Christoph Spycher, was nimmt YB mit aus dem ersten Champions-League-Abend und dem 0:3 gegen Manchester United?
Die Zufriedenheit nach dem mutigen Auftritt, die Enttäuschung wegen des Resultats und die Erfahrung für die Spieler. Sie sahen, was es auf diesem Level braucht, und wie viel fehlt. Jeder Junge will bei solchen Vereinen spielen, in England, Spanien, Deutschland. Manchmal tut es gut, wenn man den Spiegel vorgehalten bekommt und die Realität erkennt, die heisst: Ich spiele bei YB.
Was sind Ihre Erwartungen in der Champions League?
Sportlich haben wir die Ziele nach innen definiert, kommunizieren sie aber nicht nach aussen. Rund um den Fussball haben wir mit dem ganzen Tamtam umzugehen, mit den vielen Interviews und der öffentlichen Präsenz. Gleichzeitig müssen wir den Spagat schaffen zwischen der Champions League, der Super League und dem Cup. Das ist alles schwieriger als in der Europa League, weil wir nicht in Astana, sondern in Manchester, Turin und Valencia spielen.
Was sind die Gefahren dieses Erfolgs?
Er verschafft uns eine grosse Visibilität, die einen Einfluss auf das nächste Transferfenster haben kann. Kevin Mbabu zum Beispiel spielt jetzt in der Champions League und ist Nationalspieler geworden. Es wird Veränderungen geben im Winter und wir müssen schauen, dass es ein sanfter Umbruch wird. Wir wollen vorbereitet an diesem Transferfenster vorbeikommen.
Das könnte schwierig werden. Wenn einer international zwei, drei gute Partien abliefert, gibt es doch kein Halten mehr.
Im Sommer 2017 haben wir in Denis Zakaria, Yvon Mvogo und Yoric Ravet auch absolute Leistungsträger verloren. Trotzdem sind wir noch stärker geworden. Solche Abgänge sind die Realität im Schweizer Fussball. Man kann sie als Gefahr wahrnehmen oder als Chance und Herausforderung, die kaum voraussehbar ist. Die jetzige Planung wird noch 25 Mal über den Haufen geworfen.
Nach dem Meistertitel haben wenige Spieler YB verlassen. Wie zufrieden sind Sie mit dem Transfersommer?
Wir haben immer gesagt: Wenn wir das Team zusammenhalten können, ist das top. Und wenn einer geht, dann ist das auch okay, sofern es mit der Situation des Spielers und des Vereins vereinbar ist. Wenn am letzten Transfertag ein zweistelliger Millionenbetrag für Kevin Mbabu geboten wird, dann haben wir keine Zeit mehr, ihn zu ersetzen. Das Timing ist also neben dem Preis entscheidend. Wir wollen kein Selbstbedienungsladen sein, der Sonderangebote macht. Spieler von YB haben ihre Qualität und somit ihren Preis.
«Ich habe nicht das Gefühl, dass wir die Besten sind und Unglaubliches geschafft haben.»
In der Branche gibt es Stimmen, die sagen, Sie hätten zu hohe preisliche Vorstellungen.
Das ist immer eine subjektive Einschätzung. Wir machen die Preise ja nicht mit Würfeln. Wir spielen in der Champions League und haben Nationalspieler im Kader. Wir müssen keine Rabatte gewähren.
Aber wenn jemand einen zweistelligen Millionenbetrag für Kevin Mbabu bietet, dann muss sich YB das doch überlegen, auch wenn das Angebot am letzten Transfertag kommt.
Das sehe ich anders. Wir haben auch eine Gesamtverantwortung für die Mannschaft. Ich kann nicht den Traum eines Spielers erfüllen und einem anderen sagen: «Sorry, geht gerade nicht.» Wir kommunizieren den Spielern unsere Erwartungen sehr offen und sind bisher gut gefahren damit.
