufgeschrieben und überlegt, ob der Trainer auch mal mit drei Verteidigern spielen könnte. Das hat er in den letzten zehn Minuten gegen Griechenland auch gemacht. Zweitens nutzen wir Software, mit der wir gewisse Szenen aufzeigen und analysieren. Das ist mit der Überlegung verbunden, dem Publikum zu Hause die wichtigsten Szenen des Spiels anschaulich und verständlich zu erklären. Bei den Spielen der Nationalmannschaft sind auch viele Zuschauer dabei, die sonst nicht viel Fussball schauen. Da geht es darum, dass Begriffe wie «ein Ball in die Tiefe» oder «hoch stehen» nicht jeder kennt.

Gibt es denn beim SRF etwas Neues auf diese WM hin?

Wir werden auf den Sozialen Medien noch mehr ins Detail gehen. In fünf Minuten am TV kann man maximal zwei Spielszenen vernünftig behandeln. Wenn es drei weitere interessante gibt, werden wir die für die Kanäle der Sozialen Medien auch noch analysieren.

Arbeiten Sie selbst am Analysetool oder macht das ein Redaktor?

Der Kollege am Analysetool ist in Zürich. Das Tool wird auch im WM-Studio benutzt und in Zürich bedient. Unter anderem von Christian Maier, der Nachwuchschef beim FC St. Gallen ist. Er schlägt auch Szenen von sich aus vor, das ist ein sehr proaktives Zusammenspiel.

«Dass mit dem Videobeweis der spontane Jubel leidet – das müssen Zuschauer wie Spieler in Kauf nehmen.»

Bei dieser Weltmeisterschaft wird es zum ersten Mal den Video Assistent Referee (VAR) geben, also die Möglichkeit, strittige Szenen zu überprüfen. Die Testphasen, zum Beispiel vergangene Saison in der deutschen Bundesliga, haben nicht alle glücklich gemacht.

Ich hoffe einfach, dass die Fifa mit Leuten aus Ländern arbeiten wird, die das schon eingeführt haben. Grundsätzlich finden es viele gut, dass es dieses technische Hilfsmittel gibt. Nicht gut ist es, wenn die Zuschauer im Stadion eine nachträgliche Entscheidung nicht nachvollziehen können oder ein Unterbruch des Spiels zu lange dauert.

Lässt sich dadurch wirklich mehr Gerechtigkeit herstellen? Es gibt doch einfach Situationen, die man so und so interpretieren kann. 

Die Spieler sind dafür, dass dieses Hilfsmittel benutzt wird. Auch wenn der spontane Torjubel darunter leidet, weil man sich die Szene nochmal anschauen. Das werden alle, Spieler wie Zuschauer, in Kauf nehmen müssen. Ich habe es selbst erlebt, 2001 beim berühmten Phantomtor in St. Gallen, als wir ein Gegentor erhielten, bei dem der Ball klar nicht hinter der Linie war. Das nervt dich als Spieler zutiefst. Ich fände ausserdem interessant, wenn zum Beispiel jeder Trainer einmal pro Halbzeit die Möglichkeit einer Challenge hätte. Aber klar ist auch, dass man mit dem Videobeweis nicht alle Entscheidungen niet- und nagelfest machen kann.

«Wir haben als Rechteinhaber keinen exklusiveren Zugang als andere Medien» – Benjamin Huggel über die Informationsbeschaffung im Umfeld der Nationalmannschaft und der Weltmeisterschaft. 

Die technische Seite ist das eine. Die andere ist das Innenleben der Kabine, das Sie als ehemaliger Profi schildern sollen.

Man muss beides anbieten, und das machen wir. Aber wenn ich zum Beispiel Vorträge halte, interessiert die Leute genau das: Was passiert vor dem Spiel in der Garderobe, in der Pause, was nach dem Spiel? Wenn man das hundert Mal oder mehr erlebt hat, kann man das weitererzählen. Wobei heute gewisse Abläufe wahrscheinlich schon ein wenig anders sind.

Haben Sie Kontakt mit Spielern der aktuellen Nationalmannschaft? Besorgen Sie sich vor dem Spiel Informationen?

