Gesten sagen in der Politik oft mehr als Worte. Und ganz speziell im deutschen Wahlkampf.
Deutschland geht es gut! Die Wirtschaft brummt, die Steuereinnahmen sprudeln und bei nicht einmal mehr drei Millionen Arbeitslosen reden manche schon von nahender Vollbeschäftigung. So werben die Berliner Regierungsparteien CDU/CSU und FDP um Wähler. Der rot-rot-grünen Opposition fällt es schwer, schlagkräftige Argumente gegen eine erfolgreiche Regierung zu formulieren. Es fehlen die Streitthemen im Wahlkampf, und dieser gewinnt auch in seiner Endphase – gewählt wird am Sonntag – kaum an Schärfe.
Deutschland geht es gut? Die Gesellschaft ist gespalten, die Schere zwischen Arm und Reich klafft immer weiter auseinander. Zwar ist die Arbeitslosigkeit gesunken, doch 7,4 Millionen Menschen arbeiteten 2012 in prekären Verhältnissen, sie verdienen mit Minijobs zu wenig, um ohne staatliche Unterstützung ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können.
Darüber, mit welchen Mitteln diese Probleme angegangen werden könnten, liesse sich im Wahlkampf engagiert streiten, damit die Bürger gründlich informiert ihre Entscheidung an der Wahlurne treffen könnten. Doch die Parteien beschränken sich auf den Austausch der bekannten Floskeln, pauschal, plakativ, undifferenziert.
«Mutti» hat ein offenes Ohr
Beispiele für die Inhaltsleere der Debatte? Da war die Wahlarena, in der ausgewählte Zuschauer ihre Fragen an die Spitzenkandidaten richten konnten, einmal an Bundeskanzlerin Angela Merkel, zwei Tage später an ihren SPD-Herausforderer Peer Steinbrück. Merkel gab sich als fürsorgliche Landesmutter, die immer ein offenes Ohr für die Belange der einfachen Leute hat. Das habe sie «ja noch nicht oft gehört», wunderte sie sich über die Schilderung der haarsträubenden Verhältnisse im Leiharbeitsgeschäft. Sie werde sich darum kümmern.
Nicht «oft» gehört? Doch niemand fragt nach, wann Merkel vorher schon derartige Arbeitsbedingungen geschildert bekommen und warum sie diese nicht geändert hat.
Der Punkt wird abgehakt, nächste Wohlfühlfrage. Peer Steinbrück zeigt sich angriffslustiger, aber auch er bekommt die Fragen serviert wie Elfmeter, die er nur noch verwerten muss.
Statt Wahlkampf um Inhalte herrscht Wahlkampf um Gesten. Seit Wochen hängt neben dem Berliner Hauptbahnhof ein Wohnblock-grosses Wahlplakat, das nichts anderes zeigt als Merkels zu einer Raute geformten Hände. Ruhe, Solidität, aber auch Tatkraft und Entschlossenheit soll das suggerieren.
Vergangene Woche hat Peer Steinbrück gekontert: Auf dem Titel des Magazins der «Süddeutschen Zeitung» zeigte er aller Welt den Stinkefinger – gegen die nervenden Vorwürfe als «Pannen»-Peer, gegen die motivationsraubenden schlechten Umfragewerte. Klare Kante als letzter Versuch, doch noch das Steuer herumzureissen. Gesten prägen sich ein, langatmige Argumente zum flächendeckenden Mindestlohn langweilen nur.
«Jetzt geht es ums Ganze», wirbt die FDP in der letzten Woche vor der Wahl. Das «Ganze» sind nicht etwa die grossen gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Fragen, das «Ganze» ist einzig das politische Überleben der Liberalen. Denn das steht nach der Landtagswahl in Bayern einmal mehr auf der Kippe. Im Freistaat wurden die Liberalen am vergangenen Sonntag vom Wähler heftig abgestraft – mit 3,3 Prozent verfehlten sie den Einzug ins Parlament um Längen.
Jetzt regieren Angst und Panik, dass es bei der Bundestagswahl ähnlich zugehen könnte: von der Regierungsbank direkt ins politische Abseits. Deshalb betteln die FDP-Spitzen jetzt in der Endphase vor der Wahl bei den Wählern der CDU um Leihstimmen. Einziges inhaltsleeres Argument: Es braucht die FDP im Parlament, damit die Union ungestört weiterregieren kann.
Bei konservativen Unionisten könnte das Argument verfangen, obwohl die Landtagswahl in Niedersachsen im Frühjahr gezeigt hat, dass der Schuss nach hinten losgehen kann. Auch in Hannover hatte die FDP aus Mangel an guten Argumenten um Leihstimmen gebuhlt. Dort regiert jetzt Rot-Grün. Und so ungestört wird Angela Merkel mit der FDP als Bündnispartner nicht regieren können. Nicht wegen der Liberalen, sondern wegen der CSU.
Die hat in Bayern nach fünfjähriger Koalition mit der FDP die absolute Mehrheit zurückerobert. Ihr Chef Horst Seehofer strotzt vor Selbstbewusstsein. Seehofer wird auf der Erfüllung seiner Wahlversprechen beharren, etwa auf eine Pkw-Maut für Ausländer. Mit einer kleinen, schwachen FDP an ihrer Seite wird Merkel Mühe haben mit der CSU, denn die Maut hat sie schon klar abgelehnt.
Angela Merkel dürfte Schwarz-Rot favorisieren, die sogenannte Grosse Koalition aus CDU/CSU und SPD. Die SPD rangiert in den Umfragen bei 26 bis 28 Prozent. Das ist genug, um die CSU zurückzustutzen und zu wenig, um der CDU die Führung streitig zu machen.
Grüne Eigentore
Für die SPD ist Schwarz-Rot die einzige Machtoption. Das liegt nicht nur an ihrer eigenen Schwäche: Die Grünen haben sich selber ein Bein gestellt, indem sie Steuererhöhungen ins Zentrum ihres Wahlkampfs rückten. Grün wollen nur noch zehn Prozent der Bürger wählen – ein Wert, der womöglich noch weiter fällt, nachdem gegen den Spitzenkandidaten Jürgen Trittin ein Pädophilie-Verdacht laut wurde. Er soll vor rund 30 Jahren ein Flugblatt verantwortet haben, in dem gefordert wurde, Sex mit Kindern straffrei zu machen.
Vermutlich ist die am Horizont aufscheinende Grosse Koalition der Hauptgrund für den zahmen Wahlkampf: Wenn man sich zu sehr abgrenzt voneinander, kann man nach der Wahl kaum glaubhaft begründen, dass man gemeinsam regieren will.
Es geht um die Macht. Wie man damit die Lebensbedingungen für die Bürger gestaltet, ist zweitrangig.
Artikelgeschichte
Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 20.09.13