Die Logik des «kurzen Prozesses» greift zu kurz

Der Stammtisch kocht, und politische Einpeitscher heizen im Fall der ermordeten Therapeutin Adeline M. die Diskussion über die sogenannte «Kuscheljustiz» an. Ruckzuck zackzack, kurzer Prozess – brauchen wir das wirklich?

Kuscheljustiz? Der «Fall Adeline» hat eine emotionale Debatte über den hiesigen Strafvollzug in Gang gesetzt. Besonnene Stimmen haben es in der angeheizten Stimmung schwer. (Bild: Hans-Jörg Walter)

Der Stammtisch kocht, und politische Einpeitscher heizen im Fall der ermordeten Therapeutin Adeline M. die Diskussion über die sogenannte «Kuscheljustiz» an. Ruckzuck zackzack, kurzer Prozess – brauchen wir das wirklich?

Es ist längst alles gesagt. Man mag es fast nicht mehr lesen und hören. Seit Tagen überbieten sich die Medien mit seitenlangen Analysen von Psychiatern, Forensikern, Rechtsgelehrten und anderen Meinungsträgern, um den schrecklichen Fall der ermordeten Therapeutin Adeline M. aufzuarbeiten. Die 34-Jährige ist mutmasslich von einem Häftling des Genfer Gefängnisses Champ-Dollon umgebracht worden.

Wieder ist der Strafvollzug auf der Anklagebank. Wieder kocht die Stammtischseele. Wieder schreiben sich die politischen Einpeitscher in den sozialen Medien die Finger wund. Wieder schlägt die Stunde der Populisten mit ihren einfachen Lösungen.

Wo bleiben Stil und Feingefühl?

Doch das ist zu erwarten gewesen. Das war schon im Mai nach der Ermordung der 19-jährigen Marie Sch. in Payerne so. Oder während der ermüdenden und wenig zielführenden Debatte über das «skandalöse» Resozialisierungsprogramm des jugendlichen Gewalttäters Carlos.

Im «Fall Adeline» gaben die populistischen Besserwisser nochmals einen drauf – und zeigten wenig Stil und Feingefühl.

Mit diesen Worten heizte etwa der Zürcher BDP-Kantonsrat Rico Brazerol vergangene Woche, kurz nach der schlimmen Tat in Genf, auf Twitter die Stimmung an. Er ist nur einer von vielen.

Auf einer Facebook-Seite unterstützen fast 20’000 Menschen den Aufruf, in der Schweiz die Todesstrafe einzuführen. Auch «Blick online» liess «das Volk» sprechen und betitelte eine Kommentarseite mit der rethorischen Frage: «Vergewaltiger mit Therapeutin auf Reitausflug! Wie krank ist das denn?»

Das ist nicht «krank», möchte man all jenen antworten, die es nicht hören wollen – es ist ein fataler Fehler mit schrecklichen Folgen, der im modernen Strafvollzug nicht passieren dürfte.

Aber ist deswegen gleich das ganze schweizerische Strafvollzugssystem schlecht? Sollen deswegen alle Gewalttäter im Wiederholungsfall automatisch verwahrt werden, wie das etwa SVP-Nationalrätin Natalie Rickli fordert? Ruckzuck zackzack, kurzer Prozess?

Ein vernünftiges, menschliches System

Es geht auch anders, wie etwa das Zürcher Modell zeigt. Nach der Ermordung der Pfadi-Führerin Pasquale Brumann am Zollikerberg im Jahr 1993 wurde der zürcherische Strafvollzug völlig neu organisiert. Bewährungshilfe und Vollzugsbehörden wurden zusammengelegt, die Psychiatrie wurde dem Vollzug angegliedert – was den Informationsfluss zwischen den einzelnen Stellen erleichtert hat. Es wurde Geld in Forschung und Prävention investiert. Und das System hat Erfolg: Die Rückfallquoten konnten um 80 Prozent gesenkt werden.

In Zürich herrscht keine Kuscheljustiz. Wer gefährlich ist, wird verwahrt. Schonungslos.

Es herrscht aber nicht die kurzsichtige Stammtisch-Logik des «kurzen Prozesses». 
Es ist ein vernünftiges, ein menschliches System.

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