Einerseits müssen Sie Geld mit Transfers verdienen und deswegen Ihre Preisvorstellungen durchbringen. Andererseits dürfen Sie auch kein Verein sein, von dem es heisst, die Spieler kommen wegen zu hoher Forderungen nicht zum nächsten Karriereschritt. Wie gehen Sie mit diesem Spannungsfeld um?
Es ist nicht so, dass Spieler nicht weiterkommen. Seit ich Sportchef bin, sind Zakaria, Mvogo, Ravet, Yuya Kubo oder Kasim Adams Nuhu ins Ausland gewechselt. Die haben alle gute Wege gemacht. Wir wollen keine Spieler holen und ihnen sagen: «Lanciere hier Deine Karriere neu, dann bist du aber zwölf Jahre bei uns.» Wir wollen solche, die einen inneren Antrieb zum Fortschritt haben, die Stammspieler und Nationalspieler werden wollen, um dann in eine grosse Liga zu wechseln. Aber wir fordern auch ein gewisses Verständnis für die Situation von YB.
Welche Vorgaben macht Ihnen die Vereinsführung bezüglich Transfereinnahmen?
Im Budget steht eine Zahl. Aber das Transferjahr 2017 war für uns sensationell. Das hat uns etwas Druck weggenommen. Wir sind nicht darauf angewiesen, jedes Jahr 15 Millionen zu generieren. Es wäre auch zu riskant, sich darauf festzulegen. Sonst müssten wir einen Spieler für vier, den anderen für fünf und zwei weitere für drei Millionen ziehen lassen. So brächen jedesmal eine Handvoll Leistungsträger weg und es wäre unrealistisch, eine intakte Mannschaft zusammenzuhalten.
Das Interesse an YB hat mit dem ersten Titel seit 32 Jahren und der ersten Champions-League-Teilnahme stark zugenommen. Wie ist es für Sie, Teil dieser Entwicklung zu sein?
Mit dem Meistertitel erfüllte sich ein Traum, den ich als Spieler nicht verwirklichen konnte, als ich 2010 von Eintracht Frankfurt nach Bern zurückkam. Dass es in anderer Funktion geklappt hat, ist toll. Aber alles Extreme ist mir fremd. Wenn es schlecht lief, hatte ich als Spieler nie den Eindruck, nicht mehr auf die Strasse gehen zu können. Und ich habe jetzt als Sportchef im Erfolg nicht das Gefühl, dass wir die Besten sind oder Unglaubliches geschafft haben. Wir dürfen uns nicht aus der Bahn werfen lassen von denen, die über den Wolken schweben. Ich kann nüchtern erkennen, was gut ist und nehme die Meinung meiner Leute wichtiger als die Aussenwahrnehmung. Und ich weiss: Es werden wieder bittere Niederlagen und andere Zeiten kommen.
Sie kommunizieren sehr zurückhaltend, so wie der Verein auch. Jahrelang hat YB das Wort «Meistertitel» nicht in den Mund genommen.
Als ich 2010 aus Frankfurt zurückkam, habe ich das ganz anders erlebt. YB war damals auf einem guten Weg, stand zweimal in einer Finalissima gegen Basel, es war etwas am entstehen. Aber man hat zu offensiv kommuniziert. YB wollte Meister werden, feierte sich als Transfersieger, schürte riesige Erwartungen. Darunter hat die Mannschaft gelitten und nach fünf Runden lag man wieder sieben Punkte hinter dem FC Basel. Das hat mich geprägt. Auch wegen dieser Erfahrung kommunizierten wir in den letzten Jahren defensiver. Alles andere wäre nicht richtig gewesen.
Warum nicht?
Weil es nicht mit unserer Geschichte zusammenpasst. Nach dem Titelgewinn konnten wir allerdings schlecht sagen, wir wollen Zweiter werden. Es wäre unglaubwürdig gewesen. Schon in der Winterpause der letzten Saison mussten wir öffentlich vom Titelgewinn sprechen und standen auch dazu. Basel lag zwei Punkte hinter uns und wir merkten: Es kann nicht sein, dass der FCB sagt, er wolle Meister werden und wir reden von einem guten Start in die Rückrunde.
