Die Flüchtlingsquote kommt zu spät und hinterlässt Narben

Die EU schliesst die Reihen und regelt die Verteilung der Flüchtlinge mit einer Quote, aber Freude will über die erzwungene Solidarität nicht aufkommen. Der Grund ist simpel: Der Beschluss hinterlässt tiefe Narben, schreibt unser Brüssel-Korrespondent.

Refugees and their supporters hold up signs during a demonstration outside of a meeting of EU justice and interior ministers at the EU Council building in Brussels on Monday, Sept. 14, 2015. (AP Photo/Virginia Mayo)

(Bild: VIRGINIA MAYO)

Die EU schliesst die Reihen und regelt die Verteilung der Flüchtlinge mit einer Quote, aber Freude will über die erzwungene Solidarität nicht aufkommen. Der Grund ist simpel: Der Beschluss hinterlässt tiefe Narben, schreibt unser Brüssel-Korrespondent.

Endlich eine Erfolgsmeldung aus Brüssel: Nach wochenlangem Gezerre haben die EU-Innenminister bei ihrer Sondersitzung am Dienstag doch noch die Verteilung von 120’000 Flüchtlingen geregelt. Im ersten Versuch vor einer Woche waren sie kläglich gescheitert, im zweiten wurden die Hardliner aus Osteuropa kurzerhand überstimmt. Sogar Ungarns Rechtsausleger Viktor Orban muss nun mitmachen und Flüchtlinge aufnehmen – Brüssel hat ihm genau 1294 Hilfsbedürftige zugeteilt.

Doch rechte Freude will über diese erzwungene Solidarität nicht aufkommen. Denn zum einen wird der Beschluss tiefe Narben hinterlassen. Der Konsens, den die EU in sensiblen Fragen bisher über alles gestellt hat, ist futsch. Mehrere EU-Staaten in Mitteleuropa und auf dem Balkan stehen sich nun offen feindselig gegenüber. Das ist nicht nur die Schuld von Brüssel, sondern auch von Berlin, das die Krise mit seinen Alleingängen – erst die plötzliche Öffnung, dann der Rückwärtsgang – massiv verschärft hat.

Die Abschreckung des teilweise unmenschlichen «Empfangs» wirkt, auch über Ungarns Grenzen hinaus.

Zum anderen haben Orban und seine Freunde ihre wichtigsten Ziele schon erreicht. Nach dem unwürdigen und teilweise unmenschlichen «Empfang» in Ungarn wird kein Flüchtling mehr freiwillig in Südosteuropa bleiben. Die Abschreckung wirkt, auch über Ungarns Grenzen hinaus. Mit der neuen Mauer hat Orban zudem die «Festung Europa» an einer neuralgischen Stelle ausgebaut. Die deutsche Regierungspartei CSU klatscht Beifall – ein Trauerspiel.

Damit nicht genug: Beim Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs am Mittwochabend in Brüssel sollen die Hardliner noch mehr Satisfaktion bekommen. Dann stehen ihre Lieblingsthemen auf der Agenda: die Aufrüstung der umstrittenen EU-Grenzschutzagentur Frontex, die Einrichtung von «Hot spots» zur Erfassung und Abschiebung von Flüchtlingen und die aussenpolitische Mobilisierung an allen Fronten – von Libyen über Syrien bis in die Türkei.

Schon jetzt dient der Balkan als Wartesaal und Österreich als Verschiebebahnhof.

Das erklärte Ziel der EU ist es dabei, die Reihen fest zu schliessen und den Zustrom nach Europa wieder zu begrenzen. Das unerklärte Ziel ist es, Deutschland wieder mit einem Ring «sicherer» Staaten zu umgeben und so die Zuwanderung zu stoppen. Schon jetzt dient der Balkan als Wartesaal und Österreich als Verschiebebahnhof. Künftig sollen Italien und Griechenland zu Pufferzonen werden, die Deutschland möglichst effizient abschotten.

Von der Reform der kläglich gescheiterten Dublin-III-Verordnung, die die Asylpolitik regelt, ist in Brüssel schon keine Rede mehr. Auch die Schaffung sicherer legaler Fluchtwege, wie sie die UNO fordert, ist kein Thema. Und dass die nun beschlossene Zahl von 120’000 schon längst von der Wirklichkeit überholt ist, wird auch nicht diskutiert. Europa müsste mindestens 200’000 Flüchtlinge anerkennen, so die UNO. Doch nach dem Theater der letzten Wochen scheint dies völlig undenkbar.

Letztlich handelt die EU genau wie in der Eurokrise: «Too little, too late» – zu spät und zu halbherzig. Derweil schaffen Orban und seine Komplizen in Brüssel Fakten. Die Innenminister sind zu spät gekommen.

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Beteiligt sich die Schweiz an der Umverteilung? Ja, mehr dazu.

Wie funktioniert die Verteilung der 120’000 Flüchtlinge auf Europa? Die wichtigsten Fragen und Antworten bei «watson»

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