Abschottung gegen Flüchtlinge ist keine Option mehr

Während Millionen nach Brasilien blicken, Tausende in den Fussballstadien sitzen, spielt sich an der europäischen Aussengrenze eine Tragödie ab. Die europäischen Staats- und Regierungschefs streiten aber lieber über Posten als über eine gemeinsame Strategie. Ein Kommentar.

Eingepfercht im Rettungsboot: Weder die Gefahr zu ertrinken, noch schärfere Kontrollen werden die Flüchtlinge vor dem Versuch abhalten, nach Europa zu gelangen. (Bild: GIORGIO PEROTTINO)

Während Millionen nach Brasilien blicken, Tausende in den Fussballstadien sitzen, spielt sich an der europäischen Aussengrenze eine Tragödie ab. Die europäischen Staats- und Regierungschefs streiten aber lieber über Posten als über eine gemeinsame Strategie. Ein Kommentar.

55’000 Menschen, das sind so viele, wie in ein Bundesliga- oder WM-Stadion passen. Die 55’000 Menschen, um die es hier geht, sitzen aber nicht auf Plastikschalen und jubeln ihren Lieblingsmannschaften zu. Sie sitzen auf seeuntüchtigen, überfüllten Booten und riskieren ihr Leben.

55’000 Menschen, so viele wie noch nie, haben seit Beginn dieses Jahres die Überfahrt meist von der Küste Libyens über das Mittelmeer nach Italien gewagt. Wie soll Europa mit diesen Menschen und den Hunderttausenden, die ihnen in den kommenden Jahren folgen werden, verfahren?

Die Öffentlichkeit vergisst rasch

Diese Frage stellt sich nicht nur, weil an diesem Freitag der Weltflüchtlingstag begangen wird. Kommende Woche beim EU-Gipfel in Brüssel sollte dieses Thema ganz oben auf der Tagesordnung stehen. Stattdessen werden sich die Staats- und Regierungschefs vor allem darüber streiten, wer in der EU künftig welchen Posten bekommen wird und wie sehr verschuldete Länder sich weiter verschulden dürfen.

Das sind ebenfalls wichtige Fragen. Aber sie verlieren an Bedeutung, wenn massenhaft Menschen im Mittelmeer ertrinken.

Bis zu 20’000 Tote gab es hier in den vergangenen 20 Jahren. Das Zynische dabei ist: Handelt es sich, wie bei einem Bootsunglück im vergangenen Oktober um über 350 Tote, hält die Medienwelt und mit ihr das kollektive Gewissen kurz inne. Sterben aber alle paar Tage nur fünf bis zehn Menschen, darunter schwangere Frauen und Kinder, dann interessiert das niemanden mehr. Das sind die betäubenden Nebenwirkungen des Wohlstands, an den sich vor allem Mittel- und Nordeuropäer in Jahrzehnten des Friedens gewöhnt haben.

Das Fehlen einer politischen Antwort auf die vielen Todesopfer an Europas Grenzen ist das grösste menschliche Versagen der EU.

Wäre es möglich, sollten die europäischen Staats- und Regierungschefs ihren Gipfel nicht in Brüssel, sondern in einem der überfüllten Flüchtlingscamps ins Sizilien, irgendwo an der libyschen Küste, wo Zehn-, wenn nicht Hunderttausende auf die Überfahrt warten, oder in den vom Krieg zerstörten Ländern wie Somalia, Eritrea oder Syrien abhalten. Ihre Gleichgültigkeit gegenüber den Flüchtlingen, die um jeden Preis nach Europa wollen, würde sich rasch in eine aktive Politik umwandeln, die bisher nicht zu erkennen ist. Das Fehlen einer gemeinsamen politischen Antwort auf die unkontrollierte Masseneinwanderung und die Tausenden Todesopfer an Europas Grenzen ist das grösste menschliche Versagen der EU.

Die Verteidigung der Grenzen ist illusorisch geworden

Was also kann die EU tun? Ihre Grenzen vollständig zu öffnen, ist auch im Hinblick auf die Überlastung der Sozialsysteme oder das Erstarken extremistischer Parteien völlig undenkbar. Eine effektive Verteidigung der EU-Aussengrenzen ist eine Illusion geworden, nachdem die Alliierten 2011 Libyen bombardierten.

Seit die Herrschaft des Diktators Muammar al-Gaddafi beendet ist, haben Banden in Libyen das Sagen, die sich teilweise auch als Schlepper betätigen und keinerlei Interesse am Grenzschutz haben. Sie verdienen am Exodus. Der bleibt solange Realität, wie es Kriege und Verfolgungen in Afrika und im Mittleren Osten geben wird. Die Ursachen dieser Konflikte politisch zu bekämpfen, gebietet sich heute mehr denn je.

Die Flüchtlinge schrecken weder vor dem Ertrinken zurück, noch lassen sie sich von EU-Gesetzen abhalten.

Der Zustrom nach Europa wird nicht ab-, sondern weiter zunehmen. Weder schrecken die Flüchtlinge vor dem Ertrinken im Meer zurück, noch lassen sie sich von scharfen EU-Gesetzen abhalten. Sie kommen trotzdem. Vorschläge, wie man der Massenimmigration Herr werden kann, müssen auch diesen Tatsachen Rechnung tragen.

Die Abschottung ist deshalb keine Option mehr. Es geht darum, den Zufluss zu regulieren, ihn sinnvoll, gerecht und so sozialverträglich wie möglich zu gestalten.

Ein konkreter Schritt in die richtige Richtung wäre, Asylsuchenden die Chance zu geben, bereits vor der Überfahrt einen entsprechenden Asylantrag in den Botschaften der EU-Staaten zu stellen. Bei einem positiven Bescheid kann dann eine sichere und legale Überfahrt garantiert werden.

Die 28 EU-Staaten sollten sich zudem über Aufnahmequoten einigen. Auch Länder wie Polen, Tschechien oder Bulgarien müssen sich nach ihren Möglichkeiten bei der Aufnahme von Flüchtlingen beteiligen. Gewiss, Europa hat viele Schwächen. Seine Stärke aber sind weitgehender Wohlstand und Frieden. Beides verpflichtet die Europäer gegenüber denjenigen, die am Rande ihrer Existenz stehen.

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Anlässlich des Weltflüchtlingstages hat die Uno einen Bericht herausgegeben, demnach sind weltweit über 50 Millionen Menschen auf der Flucht.

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