Der Fall Streller: Wer ist hier eigentlich beleidigt?

Drei Spiele Sperre erhält Marco Streller für den Satz «Seid ihr nicht mehr ganz dicht». Der FC Basel legt Rekurs ein. Die TagesWoche wirft einen Blick auf das Disziplinarwesen im Schweizer Fussball, auf die Verhältnismässigkeit dieses Urteils und stellt die Frage: Kann man beleidigt werden, wenn man vorgibt, die Beleidigung gar nicht gehört zu haben?

Der Schiedsrichter Pascal Erlacher, Mitte, verteilt gelbe Karten an Fabian Frei, rechts, und Marco Streller, Mitte links, von Basel, nach einem vermeintlichen Handspiel im Strafraum eines Aarauers beim Fussball Meisterschaftsspiel zwischen dem FC Aarau un (Bild: Keystone/URS FLUEELER)

Drei Spiele Sperre erhält Marco Streller für den Satz «Seid ihr nicht mehr ganz dicht». Der FC Basel legt Rekurs ein. Die TagesWoche wirft einen Blick auf das Disziplinarwesen im Schweizer Fussball, auf die Verhältnismässigkeit dieses Urteils und stellt die Frage: Kann man beleidigt werden, wenn man vorgibt, die Beleidigung gar nicht gehört zu haben?

Es gibt sehr verständnisvolle Zeitgenossen, die einer Zwangspause für Marco Streller auch etwas Positives abgewinnen können. Zeit zur Besinnung, wenn der FCB am Sonntag in Tuggen im Cup spielt, Zeit, um Kräfte zu sammeln für einen 32-Jährigen, wenn seine Mannschaft 14 Tage später gegen Thun spielt.

Geht es nach dem Disziplinarrichter im Spielbetriebswesen der Swiss Football League (heisst nun mal so), sieht Marco Streller auch noch gegen die Young Boys zu. Drei Spiele Sperre verhängte Urs Studer gegen den FCB-Captain. Das entspricht dem Sanktionskatalog für Schiedsrichter-Beleidigung.

So weit, so schlecht. Der Fall Streller entspricht einem Muster, das im Schweizer Fussball gerne Anwendung findet. Ein mehr oder weniger grosse Aufreger am Wochenende wird durch den medialen Verstärker gejagt (bevorzugt hier auf Hexenjagd: der «Blick») und dann zu einem Fall von Urs Studer. Wer hier wem folgt, muss dahingestellt bleiben.

Der «Blick» hat im Sprachrohr der Schiedsrichter einen willfährigen Helfer. Auch im Fall Streller. «Unterste Schublade, absolut inakzeptabel», kläffte «Schiri-Boss» («Blick») Carlos Bertolini via Boulevard. Bis vor noch nicht allzu langer Zeit war Bertolini selbst ein ordentlicher Unparteiischer auf Schweizer Super-League-Plätzen und ist also bekannt mit Marco Streller.

Wie ehrenrührig ist der Ausruf «Seid ihr nicht mehr ganz dicht»?

Der hat am Samstag in Aarau in einer aufgeladenen Atmosphäre unmittelbar nach zwei höchst umstrittenen Strafraumszenen dem Schiedsrichter Pascal Erlachner entgegen geblafft: «Seid ihr nicht mehr ganz dicht?» Unterste Schublade? Carlos Bertolini hat eine merkwürdige Kommode.

Wir legen uns hier fest: Das war kein einfach zu pfeifendes Spiel, in dem Erlachner mit der Zweikampfeinschätzung seine Mühe hatte und mit seinem ganzen Auftritt kein souveräner Leiter war. Er hätte mindestens einen Penalty für Basel geben müssen, drei weitere Szenen, eine davon im Basler Strafraum, zählen zu den üblichen strittigen Situationen eines Fussballspiels.

