Ich war im Bataclan. Nicht als die Terroristen kamen, sondern Ende Juni als Tourist. Tagsüber Versailles, abends zum Konzert der Grungeband L7. Hätte ich dieses Wochenende in Paris verbracht, wäre ich vielleicht auch dort gewesen, denn ich mag die Eagles of Death Metal, die am Freitag im Bataclan auftraten.
So funktioniert Terror: Es hätte auch mich treffen können. Darum ruft der Basler Regierungspräsident Guy Morin zu einer Solidaritätskundgebung auf, darum bekunden meine Kollegen auf Facebook ihre Verbundenheit mit Paris, während keiner sein Profilbild ändert, wenn bei Anschlägen in Beirut Menschen ums Leben kommen. Denn das ist weit weg.
Galt die Attacke auf Charlie Hebdo Satirikern, die «den Propheten beleidigt» hatten, gerieten diesmal Leute ins Visier, die ein Fussballspiel besuchten, im Restaurant was tranken oder ein Konzert schauen wollten. Menschen wie du und ich.
Kann ich damit leben, dass mein Leben gefährdet ist durch Fanatiker, die jederzeit zuschlagen können?
Als Reaktion rief der französische Präsident Hollande den Notstand aus und bot Militär auf. Für ihn sind die Morde «ein Kriegsakt», auf den er «gnadenlos reagieren» will. Reihum betonen Politiker, die Anschläge gälten «uns allen». Und klar: «Wir» werden diesen Angriff auf «unsere Freiheit» kontern mit allem, was die Sicherheitsapparate hergeben.
Am Zürcher HB patrouillieren Polizisten mit Maschinenpistolen. Augenzeugen berichten, junge Migranten mit Bärtchen würden kontrolliert. Die Feinde der Freiheit kommen nicht nur von aussen, sondern auch aus unserer eigenen Mitte.
Terror will Angst und Schrecken verbreiten, und das gelingt ihm auch. Die Staatsmacht macht zu, dabei ist es genau die Offenheit, die unsere scheinheilig beschworene Freiheit ausmacht.
Wenn es gefährlich ist, an einen Match zu gehen, ins Restaurant oder an ein Konzert, wie reagiere ich dann? Bleibe ich daheim, hinter verschlossenen Türen und runtergekurbelten Rollläden? Erwarte ich Sicherheitsvorkehrungen mit Schleusen und bewaffnetem Wachpersonal vor jedem Laden, jeder Bar?
Oder kann ich damit leben, dass mein Leben gefährdet ist durch Fanatiker, die jederzeit zuschlagen können, am liebsten in einer Metropole. Denn es trifft ja fast immer Grossstädte. Die Provinz ist für Terroristen nicht interessant.
«Unsere Freiheit» geht auf Kosten der Freiheit von anderen Menschen.
In Paris sind die Medien sofort vor Ort, und darum geht es, wenn man möglichst viel Aufmerksamkeit erzeugen will. Dort sitzen die Machthaber, und zudem findet man da all die unterschiedlichen Lebensentwürfe, die einem Fundamentalisten gegen den Strich gehen.
Diese unterschiedlichen Lebensentwürfe verbieten ein simples «Wir gegen die». Wer sind «die» überhaupt? Söhne von Männern, die von Nato-Soldaten getötet wurden? Brüder von Leuten, die irgendwo weit weg von hier mit Waffen oder Munition aus Schweizer Fabrikation erschossen wurden? Kinder von Immigranten, die in Europa nichts als Ablehnung und Ausschluss erfahren haben?
«Unsere Freiheit» geht auf Kosten der Freiheit von anderen Menschen. Auch wenn «wir» Waffenlieferungen in Krisengebiete ablehnen, keine Kriegshandlungen westlicher Länder mit geostrategischer Agenda wollen und gegen die Ausbeutung von Entwicklungsländern sind – unseren Wohlstand und die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben verdanken wir einem System, das Menschen in Syrien, im Irak und anderen Ländern, in denen der Westen politische oder wirtschaftliche Interessen verfolgt, genau das verwehrt.
Stellen wir unsere Lebensfreude gegen die Todesverachtung der Terroristen.
«Wir» können die Entscheide «unserer» Politiker und Wirtschaftsführer nur bedingt beeinflussen. Den Terroristen ist das egal. Sie fragen nicht nach unserer persönlichen politischen Einstellung. Jeder hier ist ein legitimes Ziel. Es gibt kein Ausweichen.
Wir können nur unser Leben weiterleben. Statt uns also verängstigt zurückzuziehen, stellen wir unsere Lebensfreude gegen die Todesverachtung der Terroristen. Wir treffen uns weiterhin an Orten, die für alle zugänglich sind. Nicht nur daheim oder hinter streng bewachten Mauern. Wir wollen offen bleiben und sind dadurch angreifbar.
Wir wissen jetzt, dass ein Leben in Freiheit riskant ist. Aber es gibt kein anderes – zumindest keines, das sich zu leben lohnt. Ich will wieder einmal nach Paris und ins Bataclan, wenn dort eine tolle Band spielt. Ich bin kein Held, und ich will so wenig sterben, wie die Konzertbesucher am Freitagabend. Aber jeder Rückzug aus Angst, jede Beschneidung der eigenen Freiheit im Namen der Sicherheit, ist ein Sieg jener, die anderen ihren Lebensentwurf aufzwingen wollen.
Ein Leben in Freiheit ist lebenswert. Und damit auch lebensgefährlich.