Grundsätzlich will ich die Spieler nicht in die Situation bringen, dass sie das Gefühl haben, mir etwas erzählen zu müssen. Ich kenne das noch von früher. Mit vielen Spielern dieser Nationalmannschaft habe ich ja noch zusammengespielt. Und ich merke, dass sie sich freuen, mich zu sehen, und umgekehrt ist es auch so. Ein paar geben mir Informationen, die ich sonst nicht bekomme. Ich frage sie aber nicht aktiv aus, sondern pflege einfach den Kontakt. Als guter Zuhörer erfährt man manchmal mehr.

Ist der Zugang für den Rechteinhaber SRF zu Trainerstab und Mannschaft nicht viel einfacher?

Wir haben keinen exklusiveren Zugang als andere Medien.

«Ich bin nicht der Typ, der polemisch ist oder als Experte polemisch sein will.»

Wenn Sie mit dem einen und anderen noch zusammengespielt haben, gibt es da Beisshemmungen bei der Bewertung dieser Spieler?

Das ist möglich. Als Spieler hört man nicht gerne, wenn man einen Fehler gemacht hat. Aber das ist Teil meines Jobs, und den werde ich ausfüllen. Es geht immer auch um die Art und Weise, darum, ob man jemanden vernichtet mit seiner Analyse oder nicht. Es hat eine andere Wirkung, wenn man sagt: «Aus meiner Sicht war das eine falsche Entscheidung», als wenn man sagt: «Das geht jetzt wirklich gar nicht, was der da macht». Ich bin nicht der Typ, der polemisch ist oder polemisch sein will. Immer mit der Gefahr, dass ein Spieler sich trotzdem falsch behandelt fühlt. Aber damit werde ich umgehen können.

Auf die deutschen TV-Experten Oliver Kahn und Lothar Matthäus ist Kritik niedergeprasselt, weil sie nach dem Champions-League-Finale Liverpools Torhüter Loris Karius abgefertigt haben. Die «Süddeutsche Zeitung» schrieb: «Für solche Polemik braucht es keine Experten, dafür gibt es den Stammtisch.»

Das ist eine coole Aussage. Ich war ja auch im Studio, habe es aber umgedreht und gesagt: Ich finde es schade, dass man aufgrund dieser Fehler gar nicht weiss, welche Mannschaft eigentlich die bessere war.

Das ist deutlich genug.

Aber kein Stammtisch. Ich will ja auch deutliche Aussagen machen. Karius weiss selber, dass er Fehler gemacht hat, darauf muss man nicht herumhacken, ich finde das langweilig. Das interessiert mich nicht, jeder sieht, dass das zwei krasse Torhüterfehler waren. Deswegen habe ich meinem Sohn gesagt, er solle nicht Torhüter werden.

Wie verarbeitet Karius diese Szenen? Das kriegt man doch nicht mehr aus dem Kopf.

Kriegt Arjen Robben jemals aus dem Kopf, dass er 2010 im WM-Final gegen Spanien zweimal alleine auf Iker Casillas zulief und das Tor nicht machte? Jedes Mal, wenn er darauf angesprochen wird, nervt ihn das wieder. Was soll denn Karius sagen? «Ich beende meine Karriere?» Er muss einfach damit leben, dass diese Szenen kommen werden, wenn man künftig seinen Namen googelt. Man ist im Fussball ab und zu der Depp, und wenn er in seiner Karriere weiterkommen will, geht es darum, einmal mehr aufzustehen als umzufallen.

Zwei Tore in 41 Länderspielen hat Beni Huggel als defensiver Mittelfeldakteur erzielt – und er war beim 3:0 in Luxemburg im Oktober 2009 der Schütze des 1000. Treffers in der Geschichte der Schweizer Nationalmannschaft.

Wie haben Sie das verarbeitet, als sich in Istanbul tumultartige Szenen abspielten und Sie wegen eines Fusstritts die WM 2006 verpassten?

Das liegt jetzt aber sehr weit zurück. Für mich war es ein schwerer Einschnitt in meiner Karriere. Ich war zwar nicht ganz unschuldig, aber trotzdem glaube ich heute noch, dass die Schweiz ungerecht behandelt wurde. Da sind Dinge vorgefallen, die nicht gehen. Aber soll man deshalb die ganze Zeit heulend herumlaufen? Irgendwann interessiert das niemanden mehr. Das ist ein Prozess, den ich abgeschlossen habe, auch wenn ich immer wieder darauf angesprochen werde.