Stellt sich bei der Beweisführung gegen Streller die erste Frage: Wer konkret war gemeint? Zweitens: Wie ehrenrührig ist der Ausruf «Seid ihr nicht mehr ganz dicht»? Erfüllt er den Tatbestand der Beleidigung oder ist er doch nur eine Sentenz? Ist die Schimpftirade eine grobe Verletzung des Fairplays, die der Weltverband Fifa als Anlass zulässt, um nachträglich zu ermitteln?

Und: Sind drei Spiele Sperre für eine laut und unhöflich gestellte Frage verhältnismässig? Kennt Herr Studer keine strafmildernde Umstände (Streller ist in über 300 Spielen als Profi nie mit einer Roten Karte vom Platz gestellt worden )? Sind alternativen Formen der Sanktionierung denkbar (sozialer Arbeitseinsatz, etwa der Besuch einer Weihnachtsfeier der Schiedsrichtersektion Nordwestschweiz)?

Kann man beleidigt werden, wenn man vorgibt, die Beleidigung gar nicht gehört zu haben?

Schliesslich, und da kommen wir zu einem interessanten Punkt: Kann man beleidigt werden, wenn man vorgibt, die Beleidigung gar nicht gehört zu haben? So wie es Pascal Erlachner behauptet. Nur auf dieser Grundlage war das Einschreiten des Disziplinarrichters überhaupt möglich. Andernfalls spricht der Fussball von der sogenannten «Tatsachenentscheidung», die in der Bundesliga (Phantomtor von Hoffenheim) gerade traurige Aktualität erhalten hat.

So willkürlich die Anerkennung eines Tores erscheint, das gar keines war, so stossend ist das Urteil im Fall Streller. Noch einmal: Eine Zierde ist der verbale Ausbruch für Streller nicht, er hat sich dafür auch entschuldigt beim Schiedrichter und die emotionale Situation im Spiel ins Feld geführt.

Die Erklärung Erlachners, er habe nichts gehört, klingt, wenn man sich die Situation im Brügglifeld vor Augen hält, fadenscheinig und billig. Der Schiedsrichter stand nur wenige Schritte von Streller entfernt, wie auch der erste Assistent und der vierte Offizielle an der Seitenlinie.

Der FC Basel hat Rekurs eingelegt. Das lässt erkennen, was der Club vom Urteil hält. Es ist nach aller Erfahrung keineswegs ausgeschlossen, dass die Sperre um eine Partie auf zwei reduziert werden könnte. Weiter äussern zum Fall will sich der FCB nicht, Sportdirektor Georg Heitz gibt jedoch eines zu bedenken: «Wir müssen jetzt nicht ‹Skandal› schreien. Aber der nachträgliche TV-Beweis sollte dosiert eingesetzt werden, in klaren und krassen Fällen und nicht bei Bagatellen.»

Irgendwann werden die Lippenleser kommen – der Wunschtraum des Boulevards.

Was hinzu kommt ist eine gewisse Zufälligkeit, auf der in der Schweiz die nachträgliche Verfolgung von Verfehlungen fusst: Je nach dem, ob es sich um ein Livespiel des Schweizer Fernsehens handelt, sind mehr oder weniger Kameras und Mikrofone in einem Stadion aufgebaut. Je nach Produktionsbedingungen vor Ort sind Kameras und Mikrofone näher oder weiter am Geschehen.

Irgendwann – wahrscheinlich ein Wunschtraum einer Boulevard-Redaktion – werden auch in der Schweiz Lippenleser vor dem Fernsehen sitzen, die Spielern und Trainern vom Mund ablesen, was sie gesagt haben könnten.

Keimfrei wird ein Fussballspiel nie über die Bühne geben, gerade Schiedsrichter Pascal Erlachner kann davon ein Lied singen. Im April, beim Spiel der Grasshoppers gegen Thun, brannten ihm selbst die Sicherungen durch. In einem Wortwechsel betitelte der Referee GC-Captain Veroljub Salatic als «Arschloch».

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