Ihr seid nicht Charlie

Nach der Ermordung der Satiriker von «Charlie Hebdo» singen Politiker das Hohelied der Medienfreiheit. Doch diese Vereinnahmung der Opfer wirkt unglaubwürdig bis heuchlerisch.

(Bild: GONZALO FUENTES)

Und auf einmal halten alle die Medienfreiheit hoch. Die Körper der Ermordeten von «Charlie Hebdo» waren noch nicht kalt, als bereits die Legendenbildung einsetzte. Als Journalist macht die Ermordung von Berufskollegen naturgemäss betroffen, doch neben Chefredaktoren und Verlagsleitern sangen auch viele Politiker das Hohelied der Medienfreiheit. Und zwar zu Ehren von Satirikern, denen nichts und niemand heilig war, die immer wieder bedroht und verklagt worden waren (und zwar weiss Gott nicht nur von Gläubigen). Kaum verstorben verwandelten sich Störenfriede und Spötter in Helden.

Schon publiziert und doch noch immer lesenswert: Während der Feiertage bis ins neue Jahr publiziert die TagesWche herausragende Artikel mit dem Vermerk «Best of 2015» nochmals. Wir wünschen gute Unterhaltung.

Satire streckt den Mächtigen die Zunge raus und macht sie lächerlich. Sie richtet sich gegen die Herrschenden und tritt nicht nach unten (darum ist Andreas Thiel kein Satiriker, sondern ein Demagoge). Gerade «Charlie Hebdo» steht für bissige bis bösartige Satire, die gern auch jenseits allen guten Geschmacks operiert. Die Zeitschrift ist ein Stachel im Fleisch jener, die zum Ziel von Spott und Hohn werden. Manch einer, der unter den Stift kam, dürfte die Zeichner verflucht haben.

Darum rücken die Beschwörungen der Freiheit der Medien, die eben auch die Freiheit des Satiriker umfasse, bei genauerer Betrachtung in ein schiefes Licht. Diese Statements wirken dann wohlfeil, denn wer im Umgang mit der Öffentlichkeit auch nur ein bisschen geschult ist, weiss: Nach einem solchen Attentat werden nur Empörung, Trauer und solidarische Gesten («Je suis Charlie») akzeptiert, alles andere führt umgehend zu einem Shitstorm.

Doris Leuthard hat es mit ihrem ungeschickten Tweet erlebt: «Satire ist kein Freipass», schrieb die Bundesrätin. Die Wogen gingen gleich derart hoch, dass sie eine Stunde später eine Präzisierung nachlieferte: «Medienfreiheit ist Grundrecht!» Dabei war Leuthardt wenigstens ehrlich.

Andere Politiker redeten von Anfang an nur von der Freiheit, diesem hohen Gut, das gerade in der Freiheit der Medien zum Ausdruck komme. Einen Angriff auf die Meinungs- und Medienfreiheit, «der durch nichts zu rechtfertigen ist», nannte Bundeskanzlerin Angela Merkel das Attentat. «London like Paris stands for the right to free speech that belongs to all», twitterte Boris Johnson, Bürgermeister der englischen Hauptstadt.

Gerade der Umstand, dass Journalisten im Westen die Mächtigen kritisieren und lächerlich machen können, beweise die Überlegenheit der abendländischen Werte, war am Abend nach dem Anschlag so oder ähnlich zu hören. Worte wie Schall und Rauch, denn wenn gerade kein Pulverdampf über einer Redaktion liegt, beschneiden viele Politiker die Freiheit der Medien, sobald sie gegen ihre eigenen Interessen berichtet. Wie war das schon wieder mit der Freiheit der Whistleblower Julian Assange und Edward Snowden? Und was erlebten Medien, die deren Dokumenten publizierten?

Auch auf lokaler Ebene kanalisieren heutzutage Heerscharen von PR-Agenturen und Medienverantwortlichen Anfragen von Journalisten und verweigern jeder Aussage, die nicht der eigenen Kommunikationsstrategie entspricht, die Autorisierung. Und wenn sich dann doch ein Medium erfrecht, Missliebiges zu publizieren, stehen umgehend Anwälte auf der Matte, die unter Klageandrohung Berichtigungen und Gegendarstellung verlangen.

Die Toten von Paris drohen gleich doppelt zu Opfern zu werden. Zuerst werden sie von Fanatikern ermordet – und nun werden sie auch noch von jenen missbraucht, die sie ihr Leben lang kritisierten. Märtyrer der Medienfreiheit seien sie, heisst es nun.

Das ist richtig. Aber die Kollegen von «Charlie Hebdo» würden es sich verbitten, derart belobhudelt und vereinnahmt zu werden von Leuten, die schon morgen wieder nichts anderes wollen, als die Medien wahlweise zu ihrem Sprachrohr oder mundtot zu machen.

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