Ein junger Mann lernt «on the job» und die Frau, die ihn anlernt, verdient weniger als er. Das ist unfair – aber noch immer Realität in der Schweizer Arbeitswelt im Jahr 2014.
Stellen Sie sich vor, Sie haben einen Beruf gelernt, auf den Sie stolz sind, und auch ein eidgenössisches Fähigkeitszeugnis erworben. Sie arbeiten seit sechs Jahren zur vollsten Zufriedenheit ihrer Vorgesetzten in einem angesehenen Unternehmen.
Dann erhalten Sie einen neuen Kollegen. Der junge Mann hat keine Lehre gemacht und auch kaum Erfahrungen im Beruf. Aber Ihr Chef ist grosszügig: Er bietet ihm eine einjährige Ausbildung «on the job» an. Und Sie dürfen nun, neben Ihren anderen Arbeiten, auch noch Lehrmeisteraufgaben übernehmen.
Kein Problem, loyal wie Sie sind, erfüllen Sie auch diesen Auftrag engagiert. Bis Sie eines Tages beim Kaffeepausengespräch erfahren, dass der junge Mann 15 Prozent mehr Lohn erhält als Sie – und nach Abschluss seiner Einarbeitungszeit sogar einen Drittel mehr.
Sie glauben mir diese Geschichte nicht? Sie ist leider nicht erfunden, sondern Gegenstand eines laufenden Gerichtsverfahrens im Kanton Waadt. Sie tönt tatsächlich unglaublich – bis zur trivialen Pointe: Im Unterschied zum besser bezahlten männlichen Neuling sind Sie eine Frau.
Wer aufmuckt, fliegt
Als Sie Ihren Arbeitgeber, ein Lausanner Luxusmodegeschäft, auf die ungerechte Lohndifferenz aufmerksam machen und auf einen Ausgleich pochen, schaltet dieser auf stur. Ihre Vorgesetzten, die bisher mit Ihnen immer zufrieden waren, beginnen an Ihrer Kleidung herumzumäkeln. Sie suchen offensichtlich einen Vorwand, um Sie loszuwerden. Und tatsächlich: Wenige Monate später erhalten Sie, nach sechsjähriger Anstellung, plötzlich die Kündigung «aus wirtschaftlichen Gründen».
Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als Ihr Recht auf gerechte Entlöhnung gerichtlich einzuklagen. Obwohl die Schneiderei generell schlecht bezahlt ist, geht es um viel Geld. Das Gesetz gesteht Ihnen nämlich eine Nachzahlung des Ihnen willkürlich vorenthaltenen Lohnes rückwirkend für die letzten fünf Jahre zu.
Das macht in Ihrem Fall, Sie arbeiteten 60 Prozent Teilzeit, rund 40’000 Franken aus. Vor allem aber hoffen Sie, dass das Gericht Gerechtigkeit walten lässt und die Demütigung, die Sie mit der Entlassung erfahren haben, vergessen macht.
Auch wenn die Chancen, Recht zu bekommen, gut stehen, bleibt die bittere Erkenntnis: Gerechtigkeit fühlt sich anders an.
Doch es kommt vorerst anders. Vor Gericht beleidigt Sie der ehemalige Arbeitgeber erneut und versucht mit erfundenen und diffamierenden Vorwürfen Lohndiskriminierung und Entlassung zu begründen. Unter grossem Druck stehen auch Ihre ehemaligen Kolleginnen und Kollegen, die aussagen – auch über ihnen hängt das Damoklesschwert der Kündigung, sollten sie sich auf Ihre Seite stellen. Heute sind mehr als zwei Jahre seit Ihrer Klage vergangen, und Ihr Verfahren ist noch immer nicht abgeschlossen.
Schluss mit den Ausflüchten der Arbeitgeber
Ihr Fall ist nur einer von vielen. Lohngleichheitsklagen und Gleichstellungsprozesse ziehen sich über Jahre dahin. Dazu braucht es viel Mut und Durchhaltevermögen. Auch wenn die Chancen, Recht zu bekommen, gut stehen, bleibt die bittere Erkenntnis: Gerechtigkeit fühlt sich anders an.
Ich finde: Es reicht jetzt! Es reicht, dass Menschen in der Schweiz immer noch wegen ihres Geschlechts diskriminiert werden. Dass Frauen, die bloss ihr gutes Recht einfordern, eine Entlassung riskieren und sich vor Gericht beleidigen lassen müssen. Es reicht mir mit den Ausflüchten von Arbeitgeberseite, sobald es um zwingende Vorgaben geht.
Immerhin steht der Grundsatz «gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit» seit 34 Jahren in der Verfassung und seit fast genau 20 Jahren im Gesetz. Jetzt müssen den schönen Worten endlich Taten folgen. Deshalb gehe ich am Samstag, 7. März, an die grosse Demo für Lohngleichheit in Bern. Ich hoffe, Sie kommen auch!