«Ich fände es interessant, wenn ihr einen Artikel zu den Velostrassen schreiben könntet», schrieb uns eine Leserin per E-Mail. Sie sei sich nicht so sicher, ob «die Menschen überhaupt eine Ahnung haben, was das Schild oben beim Kannenfeldplatz bedeutet».
Dem Wunsch kommen wir gerne nach. Schon die morgendliche Redaktionssitzung hat gezeigt: Niemand der Anwesenden konnte mit absoluter Sicherheit sagen, was es mit den Velostrassen auf sich hat – zum Beispiel, welche Verkehrsregeln dort gelten. Und das obwohl die TagesWoche vor zwei Jahren den Start der Pilotphase vermeldet hatte.
Vielversprechendes Schild
Das Verkehrsschild, das die beiden basel-städtischen Velostrassen ziert, die Mülhauserstrasse zwischen Kannenfeldplatz und Elsässerstrasse und den St. Alban-Rheinweg zwischen Mühlenberg und Schwarzwaldbrücke, macht jedem Zweiradfahrer Hoffnung. «Velostrasse» steht da.
Ein Velofahrer, weiss auf blauem Grund, dominiert die Strasse vor einem Auto (grau, im Hintergrund). Das Schild suggeriert: Diese Strasse gehört zuallererst den Velofahrern.
Doch stimmt das auch? Das Bundesamt für Strassen Astra rührte vor zwei Jahren bei der Ankündigung des in mehreren Schweizer Städten lancierten Projekts mit der grossen Kelle an. Das Astra berief sich explizit auf Velostrassen in Deutschland, Österreich, den Niederlanden und Belgien: «Sogenannte Fahrradstrassen haben sich im Ausland (D, A, B, NL) seit Jahren bewährt.»
Das trifft zu. Doch was versteht das Astra unter einer «Fahrradstrasse»? «Wichtigster Aspekt der Fahrradstrasse ist, dass sie gegenüber den einmündenden Quartierstrassen vortrittsberechtigt ist, wodurch Velofahrenden eine zügige und sichere Fahrt ermöglicht wird.»
Eine «Velostrasse» in der Schweiz bedeutet nur, dass Verkehrsteilnehmende von rechts neu keinen Vortritt haben.
So rechtfertigt man den einzigen, minimalen Eingriff, der eine Schweizer Normalstrasse in eine «Velostrasse» verwandelt: «Damit die Velostrasse vortrittsberechtigt ist, wird den einmündenden Strassen der Vortritt mittels den üblichen Signalen ‹Stop› oder ‹kein Vortritt› entzogen.»
Das ist alles. Eine «Velostrasse» in der Schweiz bedeutet nur, dass Verkehrsteilnehmende von rechts neu keinen Vortritt haben. Und als «Velostrasse» kommen nur schmale Quartierstrassen infrage, auf denen bereits vorher Tempo 30 galt, die möglichst gerade sind, die bereits mindestens zu 50 Prozent von Velos befahren wurden – und die darüber hinaus «keine Verzweigungen mit verkehrsorientierten Strassen» aufweisen.
Die Mogelpackung
Das Astra räumte selbst ein, dass eigentlich wenig Velo in den Velostrassen steckt: Abgesehen vom Entzug des Vortrittsrechts für die Verkehrsteilnehmer der noch kleineren Strässchen, schaffe die Velostrassen-Signalisation «keine weiteren Rechte und Pflichten», hiess es im Juli 2016.
Das macht den Vergleich mit Velostrassen in Deutschland, Österreich, den Niederlanden und Belgien umso abenteuerlicher. Denn dort ist nicht die Aufhebung des Rechtsvortritts auf Quartiersträsschen «wichtigster Aspekt», sondern tatsächlich das Velo:
- In Deutschland sind «Fahrradstrassen» ausschliesslich für Fahrräder. Sollten trotzdem mal Autos darauf fahren dürfen, muss das separat ausgeschildert werden. Und das Velo bleibt in jedem Fall vortrittsberechtigt. Autos müssen ihre Geschwindigkeit verringern, um Velofahrer nicht zu gefährden.
- In Belgien dürfen zwar Autos eine «Fietsstraat/Rue cyclable» oder «Velostrasse» mitbenutzen. Doch dem Velo gehört die volle Breite ihrer Fahrbahn. Überholen ist für Autos verboten.
- In den Niederlanden sind Velostrassen üblicherweise rot markiert und dem Radverkehr vorbehalten.
- Und in Österreich ist auf einer Fahrradstrasse «ausser dem Fahrradverkehr jeder Fahrzeugverkehr verboten». Und falls er ausnahmsweise doch erlaubt ist, gilt: «Radfahrer dürfen weder gefährdet noch behindert werden.»
Im Vergleich zu ihren Vorbildern im Ausland ist die lediglich rechtsvortrittsbefreite Schweizer Velostrasse eine Mogelpackung.
Nebeneinander Velofahren ist laut Astra erlaubt
Etwas vom niederländischen oder belgischen Velostrassen-Feeling kann man sich aber auch in der Schweiz erobern. Dann nämlich, wenn man nebeneinander Velo fährt und damit die Fahrbahn für sich in Anspruch nimmt – Tatsachen schafft, sozusagen.
Das, schreibt das Astra, sei bereits erlaubt, und zwar «unabhängig von der Signalisation Velostrasse». Das Bundesamt verweist auf Art. 43 Abs. 1 VRV. Und tatsächlich: «Auf Radwegen und auf signalisierten Rad-Wanderwegen auf Nebenstrassen» ist Nebeneinanderfahren gestattet.
Was das Astra nicht schreibt: Art. 43 Abs. 1 VRV gilt nur, «sofern der übrige Verkehr nicht behindert wird». Und da Velos auf Schweizer Velostrassen «keine weiteren Rechte» gegenüber Autofahrern erhalten, dürfte das Nebeneinanderfahren im gemütlichen 15 bis 20 km/h-Tempo auch dort kaum konfliktfrei vonstatten gehen. Kurz: Die Velostrasse gehört dann dem Auto.
Entscheid lässt auf sich warten
Der Abschlussbericht des Astra zu den Pilotprojekten in den Städten Basel, Bern, St. Gallen, Luzern und Zürich wurde ursprünglich für die erste Jahreshälfte 2018 angekündigt. Doch es kommt zu Verzögerungen, wie die TagesWoche auf Anfrage erfahren hat: «Wir sind nun daran, diese Resultate mit den beteiligten Städten zu besprechen und den Abschlussbericht zu erstellen. Dieser wird voraussichtlich im August vorliegen und publiziert», sagt Sprecher Thomas Rohrbach.
Die Fragen, die die TagesWoche per E-Mail stellte, blieben unbeantwortet. So bleibt nur das Warten auf den Bericht. Er wird wohl das Experiment als gelungen bezeichnen und die Velostrassen à la Schweiz ins ordentliche Recht überführen. Wohl auf dem Verordnungsweg, vermutet das «Velojournal».
Dann wird sich das Bundesamt für Strassen rühmen können, ganz viel für die Velofahrer in der Schweiz getan zu haben. Und das stimmt ja auch: Es hat wirklich keinen administrativen Aufwand gescheut, um ganz viele neue Strassenschilder aufstellen zu müssen.