«Es ist illusorisch, dass die mediale Meinung immer deiner subjektiven Wahrheit entspricht.»
Beim FC Basel war es nach dem Umbruch im Sommer 2017 allerdings noch extremer. Raphael Wicky sagte vor dem Ligastart: «Meister werden wir.»
Der FCB hat aber eine andere Geschichte. Er hat seit 2002 etwas aufgebaut, das auf unglaublichem Level ist. Alle sprechen von einer Wachablösung. Ich sage: Nein, wir haben lediglich einen Meistertitel geholt. Wir sind ambitioniert. Aber YB kann nicht in zwölf Monaten aufholen, was Basel in 15 Jahren aufgebaut hat.
Wie haben Sie den FC Basel seit dem Führungswechsel wahrgenommen?
Wir kriegen natürlich mit, was in Basel passiert. Ich kenne viele Leute dort, habe mit Marco Streller, Alex Frei oder Raphael Wicky zusammengespielt, Marcel Koller war bei den Grasshoppers mein Trainer und Karl Odermatt habe ich auch kennengelernt. Aber ich sehe die Entwicklungen in Basel trotzdem nur von aussen.
Wie ist Ihr Verhältnis zum Basler Sportchef Marco Streller?
Gut. Wir sind in der Nationalmannschaft gut miteinander ausgekommen, aber eine enge Freundschaft ist nie entstanden, auch weil wir nie im gleichen Verein gespielt haben.
Marco Streller ist wie Sie ein junger Sportchef. Wie sind Sie zu dieser Funktion gekommen?
2010 stellten mir der damalige CEO Stefan Niedermaier und Chefscout Stéphane Chapuisat in Frankfurt das Projekt vor: Ich sollte als Spieler zurückkehren mit dem Fernziel, Sportchef zu werden. Nach der Profi-Karriere war ich Talentmanager, habe Trainerdiplome gemacht und mich an der Universität St. Gallen in Sport-Management weitergebildet. Dann kam der grosse Umbruch im Verein und ich musste entscheiden: Entweder wird ein Externer Sportchef, der womöglich alles über den Haufen wirft, oder ich mache es selbst. Ich habe mich für Letzteres entschieden.
Wie sind Sie in diese Rolle hineingewachsen?
Ich kannte das Vertragswesen aus meiner Zeit als Talentmanager, die Spielerberater und den Verein von innen. Mir schwebte eine klare Idee vor, wie YB funktionieren sollte. Ich tauschte mich mit verschiedenen Leuten aus, zum Beispiel mit Thuns Sportchef Andres Gerber, der ein Freund von mir ist, oder mit Georg Heitz, den ich sehr schätze. Zudem pflege ich Kontakte nach Deutschland. So habe ich mir ein Netzwerk aufgebaut.
Was bringen Sie als Mensch mit für die Funktion als Sportchef?
Relativ viel Empathie. Ich merke, wie die Menschen funktionieren und spüre gewisse Strömungen. So finde ich den Zugang zu verschiedenen Persönlichkeiten. Das war schon als Spieler eine meiner Stärken. Menschen liegen mir am Herzen, aber ich kann die emotionale Ebene von der Sachebene trennen. Beim Entscheiden bin ich konsequent und nicht konfliktscheu, obwohl ich Harmonie mag. Wenn es um das Wohl des Ganzen geht, bin ich bereit, Konflikte auszutragen.
An was für Konflikte denken Sie?
