Ai Weiwei rüffelt die USA

Regierungen denken immer, sie täten das Beste für den Staat und die Menschen. Eine Totalüberwachung, wie sie die amerikanische National Security Agency betreibt, kann aber auch Leben zerstören.

Ai Weiwei zeigt Machthabern gerne den Stinkefinger: Hier vor dem White House in «Study of Perspective». (Bild: Digital Image © 2010 The Museum of Modern Art/Scala, Florence)

Regierungen denken immer, sie täten das Beste für den Staat und die Menschen. Eine Totalüberwachung, wie sie die amerikanische National Security Agency betreibt, kann aber auch Leben zerstören.

Obwohl wir ja wissen, dass Regierungen alles Mögliche machen, haben mich die Informationen über die US-Überwachungsaktion «Prism» schockiert. In meinen Augen missbraucht die Regierung damit ihre Macht, um in die Privatsphäre des Einzelnen einzugreifen. Diese wichtige Gelegenheit sollte die internationale Gesellschaft zum Anlass nehmen, die Rechte des Einzelnen neu zu überdenken und zu schützen.

Ich habe zwölf Jahre lang in den USA gelebt. Dieser Missbrauch von Staatsmacht läuft meinem Verständnis einer zivilisierten Gesellschaft ganz und gar entgegen. Ich wäre entsetzt, wenn die amerikanischen Bürger die Fortsetzung dieses Programms wirklich zuliessen. Die USA haben eine grosse Tradition des Individualismus und der Privatsphäre. Deshalb waren sie lange ein Zentrum des freien Denkens und der Kreativität.

In China hingegen erleben wir, dass es im Grunde genommen gar keine Privatheit gibt. Deshalb hinkt China der Welt auch in vielerlei Hinsicht hinterher: Obwohl es grossen Wohlstand erlangt hat, kann es nicht mithalten, wenn es um Leidenschaft, Vorstellungskraft und Kreativität geht.

Der Einzelne ist total nackt

Natürlich leben wir unter verschiedenen rechtlichen Voraussetzungen. Im Westen und in hochentwickelten Ländern gibt es Gesetze, die den Gebrauch von Informationen in Regierungshand einschränken oder abwägen. Das ist in China nicht der Fall. Deshalb ist der Einzelne dort total nackt. Das Leben eines Menschen kann durch das Eindringen in seine Privatsphäre komplett zerstört werden. Dass das in westlichen Ländern passieren könnte, glaube ich dagegen nicht.

Dennoch: Wenn wir über missbräuchliche Eingriffe in die Rechte des Einzelnen reden, dann tut «Prism» genau das. Es macht den Einzelnen verletzlich. Die Privatsphäre ist ein grundlegendes Menschenrecht, einer der absoluten Grundwerte. Es gibt keine Garantie dafür, dass China, die USA oder irgendeine andere Regierung gesammelte Informationen nicht unrichtig oder illegal benutzen. Besonders eine technisch hochentwickelte Nation wie die USA sollte ihre Macht nicht ausnutzen. Das animiert nur andere Nationen dazu, es ihnen gleichzutun.

Millionen zerstörte Leben

Vor dem Informationszeitalter konnte die chinesische Regierung jemanden zum Konterrevolutionär erklären, nur weil ein Nachbar irgendetwas berichtete, was er zufällig mitangehört hatte. Tausende oder sogar Millionen von Leben wurden durch den Missbrauch solcher Informationen zerstört.

Heute kann der Staat aufgrund seiner technischen Möglichkeiten ganz einfach auf jedes Bankkonto, auf alle privaten E-Mails sowie auf Gespräche in sozialen Netzwerken zugreifen. Das Internet und die sozialen Medien haben neue Möglichkeiten geschaffen, uns auszuforschen.

Andererseits haben wir uns auch noch nie in vergleichbarem Ausmass entblösst. Wir sind angreifbar, wenn das jemand gegen uns benutzen will. Jede Information oder Kommunikation könnte junge Menschen der Überwachung durch den Staat aussetzen. Wenn repressive Staaten Menschen verhaften, haben sie oft solche Informationen in der Hand. Sie können zu Kontrolle und Drohung benutzt werden: Wir wissen genau, was du denkst und tust. Und das kann Menschen in den Wahnsinn treiben.

Wenn Menschen Angst haben und das Gefühl, dass der Regierung alles zugänglich ist, zensieren sie ihr freies Denken. Und das ist gefährlich für die menschliche Entwicklung. Früher in der Sowjetunion, heute in China und nun sogar in den USA halten die Staatsvertreter ihr Tun immer für notwendig. Sie glauben wirklich, sie täten das Beste für den Staat und die Menschen. Doch die Geschichte lehrt uns, dass die Macht des Staates begrenzt werden muss. Wenn eine Regierung von der Bevölkerung gewählt wurde und wirklich für die Menschen eines Landes arbeitet, sollte sie den Versuchungen nicht nachgeben.

Die Geschichte lehrt: Die Macht des Staats muss begrenzt werden.

Während meiner Haft in China wurde ich 24 Stunden am Tag überwacht. Das Licht war immer an. Zwei Wachen standen in Zwei-Stunden-Schichten immer neben mir – sie sahen mir sogar zu, wenn ich eine Tablette schluckte. Ich musste meinen Mund öffnen, damit sie meine Kehle sehen konnten. Man muss vor ihnen duschen. Sie schauen einem beim Zähneputzen zu, im Namen der eigenen Sicherheit – man könnte sich ja etwas antun. Sie hatten drei Überwachungskameras installiert, um sicherzustellen, dass die Wachen nicht mit mir kommunizierten.
Aber die Wachen haben mir Dinge zugeflüstert. Sie haben von sich erzählt. Menschlichkeit und Privatheit gibt es immer, selbst unter den restriktivsten Bedingungen.

Die Macht des Staates zu beschränken bedeutet, die Gesellschaft zu schützen. Es geht nicht nur darum, die Rechte des Einzelnen zu schützen, sondern auch darum, die Macht gesünder zu machen.
Die Zivilisation baut auf Vertrauen auf. Jeder von uns muss kämpfen, um das zu verteidigen und zu schützen, was am verletzlichsten ist – unsere Gefühle und unsere Familien. Wir dürfen unsere Rechte nicht an andere Menschen abtreten. Keiner staatlichen Macht sollte man ein so grosses Vertrauen schenken. Nicht der chinesischen. Und auch nicht der ameri­kanischen.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 12.07.13

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