Diese Szene gehört untrennbar zu Ihrer Karriere. Hat Sie ihnen auch etwas gebracht?

Das weiss ich nicht. Möglich. Ich hätte an dieser WM ja ohnehin kaum gespielt, ich war die Nummer 2 hinter Johann Vogel, der damals voll im Saft war. Es war also nicht so schlimm, was den Fussball betrifft. Aber es haben alle gesagt, dass dieses Turnier in Deutschland stimmungsmässig etwas vom Besten war.

An der Heim-EM 2008 waren Sie dann dabei, allerdings ohne zum Einsatz zu kommen.

Da war ich Co-Trainer.

Aha. Wie meinen Sie das?

Im Startspiel gegen Tschechien hatte sich Alex Frei in der 41. Minute verletzt, Innenbandriss. Köbi Kuhn wollte in der 44. Minute wechseln. Wuschu (Christoph Spycher) und ich sind wie Taranteln von der Bank aufgesprungen, zu Köbis Assistenten Michel Pont gelaufen und sagten ihm: «Nicht jetzt wechseln! Wir wissen doch gar nicht, was Alex hat. Es geht noch eine Minute, diese Minute kriegen wir auch zu zehnt noch durch.» Wir haben es also geschafft, diesen Wechsel zu verhindern, deswegen sagte ich «Co-Trainer».

Zehn Jahre später ist Ihr ehemaliger Zimmerkollege Spycher als Sportchef mit den Young Boys Schweizermeister geworden. Wie ist es für Sie als ehemaliger FCB-Spieler, dass die Titelserie gerissen ist?

Es ist natürlich schade. Denn auch mit Raphael Wicky und Marco Streller verbindet mich ja einiges. Aber mein Herz ist gross genug. Es hat mich auch sehr gefreut für Wuschu. Zudem haben sie in Bern jetzt diese Feierlichkeiten erlebt. Ich werde 2002 nie mehr vergessen. Bei unserem ersten Titelgewinn haben mich wildfremde Menschen mit Tränen in den Augen umarmt, und ich als Junger habe mich gefragt: Was geht hier ab? Es ist schön, Traumerfüller für andere zu sein.

«Es geht erst einmal darum, die Gruppe zu überstehen. Das ist einfach gesagt und schwer genug.»

Welche Träume können denn bei der WM für die Nationalmannschaft in Erfüllung gehen? Liegt der vielzitierte Viertelfinal drin?

Es klingt abgedroschen, aber es geht erst mal drum, die Gruppe zu überstehen. Das ist einfach gesagt und schwer genug. Da hat es Brocken drin, da gibt es keine schlechten Mannschaften, auch wenn aus meiner Warte das sportliche Niveau an einer EM höher ist. Brasilien ist klar der Gruppenfavorit. Serbien hat weniger Einwohner als die Schweiz, aber wenn man die Vereine betrachtet, bei denen die Spieler unter Vertrag sind, sieht das nicht so schlecht aus.

Eigentlich ganz ähnlich wie bei den Schweizern.

Genau. Da ist die Hoffnung, dass sie ein wenig zerstritten sind. Teilweise wollten Berater Einfluss nehmen auf den Trainer, damit der eine spielt und nicht der andere. Und Costa Rica hatte einen totalen Hype vor vier Jahren. Ob sie das wieder bringen können, kann ich nicht einschätzen. Aber es ist klar: Man muss Costa Rica und Serbien hinter sich lassen, wenn man weiterkommen will. Der Spielplan ist gut für die Schweiz, mit dem ersten Spiel gegen Brasilien.

Sie haben die «Goldene Generation» der Schweiz mit grossgezogen, mit den Shaqiris, Sommers und den Xhakas zusammengespielt. Ist diese Generation reif für einen grossen Wurf?

