Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) sitzt in einem «25-Prozent-Loch» fest. Das tut sie zwar schon seit der Bundestagswahl 2009, also seit über fünf Jahren. Aber jetzt hat sie es auch gemerkt.
Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) hat festgestellt, dass sie seit der Bundestagswahl 2009 in einem «25-Prozent-Loch» feststeckt. Deutsche Politikerinnen und Politiker, deutsche Journalistinnen und Journalisten sowie deutsche Fachexpertinnen und Fachexperten anderer Art sind mit Erklärungsmustern schnell zur Hand. Das sei so bei «Grossen Koalitionen».
Wirklich? Warum konnte dann die SPD auch nach der letzten Legislaturperiode nur unwesentlich gewinnen, als sie Oppositionsführerin war? Und was ist dann mit der ersten «Grossen Koalition» vor vielen Jahren? Aus ihr ging schliesslich die SPD gestärkt hervor und bildete die erste sozialliberale Koalition. «Das ist so bei ‹Grossen Koalitionen›» ist deshalb Gerede, keine Erklärung.
Zu kurz gegriffen
Ein anderes Muster der angeblichen Erklärung: die fehlende Machtoption. Aber die müsste gar nicht fehlen. Es gibt keine einzige Bundestagspartei, die sich einer SPD-geführten Koalition grundsätzlich verweigerte. Bis 2013 hat sich allerdings die SPD gegenüber einer kleineren Linkspartei prinzipiell verweigert. Diese Verweigerungshaltung gibt es inzwischen formal auch nicht mehr. Doch was vorher angeblich Gründe dazu waren, nennt die SPD jetzt «Voraussetzungen», die eine Zusammenarbeit ermöglichen würden. Wirklich weit gekommen ist die Partei mit ihrer Öffnung also nicht.
Die Rede von der Machtoption geht indes stillschweigend von der Bedingung aus, dass die zentrale Wählerbewegung zwischen dem konservativen und dem linken, vornehmlich sozialdemokratischen Lager stattfände. Tatsächlich ist die politische Dynamik eine dramatisch andere geworden. Das linke Lager stagniert, die Dynamik findet auf dem rechten Feld statt. Mit der Alternative für Deutschland (AfD) und Pegida (sowie ihren Ablegern) zeigt sich eine aktive Szene, die rechts von der CDU mit Berührungen zu rechtsklerikalen und rechtsradikalen Milieus steht. Hinzu kommt eine zunehmende Wahlabstinenz in den ärmeren sozialen Schichten, was das linke Lager zunehmend schwächt. Schliesslich gewinnt innerhalb der Grünen ein Flügel an Einfluss, der auf ein Bündnis mit der CDU setzt. Demzufolge greift auch die gewöhnliche Standarderklärung «Machtoption» zu kurz.
Wo bleibt der Inhalt?
Schliesslich wird gern über Personen respektive über das «Spitzenpersonal» gesprochen. Selbstverständlich gibt es keinen sozialdemokratischen Spitzenpolitiker, der es mit einem Willy Brandt aufnehmen könnte. Aber wo ist denn da der Unterschied zur CDU? Ist Angela Merkel denn die charismatische Politikerin? Ist sie eine Freundin der klaren Worte? Lässt sie stets den unbedingten Machtwillen durchblicken? So richtig überzeugt auch das Erklärungsmuster «Personal» nicht.
Spätestens jetzt könnte auffallen, dass Politik offenbar keine Frage des Inhalts mehr zu sein scheint. Nur über Konstellationen und Personen, über mystische Eigenschaften bestimmter Koalitionstypen wird gesprochen, nicht jedoch darüber, wofür Politikerinnen und Politiker bzw. die jeweiligen Parteien eigentlich stehen oder was das, wofür diese stehen, mit den politischen Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger zu tun haben könnte.
Dieses Phänomen der Entpolitisierung der Politik war eine Zeit lang sogar Grund für Selbstgefälligkeit: Professionelle Politik sei eben etwas sehr Pragmatisches, völlig Unideologisches; und im Gegensatz dazu gäbe es die «einfachen Antworten» der Populisten und Ideologen. Heute gibt es aber keinen Grund mehr für dieses Selbstlob. Es war ja gerade dieser angeblich ideologiefreie, pragmatisch-realistische Politiktypus, der uns in die heutige scheinbare Ausweglosigkeit von anhaltender Finanzkrise, Eurokrise, aber auch zunehmender internationaler Krisen geführt hat. Darüber hinaus scheint es für eine andere Krise kaum noch ein Bewusstsein zu geben: die Klimaentwicklung.
Neue Ideen und eine Wette
Diese Entpolitisierung der Politik ist das Symptom einer äusserst gefährlichen Entwicklung hin zu einer Situation, in der unter Beibehaltung intakter demokratischer Institutionen diese selbst längst entleert sind. Sie tragen bloss zu einer rituellen Legitimation von Entscheidungen bei, die durch Eliten vorab gefällt wurden. Man muss sich nicht wundern, dass ein Protest gegen «die da oben» sich gerade auch rechter Ausdrucksformen bedient.
Die SPD wundert sich aber nicht ausreichend. Sie hat, so lese ich, innerhalb ihrer Bundestagsfraktion Arbeitsgruppen eingerichtet, in denen nach neuen Ideen gesucht werden soll. Obwohl ich eine kleine Abneigung gegen Wetten habe, hier kann man eine riskieren: Auf die Idee, ihre Politik der letzten zwanzig Jahre einer grundsätzlichen Kritik zu unterziehen, werden sie nicht kommen. Dann müssten sie wirklich einmal über Politik reden. Eigentlich wäre es höchste Zeit.