Lasst uns locker bleiben

TagesWoche-Leser Georg Brubacher plädiert für mehr Gelassenheit im Umgang mit gesellschaftlichen Problemen.

Die «Nackte Frau am Kreuz» des Basler Künstlers Kurt Fahrner wurde 1959 vom Staat beschlagnahmt und erst 20 Jahre später wieder freigegeben. (Bild: Hans Hinz/ARTOTHEK)

Ein Plädoyer für mehr Gelassenheit im Umgang mit alltäglichen Problemen.

Geboren wurde ich in einem südlichen Land. Dort trugen alle erwachsenen Frauen ein Kopftuch oder an Feiertagen eine kunstvolle Kopfbedeckung. Die Sitte leitete sich aus ihrem heiligen Buch ab. Das Buch war so heilig, dass nur der Priester darin lesen durfte. Er erklärte dem gemeinen Volk, was in dem Buch geschrieben stand – zum Beispiel die Sache mit dem Kopftuch.

Da stand Folgendes: «Ein Mann, der mit bedecktem Haupt betet, der schändet sein Haupt. Eine Frau aber, die mit unbedecktem Haupt betet, die schändet ihr Haupt; denn es ist ebensoviel, als wäre sie geschoren. Will sie sich nicht bedecken, so schneide man ihr das Haar ab. Da dies aber übel ist, so lässt sie sich das Haupt bedecken. Der Mann aber soll das Haupt nicht bedecken; denn er ist Gottes Bild und Ehre. Die Frau aber ist des Mannes Ehre. Denn der Mann ist nicht vom Weibe, sondern das Weib ist vom Mann. Und der Mann wurde nicht wegen der Frau erschaffen, sondern diese wegen des Mannes.»

In meinem Geburtsland stand an jeder Wegkreuzung und an allen markanten Stellen des Weges, oft nur zwanzig Meter voneinander entfernt, ein religiöses Symbol und es war üblich, davor stehen zu bleiben und ein Gebet zu sprechen. Für die Männer war dies nicht schwierig. Entweder waren sie barhäuptig oder sie mussten nur ihre Kopfbedeckung abnehmen. Für die Frauen aber bedeutete es, ständig eine Kopfbedeckung dabeizuhaben. Ein Kopftuch war daher die einfachste Lösung des Problems.

Kopftücher sind gottgefällig, rote Zehennägel deuten auf einen lockeren Lebenswandel hin.

Knaben und Mädchen gingen getrennt zur Schule. Es galt als unzüchtig, freie Knie oder Ellenbogen zu zeigen. Wir trugen ein sogenanntes Gstältli, an dem mit einem Gummizug gestrickte Strümpfe befestigt waren, die die Knie bedeckten, und Ärmelschürzen, um die Ellenbogen zu verbergen. Kam ein Schüler trotz dieses Kleidergebotes mit freien Knien oder Ellenbogen zur Schule, so wurden wir von unserer Lehrerin ans Ufer des nahe gelegenen Flusses geführt und aufgefordert, Brennnesseln, die dort üppig wucherten, auszureissen und damit dem Fehlbaren tüchtig auf die entblössten Stellen zu schlagen. Das gleiche Ritual galt auch in der Klasse meiner Schwester auf der Mädchen­seite der Schule. Auch das Baden im Freien galt als unzüchtig und wurde nicht geduldet.

Als ich neun Jahre alt war, zog meine Familie nach Basel. Hier herrschten ganz andere Sitten. Zwar gingen auch hier Knaben und Mädchen schon von der Primarschule an in getrennte Schulhäuser – die sogenannte Koedukation kam erst viel später –, aber man durfte freie Knie und Ellenbogen zeigen.

Alle paar Wochen gab es ­Baden. Die Baderäume befanden sich im Keller. Wir mussten uns völlig ausziehen und bekamen einen kleinen Lendenschurz, dazu eine Handvoll Schmierseife. Nach dem Einseifen wurden wir abgeduscht. Der Schul­abwart wachte aufmerksam darüber, dass sich jeder ordentlich wusch.