Das glaube ich. Für Spieler wie Behrami und Lichtsteiner läuft die Zeit ab, für sie gilt: jetzt oder nie. Und Xhaka und Shaqiri und die U17-Weltmeister Seferovic und Rodriguez, sie alle sind in einem Alter für einen Exploit. Sie sind nicht mehr ganz jung, haben Erfahrungen gesammelt, sie sind als Persönlichkeiten gewachsen und es ist auch ihr Anspruch, einmal ein K.o.-Spiel zu gewinnen. Aber wir wissen auch: Wenn die Schweiz Zweiter wird und Deutschland Erster, dann kommt ein absoluter Turnierfavorit im Achtelfinal.

Dann wäre der Sprung in die Viertelfinals der Exploit.

Ja, das wäre eine positive Überraschung. Dieses Ziel müssen die Spieler haben nach dem Achtelfinal an der WM vor vier Jahren und dem Achtelfinal an der EM 2016. Aber trotzdem hat man es auch an der Eishockey-WM gesehen: Die Gruppenphase lief nicht ring von der Hand. Dann braucht es auch mal so ein K.o.-Spiel, um sich selber zu beweisen. Die Qualitäten sind absolut vorhanden, im Angriff fehlt uns einfach ein Goalgetter.

«Seit 2004 mit einer Ausnahme bei allen grossen Turnieren dabei gewesen zu sein – das ist keine Selbstverständlichkeit.» 

In der aktuellen, wie immer diskutablen Weltrangliste ist die Schweizer auf Rang 6 geführt. Was spiegelt das eigentlich wieder?

Den ganz genauen Modus, wie das zusammengestellt wird, … (runzelt die Stirn)

… den müssen sie als TV-Experte drauf haben.

Natürlich. Die Fifa wird das schon richtig machen. Die Schweiz hat in den letzten zwei Jahren einen einzigen Match verloren, gegen Portugal, auch wenn die sonstigen Gegner nicht unbedingt überragend waren. Das gab es in der Geschichte praktisch nie.

Muss eine so hochgelobte Generation nicht auch mal so locker durch eine Qualifikation durchkommen?

Grundsätzlich müssen wir mal sagen, dass die Schweiz mit acht Millionen Einwohnern von ganz vielen anderen Ländern beneidet wird für die hohe Konstanz, mit der sie an den Turnieren teilnimmt. Ich merke, dass es in der Bevölkerung als normal angesehen wird, dass wir seit 2004 mit einer Ausnahme (EM 2012) bei allen grossen Turnieren dabei waren. Und das ist eben nicht selbstverständlich.

Alain Sutter war Ihr Vorgänger beim SRF als Experte der Nationalmannschaft. Treten Sie in grosse Fussstapfen?

Natürlich. Alain hat das hervorragend gemacht und das Expertentum am Schweizer Fernsehen etabliert. Er hat hervorragende Vorarbeit geleistet.

Er kam eher sanft rüber.

Ich sage: sehr wohlüberlegt, einordnend und nicht polemisch. Sachlich und nicht von den Emotionen getrieben.

Wird von einem TV-Experten nicht das Gegenteil erwartet? Dass er harte Kante zeigt?

Die einen wollen das eine, die anderen das andere. Da hat jeder eine andere Vorstellung. Allen kann man es eh nicht recht machen, sondern man muss authentisch bleiben. Ich habe beispielsweise Reaktionen erhalten für meine klare Aussage beim CL-Viertelfinal zwischen Juve und Real. Da hatte Real in der letzten Minute einen Elfer zugesprochen erhalten und ich sagte: Grundsätzlich ist es ein Stellungsfehler des Abwehrspielers und durch diesen Fehler ermöglicht er dem Schiedsrichter erst, auf Penalty zu entscheiden. Viele Juve-Fans haben mir Reaktionen geschickt. Da merkt man, dass die Menschen von ihrer Fanperspektive gefärbt sind. Bei der Nationalmannschaft fordern die einen, man müsste härter mit den Spielern umgehen, die anderen finden, man müsse sie unterstützen, da man doch auch Fan ist.

Wie wird man beim SRF ausgebildet?

Bevor ich als Co-Kommentator anfing, habe ich mehrere Spiele virtuell kommentiert, für niemanden, nur für den internen Gebrauch. Da ging es aber weniger um den Fussball als um die Sprache.

Wo musste man bei Ihnen feilen?

