Die EU lässt sich von Tayyip Erdogan die Bedingungen für die Zusammenarbeit in der Flüchtlingskrise diktieren. Dabei wäre die Türkei als Beitrittskandidat an zahlreiche Abkommen gebunden, schreibt unser Brüssel-Korrespondent.
Der EU-Gipfel am Donnerstag in Brüssel hat grünes Licht für eine enge Zusammenarbeit mit der Türkei in der Flüchtlingskrise gegeben. Die vorläufige Einigung bedeutet eine neue, bedenkliche Kehrtwende.
Wochenlang haben die 28 EU-Staaten tatenlos zugesehen, wie Hunderttausende über die Türkei nach Griechenland und Europa geschleust wurden. Nun soll damit Schluss sein: «Erdogan, hilf» heisst das neue Motto.
Ausgerechnet der autoritäre, in seinem eigenen Land heftigst umstrittene Staatschef Recep Tayyip Erdogan soll der EU nun helfen, die Grenzen dicht zu machen und die Flüchtlinge in der Türkei zurückzuhalten.
Erdogan soll nicht nur dafür sorgen, dass die Syrer in seinem Land besser integriert werden. Er soll auch die Seegrenze nach Griechenland dicht machen und neue Auffanglager für Asylbewerber bauen.
Dafür will sich Erdogan fürstlich belohnen lassen. Bis zu drei Milliarden Euro Finanzhilfen, Visa-Erleichterungen, persönliche Einladungen auf die EU-Gipfel sowie neue Beitrittsgespräche stehen auf seiner Wunschliste.
Das ist nicht nur unverschämt, das dürfte eigentlich auch gar nicht wahr sein. Als Beitrittskandidat ist die Türkei nämlich verpflichtet, sich kooperativ zu zeigen. Die Aussen- und Flüchtlingspolitik gehören ausdrücklich zu den Bereichen, in denen die Türkei auf die EU zugehen muss.
Die Regierung ist – eigentlich – schon verpflichtet, illegal nach Europa einreisende Menschen wieder zurückzunehmen.
Zudem hat die Regierung schon ein Rückführungsabkommen unterzeichnet. Sie ist also verpflichtet, illegal nach Europa einreisende Menschen wieder zurückzunehmen. Doch darüber setzt sich Erdogan genauso selbstherrlich hinweg wie über fast alle anderen Verpflichtungen.
Normalerweise müsste die EU deswegen Druck auf den Sultan aus Ankara ausüben, endlich seine Hausaufgaben zu machen, das EU-Mitglied Zypern anzuerkennen, mit Griechenland zusammenzuarbeiten und in der Flüchtlingspolitik zu helfen. Ausserdem müsste er endlich die Kopenhagen-Kriterien für Demokratie und Menschenrechte erfüllen.
Stattdessen lassen sich die deutsche Kanzlerin Angela Merkel und ihre EU-Kollegen am Nasenring vorführen. Der chronisch unzuverlässige Wackelkandidat darf die Bedingungen diktieren – die EU-Chefs hatten am Donnerstag nicht einmal Gelegenheit, sie ausführlich zu diskutieren.
Erdogan möchte sich dafür bezahlen lassen, dass er nicht noch zwei Millionen Flüchtlinge auf die Reise nach Europa schickt.
Zwar wird über den Preis für diesen schmutzigen Deal noch gefeilscht. Erdogan möchte sich dafür bezahlen lassen, dass er nicht noch zwei Millionen Flüchtlinge auf die Reise nach Europa schickt, die EU will den Preis drücken. Merkel reist am Sonntag eigens nach Ankara, um Details zu klären.
Doch das fatale Signal ist in der Welt: Für die vage Hoffnung, dass sich die gescheiterte Politik der Abschottung doch irgendwie wiederbeleben lasse, ist Europa bereit, seine Werte zu verkaufen.
Die Meinungsfreiheit, das Versammlungsrecht, der Schutz von Minderheiten, ja sogar der Kampf gegen den Islamischen Staat: all das zählt nicht mehr in Erdogans Reich, oder nur noch unter Vorbehalt. Dabei sind das die Kernforderungen, die jeder EU-Partner erfüllen müsste.
Für die vage Hoffnung, dass sich die gescheiterte Politik der Abschottung doch irgendwie wiederbeleben lasse, ist Europa bereit, seine Werte zu verkaufen.
Jetzt rächt es sich, dass die EU Erdogan nicht längst in die Schranken gewiesen hat. Bei den Protesten im Gezi-Park 2013 hätte sie ihn zur Verantwortung ziehen müssen. Damals begann der Verrat an den eigenen Grundsätzen; in der Flüchtlingspolitik wird er auf die Spitze getrieben.
Und dabei ist nicht einmal klar, ob diese «Liaison dangereuse» irgendwelche Früchte trägt. EU-Ratspräsident Donald Tusk scheint daran zu zweifeln: Die EU dürfe der Türkei nur helfen, wenn diese tatsächlich den Flüchtlingsstrom nach Europa eindämmt, sagte er. Es klang wie ein frommer Wunsch.
_
Was im Detail am Gipfel beschlossen ist und welche Fragen noch offen sind, hat die «Süddeutsche Zeitung» übersichtlich aufbereitet.