Der Mythos vom letzten Wort

Ist die Schweiz tatsächlich soviel demokratischer als die Europäische Union? Oder überschätzen wir die direkte Demokratie?

Ist die Schweiz tatsächlich soviel demokratischer als die Europäische Union? Oder überschätzen wir die direkte Demokratie?

Das europäische Verdikt, den Griechen eine Abstimmung über ihr Sparprogramm zu verwehren, hat uns einmal mehr überzeugt: Was die Schweiz wirklich ausmacht, das ist die direkte Demokratie, die Gewissheit also, dass dem Volk in allem, was es betrifft, das letzte Wort gehört und es immer recht hat. Bei uns entscheidet das Volk, wenn dem Lastwagenverkehr durchs Land Einhalt geboten werden soll (Alpen-Initiative), wenn Asylgesetze verschärft, Minarette verboten, Ausschaffungen forciert werden.

Nur: Hat das Volk wirklich das letzte Wort? Beispiel Alpen-Initiative: 1994 hat es beschlossen, dass jeder Camion, der die Schweiz von Grenze zu Grenze durchquert, auf die Bahn verladen werden soll. Heute, 18 Jahre später, wissen wir, dass dies nie der Fall sein wird. Oder die Ausschaffungs-Initiative: Vor einem Jahr hat das Volk entschieden, dass kriminelle Ausländer aus dem Land ausgeschafft werden müssen. Heute, ein Jahr später, ist klar, dass diese Forderung in ihrer Absolutheit wegen übergeordnetem, internationalem Recht nicht erfüllt werden kann. Ähnliche Beispiele gibt es viele.

Es ist auch nicht so, dass das Volk immer befragt wird. Weder zur Rettung der UBS noch zur Abschaffung des Bankgeheimnisses hatte es etwas zu sagen. Es ist richtig, dass Ausländer ihre Steuern nicht mehr unter dem Schutz des Bankgeheimnisses hinterziehen können. Aber diese Einsicht haben uns andere, ausländische Kräfte aufgezwungen. Das Schweizer Volk hat das Bankgeheimnis bisher immer gestützt. Die Angst um das Schicksal einer Grossbank hat sogar die angeblich so volksverbundene SVP dazu bewogen, dem Staatsvertrag mit den USA beizustimmen, der das Bankgeheimnis zur Farce gemacht hat.

Und schliesslich ist es auch nicht so, dass die Stimme des Volkes immer erwünscht ist. Schon lange hätten die Stimmberechtigten eigentlich über die Abzocker-Initiative gegen überrissene Managerlöhne abstimmen müssen. Die bürgerliche Mehrheit des Parlaments hat es aus Angst vor einem Ja immer wieder verstanden, den Urnengang abzuwenden.

Schreibt hier einer, der die ­direkte Demokratie abschaffen will? Überhaupt nicht. Sie ist etwas vom Wertvollsten, was die Schweiz zu verteidigen hat. Aber sie darf nicht verklärt und zum Mythos werden. Sie hat Mängel und überlässt dem Volk nicht in jedem Fall das letzte Wort. Wer das trotzdem behauptet, benutzt unlautere ­Argumente und beweist, dass er das vielbeschworene Volk, dem er etwas vorgaukelt, nicht ganz ernst nimmt.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 11/11/11

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