Bei den Wortwiederholungen. Und ich habe zu viele Sätze gleich begonnen. Aber jeder Moderator oder Experte hat Worte, die er oft benutzt, jeder Mensch hat das. Bei Urs Meier zum Beispiel war es das Wort «schlussendlich», das es strenggenommen nicht gibt. Als er beim ZDF als Experte verabschiedet wurde, haben Sie ihm alle «schlussendlich» aneinandergereiht gezeigt.

Welches Wort ist das bei Ihnen?

Vielleicht «genau».

Um zu unterstreichen, dass Sie gleicher Meinung sind?

Genau (lacht). «Absolut» sage ich auch noch oft.

Achten Sie seit dieser Ausbildung mehr auf Ihre Sprache auch sonst im Leben?

Definitiv. Ich versuche, mich gewählter oder differenzierter auszudrücken.

«Einsneunzig kannst du nicht lernen» – Beni Huggel nimmt eine kleine Anleihe beim legendären Trainer Otto Rehhagel, um zu verdeutlichen, was man mitbringen muss, um als TV-Experte zu bestehen.  

Kann diesen Job jeder Ex-Fussballer machen, oder bringen Sie etwas mit, was andere nicht haben?

(lacht) «Einsneunzig kannst du nicht lernen» – ein Spruch von Otto Rehhagel. (Anm.: Huggel ist 1,90 Meter gross). Das können andere auch. Christoph Spycher hat es ja auch gemacht, sehr gut sogar, ehe er dann in den Job bei YB gewechselt ist. Es braucht eine gewisse Selbstreflexion, ein Verständnis vom Spiel und von der Analyse. Mit den Zusammenhängen auf dem Platz habe ich mich schon als Spieler beschäftigt.

Das darf man ja von jedem Fussballer erwarten.

Nein, das bringt nicht jeder mit. Es gibt Fussballer, die spielen gut, aber sie haben trotzdem nicht das Verständnis für das grosse Ganze. Stürmer etwa haben eher die Tendenz, sich für den Teil ihres Spiels zu interessieren.

«Ich bin nicht bekannt als politischer Mensch und auch nicht bezahlt dafür. Ich bin der Fussballexperte.»

Mehmet Scholl hat sich in Deutschland als ARD-Experte ins Abseits manövriert, weil er nicht über das Thema Doping im Fussball reden wollte. Könnte Ihnen das auch passieren?

Ich glaube nicht. Ich bin grundsätzlich bereit, mich zu allen Themen zu äussern. Mit Doping bin ich während meiner Aktivkarriere nicht in Berührung gekommen, und deshalb käme alles, was ich dazu sage, vom Hörensagen. Und das finde ich nicht interessant.

Auch wenn es um das offensichtlich systematische Staatsdoping geht oder die Menschenrechtssituation in Russland?

Das geht ins Politische, und dazu will ich mich auch nicht äussern, weil ich zu wenig Informationen habe. Ich bin nicht bekannt als politischer Mensch und auch nicht bezahlt dafür. Ich bin der Fussballexperte.

Auch ohne vertiefte politische Expertise kann man eine Haltung haben.

Natürlich finde ich Menschenrechtsverletzungen nicht gut. Wer tut das schon?

Es gibt vermutlich Menschen, die darüber hinwegschauen, was in Russland passiert und diese Weltmeisterschaft feiern, ohne sich Gedanken zu machen.

Gedanken mache ich mir. Aber ich habe zu wenig Power für dieses Thema, und ich kann und will meine Energie nicht dafür einsetzen. Es wäre auch nicht zielführend. Ich kann nicht beurteilen, ob alle Informationen stimmen. Und dann schwatze ich auch nicht darüber.

«Meine Bekanntheit reicht als Eintrittsbillett, aber wenn nichts dahintersteckt, ist das schnell vorbei.»

Wird man Sie eigentlich noch einmal als Trainer erleben?

Als einen, der ganz nach oben kommen will, denke ich nicht. Für die Uefa-Pro-Lizenz müsste ich noch einmal zwei Jahre investieren. Aber ich bin ja noch relativ jung.

Sortiert sein Berufsleben nach der Profikarriere neu: Benjamin Huggel.

