Passivrauchen schadet – eine Replik zu den Ansichten von Romano Grieshaber

Im Interview mit der TagesWoche verbreite der deutsche Präventivmediziner Romano Grieshaber falsche Informationen über das Passivrauchen, schreibt der Vizedirektor des Schweizerischen Tropen- und Public Health Instituts in Basel, in einer Replik. 


(Bild: Sascha Schuermann)

Im Interview mit der TagesWoche verbreite der deutsche Präventivmediziner Romano Grieshaber falsche Informationen über das Passivrauchen, schreibt der Vizedirektor des Schweizerischen Tropen- und Public Health Instituts in Basel, in einer Replik. 


Wir stehen vor der Abstimmung zur Passivrauchinitiative. Diese schlägt für die Schweiz vor, was in acht Kantonen bereits gilt: alle Arbeitsplätze in Innenräumen sollen frei sein von Rauch, also – neu für die andern Kantone – auch jene, für die das Schweizer Gesetz eine Ausnahme erlaubt: die Gastronomie.

Zu entscheiden ist: sollen wir Raucherlokale schützen oder das Personal vor den Folgen des Passivrauchens? Seit 1984 gilt als erwiesen, dass Kinder von Eltern, die zu Hause drinnen rauchen, häufiger an Lungenproblemen leiden; im Jahr 1986 kamen unabhängige Fachgremien nach Würdigung aller bis dato verfügbaren Forschungsarbeiten zum Schluss: Passivrauchen verursacht Lungenkrebs.

Die TagesWoche zitiert im Titel eines Interviews die Aussage eines deutschen Professors für Prävention: «Passivrauchen schadet nicht». Für die Leserschaft diskutiere ich sechs Fragen aus der Sicht eines unabhängigen Wissenschafters mit über 20-jähriger Erfahrung in der Forschung zu Gesundheit und Luftqualität (inklusive Passivrauch).

Wie schafft Wissenschaft Wissen?

Wer die Mittel findet, kann ein Buch schreiben oder kostenfrei auf dem Internet veröffentlichen – alles. Wissenschaft funktioniert nach anderen Gesetzen. Es gehört zum Wissenschaftsbetrieb, dass Ergebnisse der Fachwelt zur Debatte vorgelegt werden müssen. Methoden und Resultate müssen transparent dargelegt und diskutiert werden. Das Manuskript wird an eine unabhängige Fachzeitschrift gesandt. Es folgt ein rigoroser kritischer Begutachtungsprozess durch ExpertInnen. Dies dient der Qualitätssicherung, damit Forschung fachlichen Standards genügt, Stärken und Schwächen der Arbeit transparent dargelegt werden, die Interpretationen den Resultaten entsprechen, und andere Forschungsgruppen die Resultate in einem neuen Experiment belegen oder widerlegen können. Zum Passivrauchen sind in einem halben Jahrhundert mehrere Tausend Facharbeiten nach diesen strengen Kriterien publiziert worden.

Was zeigt die Wissenschaft zum Passivrauchen?

Nach der bisher letzten Gesamtübersicht (2006) der in Fachzeitschriften publizierten Literatur ist sich die Fachwelt einig geworden, dass Passivrauchen eine kausale Ursache ist für viele «Raucherkrankheiten» – solide belegt insbesondere für Lungenkrebs, Herz- und Atemwegserkrankungen. Je mehr man passiv raucht, umso höher ist das Gesundheitsrisiko. Die Forschungsarbeiten wurden von über 150 weltweit anerkannten WissenschafterInnen gesichtet, debattiert, begutachtet und abschliessend beurteilt. Der Bericht ist öffentlich verfügbar. Seit 2006 sind wissenschaftliche Übersichten zu Teilfragen erschienen.

Eine besonders interessante Übersicht (2010) sei hier erwähnt. Nach genau definierten und streng standardisierten Methoden der Cochrane Library wurden 50 wissenschaftliche Arbeiten zu den Auswirkungen von Rauchverboten in der Gastronomie analysiert. Das von der Tabakindustrie unabhängige Forschungsteam kommt zum Schluss, dass die Abnahme der Herzinfarkte nach Einführung von Rauchverboten wissenschaftlich am besten gesichert ist, und dass diese Abnahme eine ursächliche Folge der gesetzlichen Regelung ist.

«Experiment» Passivrauch-Initiative: Was sind die Folgen?

