Die Liste der Politikerinnen und Politiker, die nicht loslassen können, ist lang. Wer einmal oben ist, dem schwindelt beim Blick nach unten. Abtreten heisst auch, sich fallen lassen in die grosse Leere der Bedeutungslosigkeit. Manche, die sich für unersetzlich halten, werden dann zum Beispiel BaZ-Kolumnist. Doch die meisten versuchen, den Abschied so lange wie möglich von sich wegzuschieben.
LDP-Nationalrat Christoph Eymann politisierte schon im Nationalrat, als es die Sowjetunion noch gab. Susanne Leutenegger Oberholzer, Baselbieter SP-Nationalrätin, gilt vielen Genossinnen und Genossen schon seit zwei Wiederwahlen als fällig. Und auch Silvia Schenker, Basler SP-Nationalrätin, sollte mittlerweile im Politruhestand sein.
Der Anstand geht flöten
So zumindest sieht das ihre Partei, die Schenker seit Monaten bedrängt, sie solle ihr Amt endlich abgeben und damit den Weg ins Bundeshaus freimachen für Jüngere. Der Respekt vor der verdienten Sozialpolitikerin ist in diesem Streit längst verloren gegangen. Nun geht auch noch der Anstand flöten.
In einem Kommentar auf Facebook setzt das ehemalige SP-Grosskaliber Rudolf Rechsteiner den Tiefpunkt der bisherigen Auseinandersetzung. Schenker kündigte in einem Post an, dafür zu kämpfen, dass Leute über 58, die ihre Stelle verlieren, bei ihrer bisherigen Pensionskasse versichert bleiben können. Auf dieses Anliegen geht Rechsteiner nicht ein. Er hat etwas anderes zu sagen:
Der Kommentar ist unfreiwillig ironisch: Rechsteiner fordert Anstand ein und lässt selbigen vermissen. Der SP-Energieexperte stellt seine Parteikollegin öffentlich bloss und durch die sackgrobe Tonalität sich gleich mit. Rechsteiner musste übrigens 2010 selber mit dem Stemmeisen aus dem Nationalrat entfernt werden, um den Weg für Beat Jans freizumachen. Erst nach monatelanger orchestrierter Lobbyarbeit gegen ihn gab Rechsteiner damals entnervt auf.
Rechsteiners Beitrag zeigt etwas noch Interessanteres: Wie weit bei Nachfolgezoff die parteiinterne Wahrnehmung und jene der Wählerschaft und Öffentlichkeit auseinanderklaffen. Nach seinem Beitrag hagelte es Leserkommentare, die Schenker den Rücken stärken. Selbst der Basler CVP-Präsident Balz Herter stellte sich hinter die SP-Frau.
Schenker sagt: «Rechsteiners Kommentar schadet dem Ruf unserer Partei.» Damit hat sie sicher recht. Ebenso wirft sie der SP vor, keinen Plan verfolgt zu haben, der ihre Entscheidung, die Amtszeit zu beenden, respektiert. Stattdessen arbeiteten weite Teile der Partei mit zunehmendem Furor daran, Schenker weichzukochen.
Alle Mittel sind recht, damit Schenker geht und Atici, der zweimal die Wahl verpasst hat, kommen kann.
Die SP ist schwer genervt über Schenker, der man vorwirft, eine alte Abmachung gebrochen zu haben. Vor der Wiederwahl 2015 soll sie in vertraulichen Gesprächen versprochen haben, nach zwei Jahren den Weg für Mustafa Atici freizumachen, sollte dieser den Einzug in den Nationalrat verpassen. Atici wird in der Partei gehätschelt, weil er über ein weitreichendes Netzwerk in der wichtigen Wählergruppe der Migranten verfügt. Doch sein politisches Profil ist bis heute unscharf geblieben.
Schenker sagt, dieses Versprechen habe es so nie gegeben. Schriftlich festgehalten wurde jedenfalls nichts, weshalb heute alles eine Frage der Interpretation bleibt. Vor einem Jahr bestätigte sie der TagesWoche, dass sie nicht vorhabe, vor Ablauf ihrer Amtsperiode abzutreten – und seither läuft die Partei gegen sie Sturm. Organisierten Telefonterror soll es geben und Beleidigungen durch Weggefährten.
Alle Mittel sind recht, damit Schenker geht und Atici, der zweimal die Wahl in den Nationalrat verpasst hat, kommen kann. Rechsteiner hat öffentlich das getan, was hinter den Kulissen seit Monaten passiert.
Hinterzimmer-Deals ersetzen keine Wahl, und wer nicht gewählt wird, hat keinen Anspruch auf ein Mandat.
Wer Silvia Schenker auf eine derart schäbige Art und Weise aus dem Amt drängen will, der begeht auch Verrat an der Sache. Denn Schenker vertritt die Kernanliegen der Sozialdemokraten unbeirrbar und äusserst erfolgreich. Sie ist aus linker Optik eine der wichtigsten Sozialpolitikerinnen der Schweiz. Geht es um die AHV, um Armut und Arbeitslosigkeit, steht sie für die SP in der SRF-«Arena». Suchen die Schweizer Medien eine Gegenstimme zum bürgerlichen Abbaukanon, rufen sie Schenker an.
Das müsste für jeden überzeugten Sozialdemokraten mehr Gewicht haben als personelle Taktikspielchen und Machtansprüche zu kurz gekommener Genossinnen und Genossen. Auch das Demokratieverständnis der SP irritiert. Hinterzimmer-Deals ersetzen keine Wahl, und wer nicht gewählt wird, hat keinen Anspruch auf ein Mandat.
Allem Druck zum Trotz hält Schenker an ihrem Entscheid fest: «Ich trete nicht zurück.» Sie mag das aus eigennützigen Motiven tun und mittlerweile auch aus Starrsinn. Doch die Motive ihrer Partei, sie abzuservieren, sind um keinen Deut besser.
Wünscht man sich eine starke linke Sozialpolitik für die Schweiz, dann muss man übrigens etwas anderes hoffen: Dass Silvia Schenker 2019 noch mal antritt.