Inwiefern hat Sie das letzte Trainer-Erlebnis, das Engagement beim FC Black Stars und die Entlassung abgelöscht? Es endete neulich vor Bundesgericht, wo Ihnen eine Entschädigung und Lohnnachzahlungen zugesprochen wurden.

Es ist ein Konflikt gewesen, bei dem es nicht so weit hätte kommen müssen. Es ist jetzt mal ein Urteil – und das Konto habe ich schon lange nicht mehr angeschaut. Im Berufsstand der Trainer hat sich in der Schweiz zuletzt eine Hire-and-Fire-Mentalität entwickelt, die ich grundsätzlich nicht gut finde. Und das kann ich nicht ändern. Am Trainerjob finde ich einerseits extrem interessant, zusammen mit einer Mannschaft Strategien zu erarbeiten. Die andere Hälfte deiner Zeit musst du politisch agieren und dich gut stellen mit den Leuten, die das Geld geben. Und aufs Ergebnis auf dem Platz hast du als Trainer vielleicht zu fünfzig Prozent Einfluss. Das ist mir eigentlich zu wenig.

Bekommen Sie die Fernsehtätigkeit mit Ihrem anderen Berufsleben noch unter einen Hut?

Meine Tätigkeit in der Geschäftsleitung des Sportcenters TAB in Aesch habe ich im Mai beendet. In den zwei Jahren habe ich sehr viel gelernt, und es war für mich ein Eintritt ins Business-Leben. Aber der Job des TV-Experten nimmt jetzt ungefähr 30 Prozent ein. Das liess sich mit dem Pensum in Aesch nicht mehr vereinbaren.

Wie sieht Ihr SRF-Job nach der WM aus?

Ich werde neben der Nationalmannschaft vor allem in der Super League tätig sein. In der Champions League kann das SRF künftig ja nur noch halb so viele Spiele übertragen.

Und was machen Sie in der verbleibenden Zeit?

Ich werde meine eigene Firma, die seit drei Jahren bestehende «Beni Huggel bewegt GmbH» forcieren. Ich bekomme Einladungen und halte Referate – das sind Nebeneffekte der Fernsehpräsenz. Vielleicht werde ich auch im Fussball etwas machen. Nicht Spieler beraten, sondern Vereine. Und es ist mit einem Partner geplant, Workshops für Führungskräfte anzubieten: Leistung auf den Punkt bringen, mit Druck umgehen – solche Themen, die in meiner Profikarriere von zentraler Bedeutung waren. Oder der Aspekt der Unternehmenskultur, der zunehmend an Bedeutung gewinnt: Wie bekommt man Mitarbeiter aus unterschiedlichen Kulturen, mit ganz verschiedenen Ethnien zusammen?

Hängt das Interesse aus diesem Bereich an einem Ex-Fussballer nicht einfach mit dem prominenten Namen und Gesicht zusammen?

Es geht um persönliche Erfahrungen aus einem anderen Bereich und um Glaubwürdigkeit. Meine Bekanntheit reicht als Eintrittsbillett, aber wenn nichts dahintersteckt, ist das schnell vorbei.

Apropos: Für wie viele Wochen in Russland packen Sie den Koffer?

Die Frage ist eher: Hat das Hotel einen guten Reinigungsdienst?

Sie bleiben für das Fernsehen in Russland, bis die Schweizer ausscheiden. Vielleicht müssen Sie also nicht mal die Frisur nachschneiden lassen.

Das ist jetzt sehr pessimistisch.

Und was ist, wenn die Schweiz in der Vorrunde hängen bleibt?

Es hiesse, dass das Minimalziel Achtelfinal nicht erreicht wäre. Aber ich glaube nicht, dass alles infrage gestellt würde. Aber für die Nationalmannschaft, für die Spieler und auch die Schweizer Bevölkerung, die sich mit der Mannschaft identifiziert, wäre es eine Enttäuschung.

Nur Ihre Frau, die würde sich auch ein bisschen darüber freuen, weil Sie früher nach Hause kommen.

Genau.

Alle 64 Spiele live – was das SRF während er WM bietet und das Begleitprogramm während der Turnierwochen.

Zum Schluss noch ein bisschen Taktik mit Tassen: Beni Huggel erläutert den TagesWochen-Redaktoren das moderne Fussballspiel in den sogenannten Zwischenräumen.

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