Nehmen wir an, das Leben lasse sich zweimal leben und Forschende könnten dies experimentell nutzen. Im ersten Versuch – dem «Nein-Experiment» – lassen wir 20’000 Angestellte in Raucherlokalen arbeiten und ansonsten ihr ganz normales reales Leben führen. Dies ist in 11 Kantonen der Schweiz der status quo bei einem Nein zur Passivrauch-Initiative. Im zweiten Versuch – dem «Ja-Experiment» – lassen wir die genau gleichen 20’000 Angestellten ab 2013 in rauchfreien Lokalen arbeiten, wie das im grössten Teil der Westschweiz und im Kanton St. Gallen der Fall ist.

Wir lassen die Angestellten ansonsten ihr identisches und ganz normales Leben führen, so dass sich die «Experimente Nein» und «Ja» also nur durch einen einzigen Faktor unterscheiden: dem Passivrauchen während der Arbeit. Alle anderen relevanten Faktoren sind absolut identisch.

Das perfekte Experiment lässt sich zwar nicht durchführen. Das heute vorhandene Wissen lässt aber gesicherte Aussagen zum Ausgang der zwei Experimente zu: Im «Nein-Experiment» wird passiv geraucht – deshalb wird es in den kommenden Jahren bei den 20’000 Angestellten auf jeden Fall mehr Raucherkrankheiten geben als im «Ja-Experiment». Schwangeres Personal wird im «Nein-Experiment» weniger schwere Säuglinge gebären als die werdenden Mütter im «Ja-Experiment» – denn Passivrauchen schädigt das heranwachsende Kind. Die Lebenserwartung der 20’000 Angestellten ist im «Ja-Experiment» länger. Wie viele Krankheitsfälle es genau sein werden, hängt von der Dauer der Anstellung und der Konzentration des Rauchs ab. Der Schaden ist in keinem Fall Null.

Basierend auf diesen Fakten unterstützen die Ärzteschaft und über 50 Gesundheitsorganisationen das «Ja-Experiment», obwohl es gegen ihre eigenen finanziellen Interessen geht. Aktiv und passiv Rauchende sterben nicht einfach «gesund und glücklich» einige Jahre früher als die Nichtraucher. Raucherkrankheiten sind oft von langer Dauer, chronisch, hartnäckig und oft schwerwiegend. Sie können die Lebensqualität über viele Jahre massiv einschränken und haben einschneidende Konsequenzen für die Patienten, die Familien, die Arbeitgeber und das Gesundheitswesen. Raucherkrankheiten füllen die Wartezimmer und Kassen der Ärzteschaft, Ligen, Spitäler, und Heime. Auch die Pharmaindustrie verdient mit.

Wie unterscheidet man Experten von «Experten»?

Die Tabakindustrie investiert seit Jahrzehnten hohe Summen, um bei der Bevölkerung Zweifel zu säen über die Schädlichkeit von Rauchen und Passivrauchen. Eine bewährte Taktik ist dabei, einen «Expertenstreit» zu konstruieren. Die Laien sollen den Eindruck bekommen, dass die Fachwelt uneinig sei, denn solange die Fakten unklar sind, brauchen wir keine Gesetze.

Unabhängige WissenschafterInnen nehmen am Wissenschaftsbetrieb teil. Sie führen Forschungsprojekte durch, debattieren Resultate an wissenschaftlichen Konferenzen, schreiben Fachartikel, die sie an Fachzeitschriften zur Begutachtung und Publikation einreichen und beteiligen sich am Diskurs.

Im Internet zugängliche Suchmaschinen zeigen, wer zu welchen Themen Fachartikel schreibt und wer die Forschung finanziert. Zahl und Qualität der Publikationen gelten als wichtigster objektiver Leistungsausweis, um die Expertise zu bewerten. Wer bei uns im Forschungsfach der Epidemiologie doktoriert, muss bis zur Promotion mindestens drei eigene Publikationen in englischsprachigen Fachzeitschriften vorweisen. Bei der Berufung von Professoren sind die Publikationen ebenfalls von zentraler Bedeutung um die Spreu vom Weizen zu trennen.