Rote Zehennägel sind sündig

Auch auf der Mädchenseite gab es ­Baden. Ich weiss aber nicht, wie die genaue Prozedur vor sich ging. Einer meiner Mitschüler stammte aus einem streng katholischen Haus. Der Anblick nackter Kinder, oder sich selber vor diesen zu entblössen, wäre ihm unzumutbar gewesen. Deshalb dispensierte ihn der Klassenlehrer in eigener Kompetenz vom gemeinsamen Baden, und niemand störte sich daran.

Mein Mitschüler wurde übrigens später katholischer Priester. Damals hatten wir auch am Samstag Schule. Wir hatten in der Klasse einen Juden. Der kam an diesem Tag zwar zum Unterricht, aber ohne Schulranzen, und er selbst rührte während der Schulstunde weder Schreibwerkzeug noch Lesebuch an. Auch daran störte sich niemand.

Vor etwas mehr als fünfzig Jahren wollte ich meiner Frau meinen Geburtsort zeigen. Sie war züchtig angezogen – ob mit freien Ellenbogen oder nicht, weiss ich nicht mehr genau –, aber sie trug keine Strümpfe; sie trug Sandalen, und ihre Zehennägel waren rot lackiert. Es war Markttag. Die Besichtigungstour gestaltete sich zum reinsten Spiessrutenlauf. Jedermann schaute auf ihre Füsse und betrachtete sie wie eine Hure; wir suchten so schnell wie möglich das Weite.

Wenige Jahre später machten wir einen zweiten Versuch. Der Ort hatte ein Schwimmbad bekommen, und die jungen Frauen liefen halbnackt auf der Strasse herum. Was war geschehen? Offenbar hatte eine neue Generation das Zepter übernommen. Fernsehen und Tourismus trugen das Ihre bei. Ich selber kam mir wie aus einer vergangenen Zeit vor.

Der aufmerksame Leser hat sicher schon längst gemerkt, dass es sich bei meinem südlichen Heimatland um das Wallis handelt, dass das heilige Buch die Bibel ist und dass daraus eine Stelle aus dem ersten Brief des Apostels Paulus an die Korinther ­zitiert wurde (1. Korinther, 11, 4-9). Inzwischen bin ich über neunzig Jahre alt geworden. Ich habe erlebt, wie die Röcke der Frauen kürzer wurden und wieder länger, wie die Frauen sich der Männerkleidung bemächtigten. Der katholische Laie darf heute die ­Bibel lesen, ohne eine Kirchenstrafe zu riskieren. Knaben und Mädchen gehen gemeinsam zur Schule.

Zensur in Basel

In Basel wurde Kurt Fahrners Bild «Nackte Frau am Kreuz» von Staates wegen eingezogen und versiegelt, weil es offenbar die religiösen Gefühle ­einiger Christen verletzte. Das Bild wurde erst nach Fahrners Tod, zwei Jahrzehnte später, in einer Retro­spektive ausgestellt. Die Aufregung darüber blieb ganz einfach aus.

Das Bundesgericht hatte darüber zu befinden, ob das Aufhängen christlicher Symbole im Schulzimmer ungesetzlich sei. Schwule und Lesben können sich öffentlich zu ihren Neigungen bekennen, ohne der allgemeinen Ächtung anheimzufallen. Konkubinats­paare dürfen eine gemeinsame Wohnung beziehen, ohne dass die Polizei untersuchen muss, ob das Paar eine gemeinsame Zahnbürste benutzt.

Rückblickend auf mein langes Leben möchte ich für mehr Gelassenheit beim Auftreten alltäglicher Probleme plädieren, vor allem bei Problemen des täglichen Zusammenlebens. ­Damit würden wir Zeit und Kraft ­gewinnen, um uns für die wichtigen Aufgaben unserer Zeit einzusetzen.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 26.07.13

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