Als ich Sportchef wurde, gab es im Kader viele, mit denen ich noch zusammengespielt hatte. Alain Rochat musste ich sagen, dass wir auf junge Spieler setzen und keinen Bedarf für ihn haben. Scott Sutter konnte ich nicht den langjährigen Vertrag anbieten, den er sich gewünscht hätte. Michael Frey kannte ich schon, als er kleiner Junior war. Im Sommer 2017 musste ich ihm sagen, dass es für ihn nicht weitergeht. Aber deswegen habe ich heute kein Problem mit ihm.
Aber er mit Ihnen?
Nein. Wir haben noch immer Kontakt. Damals, im Moment des Gesprächs, war es brutal, es tat mir als Mensch weh. Aber als Sportchef war es meine Aufgabe, klar zu kommunizieren.
In den Medien wurde Ihre Beförderung zum Sportchef nicht nur gut aufgenommen. Die «Basler Zeitung» titelte zum Beispiel: «Christoph Spycher, der nächste Fehler bei den Young Boys.»
Ich habe das zur Kenntnis genommen. Es ist illusorisch, dass die mediale Meinung immer deiner subjektiven Wahrnehmung entspricht. Wenn du das erwartest, kannst du nicht in der Öffentlichkeit arbeiten. Meine subjektive Meinung erachte ich als relativ reflektiert. Und deswegen weiss ich am Abend vor dem Schlafen, ob ich einen guten oder schlechten Tag hatte. Ich brauche dazu keine Zeitung, kein Forum, keine Sozialen Medien. Sondern die Meinung meines privaten Umfelds und meiner wichtigsten Mitarbeiter.
Wann haben Sie den Umgang mit dem Leben in der Öffentlichkeit gelernt?
Relativ schnell schon als Fussballer. Wenn man in die Nationalliga A kommt, steht man in der Öffentlichkeit.
Als Sie 1999 in der Nationalliga A debütierten, hatten die heute wichtigen Sozialen Medien allerdings kaum Gewicht.
Die klassischen Medien spielten eine Rolle. In Deutschland war es dann um ein x-Faches schlimmer. Damit entwickelt man einen Umgang, wird jedoch nicht immun dagegen. Das ist menschlich und man muss lernen, es einzuordnen. Fussballprofi zu sein ist auch eine Lebensschule.
Wie geben Sie diese Erfahrung weiter an die jungen YB-Spieler?
Manchmal sage ich ihnen, dass das, was sie erleben, nichts ist im Vergleich zu den Ligen, in denen sie eigentlich spielen wollen. Ich kann ihnen zeigen, wie sie den Umgang mit Kritik lernen können. Wenn ein Fussballer aber daran kaputt geht und keinen Weg findet, dann muss ich ihm sagen: «Das ist nicht Dein Geschäft, du musst einen anderen Beruf suchen.» Aus meiner Sicht ist das der grösste Unterschied zwischen der Schweiz und den grossen Ligen: Hier gibt es ein paar Pfiffe, aber wenn es in Deutschland oder England mal wirklich schlecht läuft, dann erleben die Spieler eine feindselige Atmosphäre.
Was sagt das über das Zusammenleben aus, dass es in Fussballstadien feindselig zu und her geht – und das ausgehend von anonymen Zuschauern?
Es zeigt, dass der Fussball in den Gesellschaften anderer Länder einen grösseren Stellenwert hat. Das Stadion ist ein Ventil. Da kommen Leute zusammen, die ganz verschiedene Wochen erlebt haben. Sie haben eine Faszination, für den Fussball, für den Verein oder für die Fangruppe, in der sie sich bewegen. Sie tauchen ein in diese Welt, in der sie möglicherweise Halt suchen, und lassen dort ihre Emotionen ab.
Und welche Emotionen erwarten Sie am Sonntag gegen den FC Basel?
Wir hoffen auf eine gute Leistung im erneut vollen Stade de Suisse. Die Affiche ist super für den Schweizer Fussball und Spiele zwischen Basel und YB sind immer toll. Aber trotz des Vorsprungs von neun Punkten ist nach sechs Runden nicht der Moment, Bilanz zu ziehen.