«Die Vorlage ist eine Wundertüte»

Die Vorlage ist für einen Grossteil der Schweizerinnen und Schweizer eine Wundertüte. Das ist der grösste Haken daran.

Die Vorlage ist für einen Grossteil der Schweizerinnen und Schweizer eine Wundertüte. Das ist der grösste Haken daran.

Das Volk muss über ­etwas abstimmen – weiss aber nicht ­genau, worüber. Befürworter und ­Gegner werfen sich in Debatten die immer gleichen Argumente an den Kopf. Kosten würden gespart und die Qualität gesteigert, versprechen die Befürworter. Es entstehe eine Zweiklassenmedizin und die Patienten würden bestraft, befürchten die Gegner. Die Irritation wächst, und die Wundertüte bleibt zu. Höchste Zeit, sie zu öffnen. Was herauskommt, hat drei Buchstaben und ist in der Schweiz seit Jahren bekannt: HMO (Health Maintenance Organization).

Bei der Managed-Care-Vorlage geht es um nichts anderes als darum, Ärztenetzwerke nach dem HMO-Vorbild ­gesetzlich zu verankern. Patienten, die nicht mitmachen, zahlen mehr Selbstbehalt. Wer sich fügt, zahlt gleich viel wie jetzt. Das Prinzip: zuerst den ­Hausarzt aufsuchen und nicht bei ­jedem «Boböli» direkt zum Spezialisten rennen. Falls doch ein Spezialist ins Spiel kommt, muss es einer aus dem Netz sein. 17 Prozent der Schweizer sind bereits heute HMO-versichert. Mit 40 Prozent haben sich mehr als doppelt so viele Versicherte für Modelle entschieden, bei denen die freie Arztwahl ebenfalls beschränkt ist – allerdings nicht so streng wie beim HMO-Prinzip. Bekannteste und beliebteste Variante ist das Hausarztmodell.

Im Gegensatz zu HMO muss sich der Patient bei dieser Form lediglich für einen Hausarzt entscheiden, darf danach aber zum Spezialisten seiner Wahl gehen, da es keine vorgeschriebenen Netzwerke mit Ärztelisten und Budgetvorgaben gibt. Das ist der wesentliche Unterschied zum angestrebten HMO-Prinzip und für die Abstimmung von grosser Bedeutung: Die Gesetzesvorlage ist so formuliert, dass Modelle nach dem Hausarztprinzip künftig nicht mehr akzeptiert würden. Versicherte müssten also in ein HMO-Modell wechseln oder hoffen, dass sich ihr Hausarzt samt den bevorzugten Spezialisten zu einem «integrierten Netzwerk» zusammenschliesst, wie es das Gesetz vorschreibt.

Lauwarme Befürworter-Argumente

Bei der Debatte kommt dieser Punkt leider kaum zum Tragen. Vielmehr ­lassen es die Befürworter so aussehen, als seien sämtliche Alternativmodelle ­Managed-Care-konform – während die Gegner lieber mit der abgedroschenen Zweiklassenmedizin-Angst argumentieren, statt die komplexe Vorlage zu ­erklären. Das Befürworter-Argument, Kosten zu sparen, ist ebenfalls lauwarm: Heute sind vor allem Junge und Gesunde HMO-versichert. Bei einem Zwang wären es auch Alte und Kranke – und die Kosten würden steigen.

Ausserdem behaupten Befürworter, Doppelspurigkeiten bei Behandlungen könnten vermieden werden. Nun ist es aber so, dass jeder Arzt auch ohne ­offizielles Netzwerk vernetzt ist und sich mit den Kollegen austauscht – wenn manchmal auch per Telefon und nicht im Sitzungszimmer. Wobei diese Form der Zusammenarbeit mit der Tendenz zu Gruppenpraxen ohnehin Zukunft hat. Warum also ein Gesetz erlassen, das spätestens bei der Umsetzung ­etliche Patienten verärgert und einer Entwicklung vorgreift, die in einer ähnlichen Form sowieso schon läuft – allerdings auf natürliche ­Weise? Es gibt keinen Grund für ein Ja. Aber viele Gründe, ein Nein auf den Stimmzettel zu schreiben.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 01.06.12

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