Das Internet gibt Auskunft über wissenschaftliche Leistungsausweise. PubMed ist die renommierteste Suchmaschine der weltweiten Gesundheitsforschung – eine Art «Google», in welchem alle in den wichtigen medizinischen Fachzeitschriften publizierten Arbeiten erfasst werden. Gibt man zum Beispiel die drei typischen Englischen Begriffe für «Passivrauchen» ein, erscheinen 5’616 Einträge (14.9.2012). Die Eingabe «Grieshaber R» liefert 16 Einträge. Eine der Arbeiten hat er  selbst geschrieben (Erstautor). Bei den anderen war er Mitautor. Einige weitere deutschsprachige Arbeiten findet man in anderen Suchmaschinen.
Nach einem Fachartikel zu den gesundheitlichen Auswirkungen von Passivrauchen sucht man vergeblich. Grieshaber hat seine in der TagesWoche angepriesene Studie an sechs Millionen Gewerbetreibenden nie publiziert. Warum nicht? Widersprüchliche Forschungsresultate sind in Fachzeitschriften sehr willkommen, da sie die wissenschaftliche Debatte stimulieren. Als Leitungsmitglied einer Fachzeitschrift würde ich mit grosser Freude eine so riesige Studie begutachten lassen, um sie veröffentlichen zu können. Sie fände grosses Interesse bei WissenschafterInnen.

Wozu das Theater …?

Bei der Passivrauchinitiative geht es um die Abwägung zwischen den zwei erwähnten Optionen: Mit dem Nein schützen wir Raucherlokale, mit dem Ja das Personal. Alles Weitere ist medial orchestrierte Politik. In der TagesWoche wird Grieshaber mit der Aussage vorgestellt, er habe «zahlreiche Untersuchungen zur Passivrauchbelastung durchgeführt – mit dem Ergebnis, dass alles gar nicht so schlimm sei». PubMed bestätigt dies nicht. Weiter liest man, dass Grieshaber eine Debatte anstossen wolle, und dass in dieser Forschung keine Widersprüche erwünscht seien. Die wissenschaftliche Debatte begann schon vor einem halben Jahrhundert – kontrovers, öffentlich und den Kriterien wissenschaftlicher Integrität verpflichtet. Wo Wissenschafter die Antworten nicht kennen stellen sie gerne Fragen. Das Thema Passivrauchen wirft viele Fragen auf, deren Aufarbeitung von Interesse ist. Die Liste der Fragen wäre lang: Was sind die finanziellen Verbindungen zwischen Tabakindustrie, Gastronomie, dem Verein Fümoar oder den Medien? Wer klärt ab, welche Wissenschafter für welche Mission bezahlt werden? Ist es von Bedeutung, dass die Tabakindustrie im Vorstand von Grieshabers langjährigem Arbeitgeber – der Berufsgenossenschaft Nahrungsmittel und Gastgewerbe (BGN) – vertreten ist? Warum distanziert sich der Arbeitgeber BGN öffentlich von seinem Buch und seinen Aussagen? 


… und wer trägt die Verantwortung?

Unhaltbar ist Grieshabers Antwort auf die Schlussfrage des Fotografen im Interview, der als Vater von vier Kindern wissen will, ob er nun wieder drinnen rauchen könne: «Wir haben Berufstätige und keine Kinder untersucht, insofern rate ich Ihnen, den Einfluss von Passivrauchen auf Kinder in anderen Studien zu suchen.» Eine solide und sehr umfangreiche Forschung belegt, dass Passivrauch während und nach der Schwangerschaft das Kind schädigt. Insbesondere ist Passivrauchen in der frühen Kindheit eine anerkannte Ursache des plötzlichen Kindstodes – eines der dramatischsten Ereignisse für junge Eltern! Es gehört zur Verantwortung von Medizinern, diese Auskunft zu erteilen.

Die Frage der Verantwortung lässt sich auch bei der Passivrauch-Initiative stellen. Kommt das Nein werden die Folgen des genannten «Nein-Experiments» eintreten. Wer ist verantwortlich für die bei den rund 20’000 Angestellten in den kommenden Jahren auftretenden Raucherkrankheiten?

Eine journalistische Aufarbeitung dieser Frage wäre ebenfalls von Interesse. Ist es die Tabakindustrie, die das Produkt verkauft? Sind es die Gastwirte, die sich persönlich für Raucherlokale entscheiden? Sind es jene die dort rauchen?

Wahrscheinlich kennen die Juristen die Antwort, denn der Schweizer Gesetzgeber hat zynisch vorgesorgt: Das Personal ist selber schuld – denn laut Gesetz muss es für die Arbeit im Raucherlokal schriftlich einwilligen. Wo erfahren wir, in welcher Sprache diese Einwilligungen geschrieben werden und was dort genau steht?

Es sei daran erinnert, dass in der Gastronomie vor allem Frauen und MigrantInnen arbeiten – aus aller Herren Länder, zu mageren Löhnen. Sie werden jedes Formular unterschreiben. Einen Job zu haben ist viel wichtiger als der abstrakte Gedanke an die Gesundheit in fernen Jahren! Die Frage bleibt: Sollen wir Raucherlokale schützen oder das Personal?

Biografische Angaben zu Nino Künzli

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