Palliativmedizin und Sterbehilfe ergänzen sich

Wie viel Schmerz und Leid ein Mensch zu ertragen hat, muss er letztlich selbst bestimmen, sagt Hans Göschke, ehemals Konsiliararzt der Vereinigung für humanes Sterben.

Wie viel Schmerz und Leid ein Mensch zu ertragen hat, muss er letztlich selbst bestimmen, sagt Hans Göschke, ehemals Konsiliararzt der Vereinigung für humanes Sterben.

Die Palliativmedizin ist in der Schweiz noch viel zu wenig bekannt. Deshalb ist es sehr begrüs­senswert, dass der Arzt Lukas Ritz die palliative Pflege von todkranken Menschen im Interview mit der TagesWoche so eindrücklich darstellt.

Die Geister scheiden sich jedoch, wenn Herr Ritz der Sterbehilfe ihre Berechtigung abspricht und von der Selbstbestimmung des Patienten sagt, sie lasse sich «zerpflücken, bis sie nichts mehr wert ist». Die Selbstbestimmung ist eines der höchsten Güter jeder liberalen Gesellschaft. Um sie auszuhebeln, müsste Herr Ritz mehr als 200 Jahre europäischer Geistesgeschichte rückgängig machen.

Es ist nicht an uns Ärzten zu entscheiden, wie viel Schmerz und wie viel Leid ein Mensch zu ertragen hat. Dies ist allein der Entscheid des autonomen urteilsfähigen Patienten. Dass er dabei auch an sein Umfeld denkt, ist Teil dieser Autonomie.
Die Suizidbeihilfe wird in der Schweiz von über 70 Prozent der Bevölkerung bejaht. Das zeigen Befragungen und Volksabstimmungen. Im Kanton Zürich wurde ein Verbot der Suizidbeihilfe von über 85 Prozent der Stimmenden abgelehnt. Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften überlässt die Entscheidung inzwischen dem behandelnden Arzt.

Auch die Kirchen haben ihre frühere Ablehnung der Sterbehilfe gelockert. Dazu der Theologe Hans Küng: «Der allbarmherzige Gott, der dem Menschen die Freiheit geschenkt und die Verantwortung für sein Leben zugemutet hat, hat gerade auch dem sterbenden Menschen die Verantwortung und Gewissensentscheidung für Art und Zeitpunkt seines Todes überlassen. Eine Verantwortung, die weder der Staat noch die Kirche, weder ein Theologe noch ein Arzt dem Menschen abnehmen kann.» Der Sterbewunsch eines Menschen sei zu respektieren und dürfe nicht kritisiert werden, so der Schweizerische Evangelische Kirchenbund.

Wenn ein Schwerkranker seinen Leidensweg bis zum schicksalshaften Ende gehen will, so kann die Palliativmedizin eine grosse Hilfe sein. Wer jedoch darin keinen Sinn mehr sieht oder durch die Palliativmedizin nicht die erhoffte Linderung erfährt, findet im assistierten Suizid die Erlösung von seinem Leiden. Palliativmedizin und Sterbehilfe sind somit kein Gegensatz. Vielmehr verhalten sie sich komplementär, sie ergänzen sich gegenseitig. Die Palliativmedizin wurde von Exit intensiv gefördert, etwa mit einem eigenen Hospiz für Palliativpflege.

Exit umfasst derzeit 63’000 Mitglieder, der jährliche Mitgliederzuwachs beträgt seit Jahren rund 10 Prozent. Weniger als ein Prozent nehmen die Sterbehilfe tatsächlich in Anspruch. Die Allermeisten sehen in ihrer Mitgliedschaft lediglich eine Art der Versicherung für den Fall eines unerträglichen Leidens.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 13.07.12

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